Brigitte Voykowitsch

Indische Polyphonie

Die Literatur des Subkontinents spricht mit vielen Zungen

 

 

Die von indischen Autoren auf Englisch verfasste Prosa erweise sich »als stärkeres und wichtigeres Oeuvre« als die in den indischen Regionalsprachen geschriebene Literatur, behauptete Salman Rushdie im einleitenden Essay zu seiner Anthologie The Vintage Book of Indian Writing 1947–1997, das er zum 50-Jahr-Jubiläum der indischen Unabhängigkeit 1997 herausbrachte. Mit einer einzigen Ausnahme enthielt das Werk nur AutorInnen, die auf Englisch schrieben. Salman Rushdie traf seine Aussagen ohne zu bedenken, dass er die von ihm bemängelte Literatur in den indischen Regionalsprachen gar nicht gelesen hatte. »Er wäre gar nicht in der Lage gewesen, diese Literatur zu lesen. Er mag die eine oder andere Regionalsprache beherrschen, aber sicherlich nicht alle 18 offiziellen indischen Regionalsprachen. Deshalb waren so viele Leute über seine Aussagen verärgert. Es verstimmte sie auch, dass Rushdie so selbstsicher davon ausging, dass er genau wusste, was gute Literatur sei und warum«, sagt Susie Tharu, Professorin für Anglistik an der Osmania Universität in Hyderabad.

Auch wenn sich die Wogen der Empörung, die damals in Indien hochschlugen, wieder geglättet haben, ist die Dominanz des Englischen ein wichtiges Thema für LiteraturkritikerInnen und VerlegerInnen geblieben. Denn das Englische gehört »im Subkontinent zu keiner lokalen oder regionalen Kultur, sondern zu einer gesamtindischen Elitekultur«, erklärt Susie Tharu. Fast 400 Jahre waren die Briten als Kolonialherren in Indien. »Dennoch schien Englisch damals nicht annähernd eine so wichtige Rolle zu spielen wie heute, mehr als 50 Jahre, nachdem die Briten Indien verlassen haben. Mit der Globalisierung und der Öffnung Indiens gewinnt Englisch immer mehr an Bedeutung«, sagt Geetha Dharmarajan, Gründerin von Katha, einer renommierten, in Neu Delhi ansässigen Non-Profit-Organisation zur Förderung der Literatur und Lesekultur.

Die Qualität von Rushdies Anthologie stand dabei außer Frage. Das Ressentiment entstammte dem weit verbreiteten Gefühl, dass die in englischer Sprache verfasste indische Literatur auf Kosten anderer indischer Literaturen stark gefördert werde. »Mit Werken in englischer Sprache zu arbeiten, ist natürlich leichter«, meint Susie Tharu. »Die sind von vornherein zugänglicher. Da bedarf es keiner sprachlichen und kulturellen Vermittlung.«

Englisch ist im Subkontinent zwar weit verbreitet. Nur eine kleine Minderheit von rund fünf Prozent der mehr als eine Milliarde Inder aber beherrscht das Englische in Wort und Schrift. Hindi dagegen ist die Muttersprache von rund 400 Millionen Indern; mehr als 80 Millionen haben Bengali als Muttersprache, jeweils circa 80 Millionen Telugu und Marathi, mehr als 50 Millionen Tamil. Doch in der Spitzenforschung, in der Wissenschaft und in der Lehre an den führenden Universitäten hat Englisch die indischen Regionalsprachen verdrängt. Die Elite spricht und schreibt Englisch – oder Angloindisch, wie es auch genannt wird.

Die meisten Adivasis (Stammesangehörigen), Dalits – gebrochene Menschen, wie sich die Unberührbaren heute nennen –, und andere Randgruppen schreiben jedoch nicht auf Englisch. Manche Adivasis haben nicht einmal eine Schrift für ihre Sprache und geben ihre Geschichten und Gedichte bis heute mündlich weiter. Orale Traditionen spielen im Subkontinent eine große Rolle. Selbst die so genannten Heiligen Schriften wurden über Jahrtausende hinweg mündlich tradiert. Selbst wenn Texte schriftlich niedergelegt wurden, fand ihre Verbreitung mündlich statt. Der Buchdruck begann erst im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle zu spielen. Angesichts einer Analphabetenrate von 40 Prozent sind orale Traditionen bis heute Bestandteil der indischen Kultur. Der Non-Profit-Verlag Katha wie auch die indische Literaturakademie (Sahitya Akademi) haben eigene Projekte zur Erfassung dieser oralen Traditionen.

