Larissa Lissjutkina

Ewige Juden, ewiges Russland?

Das Janusgesicht des russischen Antisemitismus

 

 

Der modernste russische Jugendjargon, weithin bekannt unter dem Spitznamen »Albanisch«, wimmelt von Formeln und Ausdrücken, die dem nazistischen Vokabular entnommen sind: »Gaswagen«, »Judenfrei«, »Übermensch«/»Untermensch« und andere. Diese Begriffe werden nicht ins Russische übersetzt, sondern nur transliteriert. Brutstellen solcher Sprachspiele sind die Internetchats. Wenn zum Beispiel der veröffentlichte Text einem Chatteilnehmer nicht gefällt, hinterlässt er seinen Kommentar in Form eines lakonischen Befehls: »Ins Krematorium!« oder: »Autor, trink Gift!« Dabei machen sich die Jugendlichen über die naiven nazistischen/antinazistischen Sprachklischees lustig, die sie aus den alten sowjetischen Kriegsfilmen kennen. Außerdem ist das ein Teilaspekt der Dekonstruktion und der Profanierung der totalitären sowjetischen Kultur einschließlich der in ihr etablierten Feindbilder. Diese Sprache ist daher nicht ein Zeugnis der Judophobie, sondern eher Ausdruck der Enttabuisierung und der expressiv-ironischen Umwandlung eines spezifischen Sprachcodes.

Andererseits erfährt man aus dem postsowjetischen antisemitischen Diskurs sensationelle Sachen, die man in der Sowjetzeit so nicht gekannt hat: dass die Juden die beiden Weltkriege und alle Revolutionen angezettelt und sowohl Hitler als auch Stalin an die Macht gebracht hätten, dass Stalins georgischer Nachname Dschugaschwili »der Judensohn« bedeutet, dass die UdSSR ein jüdisches Projekt war, weil sie dieses Regime zuerst errichtet und danach zerstört haben, dass die Juden das Blut nicht erst der christlichen, sondern auch schon heidnischer Kinder getrunken hatten. Die Naziszene in Russland ist mit einem breiten Spektrum ideologischer Motive besetzt. Gruppierungen mit heidnischer Ideologie für die Rückkehr zu den altslawischen Wurzeln bekämpfen das Christentum als eine subversive jüdische Intrige. Sie führen einen erbitterten Streit mit den russisch-orthodox geprägten Antisemiten, sodass die beiden bisweilen ihren eigentlichen Feind, die Juden, außer Acht lassen. Großen Erfolg genießt ein esoterischer Antisemitismus, dessen Anhänger auf dem okkultistischen Wege die jüdische Herkunft unbeliebten Politikern zuschreiben, unter denen solche bekannten Figuren wie Michail Gorbatschow, Boris Jelzin, Wladimir Putin und Juri Luschkow (Moskaus Oberbürgermeister) sind. Die Reformen insgesamt sind in den russischen nationalistischen Medien als ein Teufelswerk jüdischer Oligarchen dargestellt, die das Sowjetregime für eigene Zwecke unterwandert und beseitigt haben sollen.

Juden in Russland zwischen 1900 und 2000

Aber bevor man an das Thema Antisemitismus herangeht, ist es wichtig, sich eine Vorstellung von der statistischen und demografischen Größenordnung des Problems zu verschaffen. Im russischen Zarenreich lebte Anfang des 20. Jahrhunderts die Hälfte aller Juden der Welt. Sie bildeten mit 7,25 Millionen Menschen die viertgrößte Ethnie im multiethnischen imperialen Völkergemisch. Die andauernde politische Diskriminierung, vor allem aber die Pogrome, die nach verschiedenen Einschätzungen zwischen 100.000 und 250.000 Menschenleben gefordert hatten, führten zur massenhaften Auswanderung: In der Zeit von 1880 bis 1914 haben 1,7 Millionen Juden Russland verlassen, 85 Prozent von ihnen gingen in die USA. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in der Sowjetunion 5 bis 5,2 Millionen Juden – ein Drittel der jüdischen Weltbevölkerung. Im Holocaust haben 2,5 Millionen russische Juden ihr Leben gelassen. Nach dem Krieg erreichte der stalinistische Antisemitismus seinen Höhepunkt: Die Juden wurden zur Zielscheibe einer brutalen Verfolgung, einige Historiker sind sogar der Meinung, dass Stalin eine Massendeportation der Juden nach Sibirien und in den Fernen Osten vorbereitet hat, so wie er es mit vielen so genannten »feindlichen Völkern« gemacht hat.(1) Nur der plötzliche Tod des Tyrannen am 5. März 1953 hat diese Pläne durchgekreuzt. In den Fünfzigerjahren wurde die antisemitische Propaganda unter dem Etikett des »Antizionismus« fortgesetzt, die anfangs sehr positiven Beziehungen zu Israel mutierten zu einer Kette von Hetzkampagnen. Seit 1967 und bis zum Ende des Sowjetregimes sind ungefähr 800.000 Juden aus der UdSSR ausgewandert. In den Neunzigerjahren haben noch einmal 600.000 Russland verlassen. Nach Angaben der israelischen Regierung hat sich mehr als eine Million russischer Juden in Israel niedergelassen. Das zweithäufigste Auswanderungsziel sind die USA.

Die Bilanz des 20. Jahrhunderts: Bei einer Bevölkerung von insgesamt 143,5 Millionen sind in Russland heute nur etwa eine Million Juden geblieben.(2)

Zu- oder abnehmender Antisemitismus?

Seit dem Zusammenbruch des Sowjetregimes gibt es in Russland keine staatlich gesteuerte Diskriminierung von Juden, stattdessen grassiert ein offener Antisemitismus von unten. Gäste aus dem Westen sind schockiert, wie salonfähig antisemitische Äußerungen im heutigen Russland sind. Die neuesten soziologischen Erhebungen beziehen sich auf den Überfall in einer Moskauer Synagoge am 11. Januar 2006, bei dem ein geistig gestörter Jugendlicher neun Menschen mit dem Messer verletzt hat. Die kurz danach durchgeführte Umfrage zum Thema: »Das Verhältnis zu den Juden und den Antisemiten« hinterlässt einen optimistischen Eindruck: Nur etwa sieben Prozent der Befragten empfinden gegenüber den Juden Hass und Misstrauen; 84 Prozent dagegen empfinden diese Gefühle nicht, und neun Prozent antworten: »Ich weiß nicht.«(3) Und das, obwohl man im Alltag auf die Antisemiten auf Schritt und Tritt stößt: auf den Straßen,(4) im Parlament,(5) in den Medien(6) und sogar in den früher in dieser Hinsicht resistenten Freundeskreisen.

Versucht man die Situation einzuschätzen, gerät man in einen Teufelskreis. Man kann die Behauptungen: Es gibt immer mehr Antisemitismus, oder: der Antisemitismus lässt nach, weder verifizieren noch kann man sie falsifizieren. Beides kann richtig sein. Einen Beweis dafür liefert eine andere Meinungsumfrage, die unlängst von dem renommierten Institut WZIOM durchgeführt wurde und völlig andere Ergebnisse an den Tag gelegt hat. Die Analysten von WZIOM behaupteten im April 2005, dass die Zahl der Menschen mit rassistischen Ansichten im Laufe nur eines Jahres um mehr als 20 Millionen gewachsen sei, von 11 auf 16 Prozent. Die Mehrheit von 58 Prozent der russischen Bevölkerung unterstütze den nationalistischen Slogan »Russland nur den Russen«. 45 Prozent der Befragten haben gesagt, dass ihnen ihre ethnische Identität wichtiger sei als ihre Staatsangehörigkeit. Die Behauptung, dass die ethnischen Spannungen in der letzten Zeit gewachsen seien, bejahten 41 Prozent, während dem Anwachsen der Toleranz nur 17 Prozent zustimmten.

Nach den Angaben von WZIOM würden 25 Prozent der ethnischen Russen Angehörige anderer Ethnien generell von hohen Ämtern in Politik und Verwaltung ausschließen. Etwa 30 Prozent aller Befragten wolle, dass die Kaukasier und Chinesen von den historischen russischen Territorien verbannt werden. 31 Prozent sind der Meinung, dass die Zahl der ethnischen Nicht-Russen in den russischen Städten begrenzt werden muss.

Aber die Studie stellt auch fest, dass parallel zum Anwachsen der rassistischen Ressentiments auch ein entgegengesetzter Trend nicht zu übersehen ist: Die Zahl der Menschen, die behaupten, dass Russland ein multiethnisches Land sei, in dem kein Bürger aufgrund ethnischen Herkunft diskriminiert werden dürfe, soll in einem Jahr von 49 auf bis zu 53 Prozent gewachsen sein. Die Experten warnen davor, die xenophoben Tendenzen zu überbewerten. Sie betonen die völlige Inkompetenz der Migrationsbehörde, die nicht in der Lage sei, die riesigen Menschenströme nach dem Zerfall der Sowjetunion zu steuern, und so einen starken negativen Einfluss auf die ganze Situation ausübe.