Der südindische Autor U. R. Ananthamurthy, der seine Werke auf Kannada (Kannaresisch) verfasst, würdigt die große Bedeutung der Bhashas (Regionalsprachen). Die Elite im Subkontinent übernehme stets die Sprache der Herrscher – das Persische unter den früheren muslimischen Herrschern, das Englische heute im Zeitalter der Globalisierung. »Die Elite kann die Sprache wählen, die ihrem Streben nach Weiterkommen in der Welt, nach Reichtum und Macht dient.« Die gewöhnlichen Leute hätten diese Option nicht. Sie »haben aber überlebt und zu unserem Glück haben sie die Sprachen Indiens und ihr reiches kulturelles Gedächtnis an oralen Traditionen erhalten«, schreibt Ananthamurthy in seinem Essay »The Flowering of the Backyard«.

Auch Geetha Dharmarajan von Katha schwärmt von der unüberschaubaren Vielfalt der indischen Literaturen. Die Geringschätzung, die sie häufig erfahren, hat ihrer Ansicht nach mit der »enormen Kolonialisierung des Geistes« zu tun. »Wir sind oft die schlimmsten Kritiker unserer eigenen Kultur. Wir haben bis heute mehr Vertrauen in das, was von außen zu uns kommt. Und die Autoren in den Regionalsprachen leiden darunter. Aber es ist, wie der Schriftsteller Ananthamurthy es ausdrückt: Man kann nicht einen schönen Vorgarten haben, wenn der hintere Garten nicht gedeiht. Und das glaube ich, haben wir noch immer nicht verstanden.«

Der hintere Garten ist für Ananthamurthy stets der Garten der Vielfalt, der dissonanten Stimmen und egalitären Ansprüche gewesen. Im oben erwähnten Essay erinnert er daran, dass Buddha nicht die altindische Sprache Sanskrit benutzte, sondern die Sprache der ungebildeten Massen. Philosophen, Dichter und Heilige hätten es ihm über die Jahrhunderte hinweg gleich getan. »Diese Bhashas sind seit dem Mittelalter stets die Kanäle gewesen, in denen sich die egalitären Leidenschaften ... ausgedrückt haben.«

Das stimmt, und ist doch auch wieder eine verklärte Sicht. Denn auch in den Regionalsprachen müssen sich Frauen gegen die Dominanz der Männer respektive die von Männern erstellten literarischen Kanons behaupten und Dalits und andere Randgruppen sich gegen die Vormacht der hohen Kasten durchsetzen.

Die Entwicklung der modernen indischen Literaturen – von Literatur im Singular zu sprechen macht angesichts der großen Vielfalt und zahlreichen Sprachen wenig Sinn – beginnt im 19. Jahrhundert. Sie ist im Kontext der britischen Kolonialherrschaft und des beginnenden Freiheitskampfes angesiedelt und kreist häufig um Themen der Fremd- und Selbstdefinition indischer Kultur und Geschichte sowie um die Fragen eigener Tradition und westlich beeinflusster Modernisierung.

Mit Rabindranath Tagore (1861–1941) wurde 1913 der Nobelpreis erstmals einem Inder zuerkannt. Tagore erneuerte die bengalische Literatur mit Werken wie Ghare baire (Das Heim und die Welt) oder Gitanjali. Als engagierter Kultur- und Sozialreformer verfasste er ein bedeutendes Oeuvre von Gedichten, Kurzgeschichten und Essays. Schon die Rezeption Tagores warf allerdings Fragen auf, die bis heute von größter Relevanz in der Beschäftigung mit indischen Kulturen, ihrer Repräsentation und Rezeption sind. Europa konnte sich von den Klischees nicht lösen und wollte in ihm den »mystischen Heiligen aus dem Osten« sehen, während manche indische Modernisten gegen die ihrer Ansicht nach zu sehr der Tradition verhafteten Vaterfigur rebellierten.

In indischen Regionalsprachen wie Telugu, Tamil, Bengali, Marathi, Urdu und Hindi entwickelten sich im Lauf des 20. Jahrhunderts vielfältige literarische Strömungen, von denen manche im Zeichen des Nationalismus standen, manche von linkem, sozialkritischem Denken geprägt waren, und wieder andere sprachliche Experimente und die Erkundung psychologischer Wirklichkeiten in den Vordergrund rückten. In diversen Landesteilen bildeten sich so genannte progressive Schriftstellerverbände. Im Westen – und da vor allem im angelsächsischen Raum – wurden indes nur wenige und fast ausschließlich auf Englisch schreibende AutorInnen rezipiert. Bekannt wurden aus der zwischen 1900 und 1910 geborenen Generation R. K. Narayan, Raja Rao und Mulk Raj Anand, aus der nachfolgenden Generation Anita Desai, Ruth Jhabvalla und Kamala Markandaya. Die reiche Urdu-Literatur – um nur ein Beispiel zu nennen – ist dagegen bis heute lediglich zum Teil ins Englische und noch weniger ins Deutsche übersetzt. Diese Urdu-Literatur stellt einen unschätzbaren Fundus dar. Sie eröffnet das Tor in die Welt der nordindischen Muslime nach dem Zusammenbruch des Mogulen-Reiches, einer Zeit also, die von wachsenden Spannungen zwischen Hindus und Muslimen gekennzeichnet war und schließlich zur Teilung des Subkontinents und der Gründung von Pakistan 1947 führte. Auf Urdu schrieben Autorinnen wie Quratulain Hyder und Ismat Chugtai, die sich insbesondere auch mit der Lage der Frauen befassten. In Telugu, der Sprache des südindischen Bundesstaates Andhra Pradesh, wiederum gibt es eine lange linke Tradition, die allerdings auch hier von Männern beherrscht und seit den späten 1960er-Jahren von Frauen zunehmend in Frage gestellt wurde.

Mitte der 1970er-Jahre entstand eine neue, starke Frauenbewegung, die 1984 zur Gründung des ersten indischen Frauenverlags »Kali for Women« und in der Folge zur intensiven Aufarbeitung von Frauen- und feministischer Literatur führte.

Selbstverständlich hatten Frauen im Subkontinent schon lange vor der neuen Frauenbewegung der 1970er-Jahre belletristische Literatur verfasst und veröffentlicht. Manche dieser Werke hatten auch für große Aufregung gesorgt, wie die Kurzgeschichte »Lihaaf« (»Die Steppdecke«), in der Ismat Chugtai eine lesbische Beziehung schilderte. »Lihaaf« wurde kurz nach der Veröffentlichung im Jahr 1941 verboten, gegen Ismat Chugtai wurde eine Klage wegen Obszönität erhoben. Knapp vier Jahrzehnte später sah sich 1979 die Hindi-Autorin Mridula Garg mit einer Klage wegen Obszönität konfrontiert. In ihrem Roman Chitcobra (Die gefleckte Kobra) hatte sie auf einigen wenigen Seiten das gespaltene und kritische Verhältnis einer Ehefrau zum Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann beschrieben.

Doch selbst engagierte Feministinnen ahnten in den 1980er-Jahren nicht, wie viele Inderinnen sich schon literarisch betätigt hatten und weiter betätigten. »Patriarchat, Empire und Nation waren die Paradigmen, die auch die Literatur bestimmten. Den Frauen wurde da – zumindest als Akteurinnen – kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Nur ganz wenige Frauen waren in der Öffentlichkeit präsent. Und das galt auch für die Literatur, ob sie nun auf Englisch oder in einer der indischen Regionalsprachen verfasst wurde. Wir gingen alle Literaturgeschichten durch und fanden lediglich einige wenige Namen. So viele Autorinnen wurden nicht einmal erwähnt«, sagt die Frauenforscherin K. Lalita, die 1991/1993 gemeinsam mit Susie Tharu eine zwei Bände und mehr als eintausend Seiten umfassende Anthologie über Frauenliteratur in Indien von 600 v. Chr. bis zum 20. Jahrhundert herausgab.