Nach Einschätzung der israelischen Regierung wird das Ausmaß antisemitischer Gewalt in Russland nur von Frankreich und Großbritannien übertroffen. Zu den schlimmsten antijüdischen Terrorakten zählen ein Bombenanschlag auf die Synagoge in Derbent (Januar 2004); ein Bombenanschlag auf das Moskauer Ausbildungscenter Mekor Chaim (März 2004); das Attentat gegen den Präsidenten des Kongresses der Bergjuden Saur Gilalow in Moskau; zwei Mordanschläge auf die Juden in Dagestan; ein Überfall auf zwei Rabbiner und auf einen Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde in Moskau. Besorgnis erregend sind auch die antisemitischen Übergriffe der Milizionäre (Polizeibeamten) in Moskau und in der Bezirksstadt Kostroma. In beiden Städten wurden Juden von den Milizionären misshandelt und zusammengeschlagen.

Natürlich fragt man sich angesichts dieser Daten, wie bei der besagten neuesten Meinungsumfrage solche optimistisch geringfügigen Zahlen zustande kommen konnten. Vielleicht gilt auch für Russland die paradoxe Feststellung, die Tony Judt für den Westen zieht: »Antisemitismus ist heute ein echtes Problem und zugleich ein Scheinproblem«?(7)

Politische Formen des Antisemitismus

»Die Verwandlung des Kommunismus aus einer Kraft, die den Antisemitismus anprangerte und unter Strafe stellte, in einen der wichtigsten Wortführer des Kampfes gegen den so genannten Kosmopolitismus und Zionismus, das heißt gegen die Juden, bildet eine der seltsamsten Metamorphosen des 20. Jahrhunderts«,(8) so Professor Leonid Luks. Unter den Folgewirkungen des kommunistischen Antisemitismus, der die Traditionen des zaristischen Reiches zementiert hat, leidet die postsowjetische Gesellschaft heute noch. Ökonomische Lasten und Bürden des Systemwechsels, Traumata des Zerfalls der Sowjetunion, das Scheitern der infantilen Illusionen der Aufbruchszeit schaffen einen idealen Nährboden für Ängste und ethnische Phobien. Die Mehrheit der Bevölkerung empfindet sich als Verlierer und fühlt sich von den politischen und wirtschaftlichen Eliten ausgeraubt, verraten und im Stich gelassen. Der Regimewechsel von 1991 wird im Bewusstsein von zahlreichen Bevölkerungsgruppen als nationale Katastrophe stilisiert. Nur 22 Prozent der Bevölkerung bewerten heute die Reformen als positiv, 56 Prozent dagegen als negativ.(9) Als Gewinner stehen dagegen jüdische Oligarchen und Politiker im Rampenlicht. Kein Wunder, dass seit Wegfall der kommunistischen Repressionen in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre der Demokratisierungsprozess vom Anwachsen antisemitischer und rechtsextremistischer Gruppierungen und Bewegungen begleitet wird. Oft stehen an ihrer Spitze bizarre und medienwirksame Figuren: der in altrussischen Trachten auftretende Dmitrij Wassiliew, Vorsitzender eines in den Achtzigerjahren viel gefürchteten »Pamjat«-Vereins; der Kauz Wladimir Schirinowskij, Führer der russischen demokratisch-liberalen Partei; Oberst Alksnis, ein ethnischer Litauer und ein russischer Nationalist mit imperialen Ambitionen; der faschistoide Alexej Barkaschow von der Partei Russische nationale Einheit; der Ideologe der »Neu-Eurasier«, ein heidnischer Exot namens Alexander Dugin; der stellvertretende Vorsitzende des Komitees der russischen Staatsduma für die GUS-Angelegenheiten, A. Saveliew, und viele andere.

Die Höhepunkte der antisemitischen Hysterie fallen auf die entscheidenden Wendepunkte der letzten zwanzig Jahre: Im Sommer 1988, am Vorabend des Nationalfeiertages anlässlich des 1000-jährigen Jubiläums zur Einführung des Christentums, machte sich in der Gesellschaft die Angst vor jüdischen Pogromen breit. Die Gefahr wurde in den Medien diskutiert, verängstigte Menschen aller Nationalitäten verließen fluchtartig die Großstädte, um sich der Gewalt zu entziehen. Bei dem bewaffneten Kampf zwischen dem Präsidenten Jelzin und dem Parlament im Oktober 1993 wurden auf der Seite der Gegner des Präsidenten antisemitische Ressentiments geschürt, die im bewaffneten Angriff auf das Fernsehzentrum gipfelten: Das russische Fernsehen war in den Ruf geraten, in die Hände der Juden gefallen zu sein. Bei dem Rubelsturz im August 1998 wurde die ganze Schuld für die Wirtschaftskrise nicht der Politik, sondern jüdischen Oligarchen auferlegt.