Dass Dalit-Frauen in der Anthologie kaum vertreten sind, erklärt K. Lalita mit dem damaligen Wissensstand: »Vieles entdeckt man nur, wenn man bewusst danach sucht. Literatur entdecken ist immer auch eine politische Initiative und ein politischer Akt. Damals war das Bewusstsein für die Dalit-Literatur noch nicht so ausgeprägt.« Inzwischen ist auch die Literatur der Dalits und der Adivasis nicht mehr zu ignorieren. K. Satchidanandan, einer der angesehensten Autoren aus dem südindischen Bundesstaat Kerala und Generalsekretär der indischen Literaturakademie, sieht in der Literatur der Adivasis die heute vielleicht radikalste literarische Strömung. Diese Literatur wird in mehr als dreißig Sprachen geschrieben, von denen lediglich Bodo und Santali in der Verfassung anerkannt sind. Die Rebellion der Stammesvölker gegen ihre Marginalisierung führt Satchidanandan als wichtiges Beispiel für die Identitätspolitik in der indischen Gesellschaft an.

In den Westen gelangt mit wenigen Ausnahmen weiterhin angloindische Literatur. Der große Durchbruch kam 1981 mit Salman Rushdies Roman Mitternachtskinder. Rushdies selbstbewusster und bisweilen verwegener Umgang mit dem Englischen begeisterte auch Inder wie den Schriftsteller und Filmemacher Ruchir Joshi, der meinte: »Wir feierten unter anderem die – wie wir annahmen – definitive Botschaft, dass wir als Inder oder Pakistanis oder Südasiaten kein Englisch schreiben mussten, das zu fünfzig Prozent aus Story und zu fünfzig Prozent aus erklärenden Anmerkungen für einen imaginären ausländischen Leser bestand. Zudem war hier der Nachweis erbracht worden, dass wir jetzt sogar auf Englisch so erzählen konnten, wie es unserem eigenen Empfinden entsprach, dass wir Englisch-Wallas jetzt auch Zugang zu dem ganzen dichten, bunten Dschungel der Erzählweisen hatten, in dem sich die Autoren und Geschichtenerzähler der anderen indischen Sprachen seit Jahrtausenden tummelten.« Das Angloindische hatte sich gewissermaßen als neue Sprache der Weltliteratur etabliert.

Seither sind zahlreiche Autoren wie Amitav Ghosh, Vikram Seth, Rohinton Mistry, Vikram Chandra oder Arundhati Roy weltweit bekannt und übersetzt worden. »Die in englischer Sprache verfasste indische Literatur hat eine enorme Reife und Zeitbezogenheit. Das ist eine äußerst interessante Entwicklung. Es ist daher auch nicht überraschend, dass sich der Blick auf Indien richtet«, sagt Ritu Menon, Mitbegründerin von »Kali for Women« und heute Leiterin des Verlags »Women Unlimited« in Neu Delhi. Die Qualität der angloindischen Literatur bestreitet auch Susie Tharu von der Osmania Universität nicht. Wie viele andere Kritiker wirft sie jedoch die Frage auf, wie authentisch viele Aspekte des in diesen Werken dargestellten Indiens sind. Wie stellen AutorInnen aus der englischsprachigen, urbanen Elite Bauern und Arbeiter dar? Susie Tharu nennt Arundhati Roys Roman Der Gott der kleinen Dinge als Beispiel: »Darin gibt es diese unglaublich romantisierte und idealisierte Figur des Unberührbaren. Der mag Arundhati Roys Fantasie widerspiegeln, aber er repräsentiert nicht das Leben, die Leiden und Wünsche eines echten Unberührbaren in diesem Land.«

Auch die hohen Honorare, die manche angloindischen Autoren aus dem Ausland bezogen haben, haben für Aufregung und Eifersucht gesorgt. Doch es geht um viel mehr als nur das Geld, sagt Ritu Menon. Große Verlagshäuser hätten kein Interesse daran, lokale Literaturen zu entwickeln. Sie würden nicht in Autoren investieren, die sich nicht so leicht übersetzen lassen und für ein internationales Publikum nicht so leicht verdaulich sind. »Es ist wie mit Benetton. Man muss international akzeptabel und damit Teil einer urbanen, kosmopolitischen Kultur sein, die sich weltweit immer mehr ähnelt. Hier ist Kritik wirklich angebracht.« Es gehe viel weniger um das Geld, die großen Summen bekommen ohnedies nur einige wenige AutorInnen. Aber es gehe um die Art von Literatur, die Indien repräsentiere oder in der es als repräsentativ dargestellt werde. »Keine einzelne Sprache kann das Land im Land selbst repräsentieren, wie kann es dann eine im Ausland tun?« Noch dazu, da eine ganze Reihe der auf Englisch schreibenden AutorInnen inzwischen in Nordamerika leben oder zwischen dem Westen und Indien pendeln.

Zu den auf Englisch schreibenden Autoren zählt auch Pankaj Mishra, von dem auf Deutsch die Werke Benares oder Eine Erziehung des Herzens und Unterwegs zum Buddha erschienen sind. Für ersteres Werk hat Mishra sich jenen Vorwurf gefallen lassen müssen, der auch schon gegen mehrere andere SchriftstellerInnen erhoben wurde – dass er nämlich ganz gezielt für den westlichen Klischee-Bedarf eine Mixtur an Exotik, traditionellem Indien, Religion und Mystik herstelle und diese Mixtur dann noch mit ein paar westlichen Aussteigern würze.

Pankaj Mishra hat die Kritik zur Kenntnis genommen und beschäftigt sich heute selbst intensiv mit der Frage, welches Indien die indische Literatur vermittelt. Für ihn steht dabei weniger die Sprache als der Inhalt im Vordergrund. »Viele Indien werden ausgelassen. Wenn man Englisch schreibt, dann hat man einen bestimmten Hintergrund, und die Sichtweise ist beschränkt. Aber jeder Blick auf Indien ist so gesehen beschränkt, es ist ein so großes und vielfältiges Land, und jeder gehört einer Minderheit an und hat eine begrenzte Sicht.« Das Problem liegt für Mishra nicht in diesem unweigerlich beschränkten Blick, sondern vielmehr in der Ambition, panindische Erzählungen zu schaffen, die vorgeben, ganz Indien in sich zu enthalten. »Wenn jemand hingegen seinen Teil der indischen Welt literarisch gut verarbeitet, ist das wunderbar«, meint Mishra und verweist auf Rupa Bhajwa und ihren im Vorjahr veröffentlichten Roman The Sari Shop über einen Stoffhändler in Amritsar. »Es wird mehr und mehr solcher Stimmen geben, die nicht der traditionellen Elite entstammen und die nur jenen Teil Indiens, den sie wirklich kennen, in ihre Werke einfließen lassen. Wir stehen da erst am Anfang. Die englischsprachige Literatur in Indien ist ja noch jung. In den nächsten zwanzig, dreißig Jahren wird da wohl viel Neues kommen.«

Zu den ganz jungen Autoren, die auf Englisch schreiben und sich im Sinne von Pankaj Mishra auf den ihnen vertrauten Teil Indiens beschränken, gehört der in Bombay ansässige Altaf Tyrewala. In seinem Erstlingsroman Kein Gott in Sicht, der in diesem Herbst auch auf Deutsch erscheint, schildert er in Skizzen, Vignetten und kurzen Geschichten muslimische Lebenswelten in Bombay, wie er sie aus eigener Anschauung kennt.

Eine Anthologie »indischer Literatur« zu erstellen, bleibt indes weiterhin eine große Herausforderung. Nach welchen Kriterien die Auswahl auch immer getroffen wird, kann sich jede Anthologie stets nur als Einblick mit subjektiven Gewichtungen und großen Auslassungen verstehen.

 

 