Der spektakulärste politische Skandal brach vor einem Jahr im Zusammenhang mit dem so genannten »Brief der 19« aus. Es handelte sich dabei um die Forderung von 19 Duma-Abgeordneten bei der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation, alle jüdischen Organisationen aufgrund ihres angeblichen Menschenhasses zu verbieten. Diese Aktion rief weltweit Empörung hervor. Das Dokument erschien am Vorabend des 60. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz. Bevor der Brief zur »Bombe« wurde, hat er einen Monat lang auf den Webseiten der fundamentalistischen russisch-orthodoxen Gruppen gestanden, die zum radikalen Flügel der Orthodoxen Kirche im Ausland gehören.

Den »Brief der 19« nahm Präsident Putin zum Anlass, um sich von jeder Form des Antisemitismus öffentlich zu distanzieren. Bei seinem Auftritt auf dem Forum »Das Leben für mein Volk« zum Andenken an die Opfer von Auschwitz am 27. Januar 2005 sagte er: »Ich will sagen, dass viele von uns sich an diesem Tag schämen müssen. Kranke Streitigkeiten dieser Art sind leider noch nicht ausgemerzt, wir müssen noch effektiver daran arbeiten. Sogar in unserem Land, in Russland, das mehr als alle anderen im Kampf gegen den Faschismus, für die Rettung des jüdischen Volkes getan hat, sogar in unserem Land sehen wir leider heute die Symptome dieser Krankheit. Und auch ich schäme mich dafür.«(10) Solche öffentlichen Bekenntnisse des Staatsoberhaupts bedeuten und bewegen in Russland viel. Inzwischen gibt es erste Gerichtsurteile gegen Antisemitismus; das ist ein Novum, weil in der Sowjetzeit solche Prozesse aus ideologischen Gründen unterdrückt wurden.

Der »Brief der 19« ist ein Produkt der nationalistischen und antisemitischen Atmosphäre, die in der Duma vorherrscht. Aber als unmittelbare Gefahr kann auch diese Tatsache nicht eindeutig interpretiert werden. Die Gesamtentwicklung des russischen Nationalismus ist von einer Ambivalenz geprägt, die von Analysten des Meinungsumfrageninstituts folgendermaßen beschrieben wird: »Vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Xenophobie und eines Rassismus erscheint als Paradox das Phänomen völliger Unwirksamkeit der radikalen Organisationen und der Parteien mit extremistischer, nazistischer und national-populistischer Ausrichtung. Die Parteien und politischen Organisationen, die ihre Anerkennung nur aufgrund antijüdischer, rassistischer oder antiwestlicher Ideen und Parolen erstrebten, haben eine nach der anderen die Wahlen verloren und sind von der politischen Szene verschwunden. … In den 15 Jahren unserer Meinungsumfragen und Beobachtungen haben solche Organisationen wie Pamjat und Parteien wie RNE (Russische Nationale Einheit) keine nennenswerte Unterstützung der Bevölkerung bekommen, obwohl ihr Bekanntheitsgrad bisweilen ziemlich hoch war«.(11) Wahrheitsgemäß muss man hinzufügen, dass diese Feststellung auch für die demokratischen politischen Gruppierungen und Strömungen gilt. In den letzten 15 Jahren ist in Russland ein politisches Spektrum oder zumindest einzelne stabile politische Parteien nicht entstanden. Für das Land ist es eine schlechte Konstellation, aber dieses Phänomen verhindert zugleich die Konsolidierung der antisemitischen Lobby. Kurz vor den Wahlen entstehen jedes Mal neue, anders gestrickte Wahlvereinigungen, die nach den Wahlen nicht unbedingt zusammen eine Fraktion bilden. Die Duma ist ein Simulacrum der Demokratie, genau wie der Oberste Sowjet einst eines der UdSSR war.