Aus der Sicht von ganz unten – Dalit-Literatur

Die Stimmen der hohen Kasten und oberen Schichten repräsentieren weiterhin die indische Stimme, ob in Indien oder in der Diaspora. Es ist an der Zeit, dass diese Hegemonie durchbrochen wird und andere Stimmen gehört werden«, schreibt die an der York Universität in Toronto, Kanada, lehrende Literaturkritikerin Arun Prabha Mukherjee im Vorwort zu Joothan, der Autobiografie des Dalit-Schriftstellers Omprakash Valmiki. Arun Prabha Mukherjee hat selbst das in Hindi verfasste Werk ins Englische übertragen, weil es sie zutiefst erschüttert hatte. »Valmiki sprach von den Realitäten und Widersprüchen meiner Gesellschaft, die durch dicke Mauern des Verleugnens ausgeblendet worden waren.« Die Lektüre weckte Erinnerungen an ihre eigene Kindheit in einer Kleinstadt in Nordindien, wo »Kastendenken und Unberührbarkeit ›normal‹ waren, wo die Unberührbaren unsere Latrinen reinigten und die Exkremente auf ihrem Kopf wegtrugen. Wenn sie um Wasser baten, wurde es in ihre aufgehaltenen Hände gegossen, von oben herab.« In der Schule, die sie besuchte, gab es keine Unberührbaren. Die Schulbücher erwähnten zwar das »Übel« der Unberührbarkeit und auch, dass Mahatma Gandhi sich um deren Abschaffung bemüht hatte, »aber so knapp und abstrakt und in eine Sprache gekleidet, die keine Beziehung zu meiner Lebensrealität zu haben schien«. Wenn Schulbücher überhaupt das Leben eines Unberührbaren thematisierten, dann wurden die Dalits »als stumme und pathetische Charaktere dargestellt, die unfähig waren, selbst zu handeln oder über ihre Unterdrückung zu sprechen«.(1)

Aus der Sicht von ganz unten, aus dem Blickwinkel der Dalits, sehen Indien und die indische Gesellschaft ganz anders aus als aus der Perspektive der hohen Kasten. Auch die heiligen Schriften der Hindureligionen, die großen Epen und die Texte der klassischen indischen Literatur lesen sich ganz anders. Dalits blicken nicht ehrfürchtig auf die HeldInnen wie Ram und Sita im Epos Ramayana oder die fünf Pandava-Brüder im Mahabharata. Sie achten auf das Schicksal der Personen aus den niedrigen Kasten wie Eklavya, der sich auf Befehl seines Lehrers den Daumen abschneidet, da er sonst den Lieblingsschüler des Guru, den hochkastigen Arjun, im Bogenschießen übertroffen hätte. Den Dalits prägt sich die Geschichte von Shambuk ein, der getötet wurde, weil er die heiligen Schriften der Veden rezitiert hörte.

Ständig wiederkehrendes Thema in der Dalit-Literatur sind die strukturellen Gewalt- und Ausbeutungsmechanismen im tradierten Gesellschaftssystem. Dalit-AutorInnen zeigen auf, wie bösartig die Unberührbarkeit konstruiert ist, sodass die hohen Kasten die Dalits jederzeit als Arbeitskräfte benutzen, sie ansonsten aber auf Distanz halten können.

»Wie bestialisch diese Hindu-Religion doch ist! Oh! Der Wohlstand, den Ihr genießt, kommt letztlich aus dem Mark unserer Knochen, aus unserem Fleisch, unserem Blut und unserem Schweiß«, schreibt die der Dalit-Kaste der Mahars angehörige Baby Kamble in ihrer Autobiografie Unsere Existenz. »Der Schweiß der Mahar-Frauen floss auf das Holz, das sie schnitten. Wenn ein Dorn sie stach, tropfte das Blut auf das Holz. ... Der Schweiß ihrer Füße trocknete auf jedem der geernteten Körner. Aber bereitet Ihr nicht mit eben diesen Körnern Eure Festessen ... zu ... Ihr errichtet Eure feinen Wohnsitze mit dem Mörtel, den die Mahars gemischt haben: Wenn Ihr darin wohnt, beginnt Eure Haut nicht zu verfaulen! Ihr werdet nicht verunreinigt, wie? Ihr bindet die Zügel der Ignoranz an unseren Nasen fest, Ihr schlagt uns mit der Peitsche der Verunreinigung, darin offenbart sich der Egoismus Eurer Religion«, klagt Baby Kamble an.

Dalits betätigen sich heute aber nicht mehr nur als AutorInnen, sie haben auch begonnen, eigene Theorien zu entwickeln: »Jenes literarische Werk wird das Beste sein, das das Dalit-Bewusstsein am höchsten hebt«, betont der Autor Sharankumar Limbale. Er nennt Freiheit als höchsten ästhetischen Wert. »Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe sind Grundgefühle der Menschen und der Gesellschaft. Sie sind um vieles wichtiger als Vergnügen und Schönheit.« Schon vor Sharankumar Limbale verfasste M. N. Wankhade einen Text mit dem Titel »Freunde, die Tage der verantwortungslosen Schriftsteller sind vorbei«. Darin erteilt er jeder romantisch verklärten Weltsicht, die die bitteren Realitäten der Menschen nicht wahrhaben wolle, eine Absage. Ziel der Dalit-Literaturkritik ist es, die Hegemonie des Literaturestablishments der hohen Kasten zu brechen und die überkommenen Kanons in Frage zu stellen.

Dieses Literaturestablishment würdigte in den 1970er-Jahren die damals in Marathi verfasste neue radikale Dalit-Literatur zwar kurzfristig, zeigte sich dann aber bald gelangweilt von der anhaltenden Empörung und Wut der Unberührbaren. Doch »es ist unmöglich, die nie enden wollenden Qualen des Dalit-Lebens in süßlich melodischen poetischen Versen darzustellen«, betont Omprakash Valmiki in seiner zur Millenniumswende verfassten Autobiografie. Die Ästethik der von den hohen Kasten verfassten Belletristik sei einfach unvereinbar mit den Erfahrungen, die die Dalits in Worte zu fassen bemüht sind.

»Das Leben der Dalits ist unerträglich schmerzhaft, versengt von Erfahrungen. Erfahrungen, die in literarischen Schöpfungen keinen Platz gefunden haben. ... Ich begann zu schreiben. Noch einmal musste ich all das Elend, die Qualen ... durchleben. ... Wie schrecklich schmerzhaft war diese Enthüllung meiner Selbst, Schicht um Schicht. Manche Leute finden diese Dinge unglaubwürdig und übertrieben«, schreibt Omprakash Valmiki im Vorwort zu Joothan.

Sollten die Dalit-AutorInnen »eifrig die Rajas und Maharajas und deren Feste und Feierlichkeiten beschreiben, oder von Sternen, Blumen, der Sonne und dem Wind und anderen Naturphänomenen besessen sein? Oder sollten sie sich in einer falschen Welt der Gefühle verlieren und den Menschen als hilflose Puppe in den Händen des Übernatürlichen ansehen?«, fragt der Dalit-Autor und Kritiker Arjun Dangle. Dalit-Schriftsteller könnten nicht die Werte eines ausbeuterischen Systems akzeptieren, und jene, die diese Werte akzeptieren, könnten nicht Vorbilder der Dalit-Schriftsteller sein, erklärt Arjun Dangle.

Brigitte Voykovitsch

1

Einzelne Dalits – gebrochene Menschen, wie sich Indiens Unberührbare heute nennen –, haben bereits im 19. Jahrhundert Essays oder literarische Texte verfasst. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen dann Dalits in verschiedenen Teilen Indiens zu schreiben. Noch ist ihr Schaffen aber weitgehend unzugänglich. Eine größere Anzahl von Dalit-Werken ist lediglich aus dem Marathi ins Englische übersetzt worden. Auch aus dem Hindi und Tamil sind einige Werke ins Englische und Französische übertragen worden. Über die in anderen offiziellen indischen Regionalsprachen wie etwa Telugu, Kannada, Malayalam, Oriya, Bengali oder Gujarati geschriebene Dalit-Literatur geben hingegen nur einzelne Kapitel in Büchern über die Dalit-Bewegungen der jeweiligen Region Aufschluss.

Literatur:

Holmström, Bama & Lakshmi (2000): Karukku, Chennai: Macmillan India Limited.

Dangle, Arjun (ed.) (1992): Poisoned Bread, translations from Modern Marathi Dalit Literature, Bombay: Orient Longman.

Dangle, Arjun (ed.) (1992<|>a): A Corpse in the Well, translations from Modern Marathi Dalit Autobiographies, Bombay: Orient Longman.

Kamble, Shantabai et Baby Kamble (1991): Parole de Femme intouchable, Paris: côté-femmes éditions.

Limbale, Sharankumar (2003): The Outcaste. Akkarmashi, New Delhi: Oxford University Press.

Valmiki, Omprakash (2003): Joothan. A Dalit’s Life, Kolkata: Samya.

Zelliott, Eleanor (1996): From Untouchable To Dalit: Essays on the Ambedkar Movement, New Delhi: Manohar Publishers.