Die Analysten betonen, dass »die minimale Neigung zur Xenophobie ausgerechnet die Parteien an den Tag legen, die an der Macht stehen … bei solchen Parteien, die einen Konkurrenzkampf um die Macht führen oder die Macht verloren hatten, ist der Pegel der Xenophobie und der ethnischen Aggressivität, des Antiamerikanismus und so weiter besonders hoch, aber nicht bei denen, die an der Macht sind.«(12)

Die russischen Präsidenten Jelzin und Putin, denen zu Recht imperiales Gehabe und antidemokratische Methoden attestiert werden, vertraten in allen Auseinandersetzungen mit der Duma die demokratischen Werte und Positionen. Das russische Parlament der Neunzigerjahre stand in seiner Mehrheit auf prokommunistischen, restaurativen und antiwestlichen Positionen, und Putin, der viele demokratische Errungenschaften der Neunziger wie die Pressefreiheit rückgängig gemacht hat, handelt trotzdem korrekter und zurückhaltender als die nationalistische Opposition in der Duma.

Es ist ein Glück im Unglück, dass der zeitgenössische russische Antisemitismus keine einheitliche ideologische Grundlage und keinen gemeinsamen politischen Nenner vorweisen kann. Der religiöse orthodoxe Antisemitismus steht im Konflikt mit dem Antisemitismus der Neu-Eurasier, die antisemitischen Ansichten von Schirinowski, Barkaschow, der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und der National-Bolschewisten unterscheiden sich voneinander dermaßen, dass die Entstehung einer antisemitischen Einheitsfront so gut wie ausgeschlossen erscheint.

Durch den Krieg in Tschetschenien und den islamistischen Terrorismus haben sich die Prioritäten in der Hierarchie der Feindbilder geändert: die Juden sind als Feindbild von ihrem traditionellen Platz eins wohl zum ersten Mal verdrängt worden. Sie stehen nicht mehr im Mittelpunkt der nationalistischen Ressentiments: »Die Hauptmasse des ethnischen Negativismus bilden heute die antikaukasischen Einstellungen und die Feindseligkeit gegenüber Zigeunern. Summa Summarum umfassen sie zwei Drittel aller Antworten der Befragten, die Antipathien oder Phobien im Bezug auf Menschen anderer Ethnien zum Ausdruck bringen.(13) Diese neue Feindbilder-Hierarchie spricht eine eindeutige Sprache: Die Angst vor Terroranschlägen, die von kaukasischen Muslimen verübt werden, und die archaische Angst vor der Invasion der Fremden ist stärker als soziales Unbehagen wegen des Raubkapitalismus, der im Massenbewusstsein von den Juden verkörpert wird.(14)

Trotzdem bleibt der Antisemitismus ein fester Bestandteil der russischen politischen Szene. Er bildet heute eine ideologische Grundlage der National-imperialen Partei Russlands (NDPR), in deren Reihen das Netz des Offizierverbandes Zuflucht gefunden hat. Diese Partei verfügt über zwei überregionale und mehrere regionale Zeitungen. Bemerkenswerte antisemitische Aktivitäten legen die Reste der Partei Russische Nationale Einheit (RNE) an den Tag, die sich nach den internen Streitigkeiten in zwei kleinere Parteien geteilt hat.

Eigentlich heißt das politische Programm des Präsidenten Putin Stabilisierung. Das klingt wie eine Anspielung an die Breshnev’sche Stagnation. Und in der Tat sind die Ähnlichkeiten in der geistigen Atmosphäre nicht zu übersehen, zum Beispiel bezeichnete das amerikanische State Department Russland und Weißrussland in seinem Jahresbericht zum Antisemitismus in der Welt als »problematische Länder, wo die Zahl der Verbrechen aufgrund der Judäophobie von einem Jahr zum anderen anwächst«.(15) Daraufhin bezichtigte das russische Auswärtige Amt seine amerikanischen Kollegen des Mentorentums und der Voreingenommenheit – ein typisches Szenario des Kalten Kriegs und ein Déjà-vu-Erlebnis nach 20 Reformjahren.

Ein neuer globaler Antisemitismus

Ein neues Phänomen ist eine weite Verbreitung der westlichen revisionistischen Literatur im russischen Sektor des Internets und auf dem Büchermarkt. Seit 2003 sind die Klassiker der Holocaust-Leugnung J. Graf, D. Irving, M. Weber, D. Duke und andere ins Russische übersetzt und im Internet ausgestellt.(16) Die These über die »Auschwitz-Lüge« ist in Russland auf einen fetten Nährboden gefallen. Die Verschwörungstheorien haben hier eine lange Tradition: die Protokolle der Weisen von Zion, die Inszenierung der Schauprozesse in den Dreißigerjahren, die von der stalinistischen Propaganda verbreiteten Feinbilder der »westlichen Imperialisten« und interner Spione und Verräter.

Eines der stärksten unter diesen Feindbildern war schon lange der Zionismus. Sowjetische antizionistische Propaganda positionierte den Zionismus und den Staat Israel sogar als Feind Nummer eins und definierte ihn als einen geheimen Drahtzieher, der hinter dem amerikanischen Imperialismus steckt. Wenn man den westlichen und den sowjetischen Antisemitismus vergleicht, fällt einem auf, dass ihre Wege sich in einem wesentlichen Punkt kreuzen, und zwar dort, wo die Entstehung des neuesten globalen Antisemitismus, deren gefährlichsten Herde sich in die islamische Welt verlagert haben, aus dem Geiste des sowjetischen politischen »Antizionismus« und des deutschen rassistischen National-Sozialismus abgeleitet wird. Gerd Koenen bemerkt dazu: »Überhaupt bedeutet der historische Kollaps der Sowjetunion nicht, dass ihre tragenden Ideologeme nicht von anderen Kräften unter anderen historischen Umständen und in neuen Formulierungen aufgegriffen und weiterentwickelt worden wären. Eine nähere Untersuchung würde womöglich ergeben, dass die sowjetische Globalpolitik der Sechziger- und Siebzigerjahre und die dazugehörige, in allen Weltsprachen verbreitete Propaganda als der große Totalisator gewirkt hat, über den sich die Themen eines antiimperialistisch und antikapitalistisch erweiterten Antizionismus im Ideologiekanon vieler nationaler Befreiungsbewegungen und sozialistischer Staatsparteien der Dritten Welt festgesetzt haben, besonders im arabischen Raum, wo es im Nasserismus, Baathismus und so weiter entsprechende Ideologeme bereits gab. Etwas Ähnliches gilt womöglich für Teile der Neuen Linken des Westens nach 1968.«(17) Als »Gegenleistung des Westens« kann man das Eindringen des revisionistischen Diskurses in den postsowjetischen Raum betrachten. Die Thesen über die »Auschwitz-Lüge« wurden von antisemitischen Gruppierungen und Personen mit unterschiedlichstem politischem und ideologischem Hintergrund mit Begeisterung übernommen. Sie passen in die Rhetorik und in die Ideologeme der Skinheads, Nazis, Satanisten, Kommunisten, Islamisten und aller so genannten »Patrioten«, die den russischen Nationalismus im Schilde führen, und werden als ein wasserdichter Beweis für die jüdische Verschwörung gegen das russische Volk und die ganze Welt gefeiert.

Ungeachtet der Bandbreite und Häufigkeit der antisemitischen Aktivitäten einschließlich Gewaltakten hinterlässt die Beschäftigung mit diesem Phänomen den Eindruck, dass der heutige russische Antisemitismus intellektuell und politisch irrelevant und nur wenig passioniert ist. Diese fehlende Wut in eigenen Reihen merken die Antisemiten selbst und beklagen sich bitter darüber. Die Juden als Betroffene und die demokratische russische Öffentlichkeit reagieren auf den Antisemitismus ohne Panik, zum Teil ignorieren sie das ganze Phänomen, es sei denn, sie werden durch die spektakulären antisemitischen Aktionen provoziert, wie im Falle des »Briefes der 19« oder des Überfalls auf die Menschen in der Synagoge am 11. Januar dieses Jahres.

Veränderungen im Judenbild

In den postsowjetischen russischen Personalausweisen ist der berühmt-berüchtigte Paragraph fünf mit der festgeschriebenen ethnischen Herkunft nicht mehr vorhanden. Die Juden definieren und formulieren ihre eigene Identität und ihre Rolle in der globalen Entwicklung selbst. Der politische und kulturelle Mainstream akzeptiert diese Selbstinterpretation. Sogar im antisemitischen Diskurs findet man einzelne Elemente jüdischer Selbstinterpretation wieder. Die Juden sind neben den ethnischen Deutschen im wichtigen Sinne eine privilegierte Minderheit, weil ihnen die Option der Auswanderung freisteht, die der Rest der Bevölkerung nicht hat. Summa summarum kann man viele Zeichen dafür feststellen, dass sich unter den russischen Juden eine positive Einstellung zum eigenen Judentum durchgesetzt hat.

Die positive Deutung des eigenen Judentums findet Unterstützung in der Ambivalenz des Juden-Bildes in der russischen Kultur. Hier gibt es neben dem tief verwurzelten Antisemitismus auch eine positive Bebilderung des Judentums. Die Wundstelle der russischen Kultur ist Alkoholismus, daher lautet das positive Klischee Nummer eins: die Juden sind keine Alkoholiker. Weiter folgen die Zuschreibungen: Die Juden sind gute Ehemänner/Ehefrauen; die Juden sind fleißig, solidarisch und erfolgreich. Die Russen fühlen sich von der Rationalität, dem geschickten Umgang mit intellektuellen Techniken und dem jüdischen Humor angetan. Jüdische Witze enthalten die Denkmuster für die friedliche Entschärfung der Konflikte oder für eine versöhnende und befreiende Reaktion auf die Ungerechtigkeit des Lebens. In der Zeit der Stagnation hat die sowjetische Gesellschaft den jüdischen Witz als Waffe im Widerstand gegen das System benutzt, und diese Waffe erwies sich als unschlagbar.

In der letzten Phase der Sowjetunion entstanden parallel zu den »verkalkten« staatlichen die lebendigen informellen sozialen Netze und Mechanismen. Die Subjekte, die sie entwickelt und benutzt hatten, haben sich von der Identität eines braven Sowjetbürgers verabschiedet. Die einst asketischen »Helden der sozialistischen Arbeit« mutierten kurz vor dem Ende des Sozialismus zu Helden eines Schelmenromans. Für solche sozialen Rollen konnten die Juden als Protagonisten und Vorbilder dienen, weil sie traditionsgemäß als Erfinder der alternativen sozialen Techniken im Mittelpunkt einer ambivalenten Hass-/Bewunderungs-Beziehung standen. Der philosophierende und vom Witz so strotzende Picaro aus den Schelmenromanen der Dreißigerjahre Das goldene Kalb und Zwölf Stühle namens Ostap Bender ist eine unanfechtbare Kultfigur in Russland. Seine Witze und Sprüche sind in die Umgangssprache eingegangen. Es gibt unzählige Verfilmungen der beiden Romane. Ostap Bender ist Jude, einer der beiden Romanautoren, Ilja Ilf, ist auch Jude.18 Die beiden Bücher über einen jüdisch-sowjetischen Picaro sind zu Klassikern geworden nicht nur wegen ihres Witzes, sondern weil das Volk sich immer wieder in einer Lage findet, in der man sich nur mit Hilfe picaresken Know-hows retten kann. In einer Übergangsperiode wie der jetzigen steigt der Bedarf an solchem Know-how dermaßen stark, dass auch die Antisemiten sich mit der charmanten jüdischen Schelmenfigur identifizieren. Der politische Personenkult von Lenin und Stalin ist längst demontiert, der jüdische Picaro Ostap Bender dagegen bleibt unangetastet auf seinem Podest.

Eine eindeutige Bilanz für die Lagen der Juden in Russland kann man nicht ziehen. Auf einer Seite leben sie heute vergleichsweise angstfrei. Auf der anderen Seite ist die Gefahr für die exponierten jüdischen Aktivisten und sogar die Möglichkeit eines blutigen Kataklysmus noch lange nicht gebannt. Nur dank der Fragmentierung des Konfliktfeldes verringert sich die Spannung an jeder konkreten Stelle, und infolge der fehlenden Unterstützung seitens der Regierung erscheint der frontale Angriff auf die Juden in Form eines Pogroms eher unmöglich.

Die Juden selbst fassen ihre zweischneidige Situation in einem Witz zusammen: »Ein jüdischer Knabe kommt zu seinem Vater und fragt: Papa, warum sind wir Juden so unbeliebt? Warum beschimpfen mich meine Klassenkameraden? Warum laufen sie mir nach und necken mich Zhidowskaja Morda (Judenfratze)? – Hör mal zu, mein Junge, sagt der Vater. Es gab einst die alten Ägypter, die uns Juden verfolgten. Die alten Ägypter sind verschwunden, aber wir sind geblieben. Später gab es einen Hitler und Holocaust. Von Hitler gibt es keine Spur mehr, aber wir sind geblieben. Und dann gab es noch Stalin, er war ein furchtbarer Antisemit. Stalin ist weg, wir jedoch sind immer noch da. Kapiert? – Der Knabe überlegt sich eine Weile und fragt: Soll es bedeuten, dass wir die Halbfinale erreicht haben?«

1

Die kritische Analyse der heutigen Diskussion über dieses Thema unter den russischen Historikern befindet sich im Buch von Leonid Luks: Der russische »Sonderweg«? Aufsätze zur neuesten Geschichte Russlands im europäischen Kontext, Stuttgart: Ibidem Verlag 2005, S. 216–217.

2

Narody i religii mira. Enziklopedia, Moskwa 1998, S.169.

3

Http://bd.fom.ru/report/map/projects/dominant/dom0603/domt0604_6/d060418

4

Siehe dazu Larissa Lissjutkina: »Landschaft nach der Schlacht. Wolgograd oder die Reise in die erste Heimat ostwärts«, in: Kommune 4/04, S. 86–87.

5

http://www.newsru.com/background/18apr.2005/dumaantisem

6

http://newsvote.bbc.co.uk/mpapps/

7

Tony Judt: »Zur Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antizionismus«; in: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main: edition suhrkamp 2004, S. 44–45.

8

Leonid Luks, a. a. O., S. 161.

9

http://newsru.com/russia/13mar2005/fhgy.html

10

http://www.newsru.com/background/18apr.2005/dumaantisem

11

Lew Gudkov/Boris Dubin: »Die Eigenartigkeit des russischen Nationalismus«; in: Pro et Contra, Sept./Okt. 2005, S. 20–21.

12

Ebd., S. 22–23.

13

Ebd., S. 15–16.

14

Siehe Sonja Margolina: »Die Geisel im Kaukasus. Wie eine rückwärts gewandte Ethnokratie die Destruktion Russlands beschleunigt«; in: Kommune 1/06, S. 6.

15

http://www.religare.ru/print14408.htm

16

Das Buch auf Russisch: Graf, J.: Holocaust: Blef i prawda, Moskwa: Jausa 2005, 144 S., Auflage 7000 Exemplare .

17

Gerd Koenen: »Mythen des 20. Jahrhunderts«; in: Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main: edition suhrkamp 2004, S. 176–177.

18

Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: Zwölf Stühle. Roman. Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke, Berlin: Verlag Volk und Welt 2000.

 

 

Internet-Diskussionen

Der russische Sektor des Live Journals mit zurzeit circa 270.000 Blogs und Communities ist wahrscheinlich der umfangreichste Raum des antisemitischen Diskurses. Die Auseinandersetzung bringt beide Seiten – Juden und Judophobe – in direkten Kontakt. Dabei bekommen der antisemitische Hass und das antisemitische Weltbild die Möglichkeit, sich »auf dem feindlichen Terrain« zu entfalten. Der spektakuläre Schlagabtausch findet auf den Webseiten der herausragenden jüdischen Intellektuellen statt, die als Journalisten, Wissenschaftler, Schauspieler, Galeristen oder Finanziers eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielen.(1) Einen Stammplatz des Dialogs der verfeindeten Seiten bilden die Live-Journal-Blogs von Marat Gelman (Nickname Galerist) und Anton Nossik (mit dem provokanten Nickname Dolboeb, was ungefähr »Fleißiger Ficker« bedeutet). Ein dauerhaftes Skandalthema ist beispielsweise ein Gerichtsverfahren gegen Marat Gelman, der im Zusammenhang mit einer Ausstellung zeitgenössischer russischer Kunst der Beleidigung der religiösen Gefühle der orthodoxen Gläubigen angeklagt wurde. Die orthodoxen Fanatiker führten einen Angriff auf die Ausstellung durch, bei dem viele Kunstobjekte beschädigt oder zerstört wurden. Obwohl das Gericht Marat Gelman längst freigesprochen hat, ist sein Live-Journal-Blog voll von wütenden antisemitischen Kommentaren erboster russischer Fundamentalisten.(2)

@nBody Komm klein = Viele antisemitische Hasser genießen ganz offensichtlich ihre Auftritte vor dem »elitären« Publikum auf den jüdischen Promi-Sites. Dabei kann man einige spektakuläre Asymmetrien in der Struktur des Diskurses feststellen: Die Antisemiten »weiden« auf den Webseiten und in den Blogs ihrer Feinde, während die jüdischen und demokratischen Autoren die antisemitischen Sites und Blogs niemals aufsuchen. Und zumindest im Internet sind die russischen Antisemiten ein Männerclub, von weiblicher Präsenz keine Spur – obwohl die Frauen statistisch zwei Drittel aller Live-Journal-User ausmachen. Eine weitere Asymmetrie: Die Antisemiten sind für die Juden gefährlich und unangenehm, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt ihres Interesses und ihrer Prioritäten. Die Juden und die Demokraten definieren ihre eigene Identität nicht durch die Antisemiten. Für die Antisemiten scheinen die Juden hingegen ihr Ein und Alles zu sein.

L. L.

1

Zum Beispiel die Blogs im russischen Sektor des Live Journal: http://orthodoxia.livejournal.com/37299.html; http://rottefangerson.livejournal.com/1572.html; http://rod.onestop.net/works/dobroslav_06.html; http://neostalinist.livejournal.com/

2

http://galerist.livejournal.com/448794.html