Jürgen Treulieb

Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf

Einspruch gegen eine unseriöse Legendenbildung

Nach den Aufsätzen von MARTIN ALTMEYER zur »Mentalität des deutschen Linksterrorismus« in der Ausgabe 3/07 und von JOSCHA SCHMIERER: »Wider die Provinzialisierung und Verdeutschung von 68« in der Ausgabe 4/07, geht die Debatte um die Deutung und Bewertung von »1968« weiter. JÜRGEN TREULIEB kritisiert die »Methode Kraushaar«, in der Rudi Dutschke zu Unrecht in die Nähe zum Terrorismus der RAF gestellt sieht. Dutschke habe sich vielmehr klar gegen eine »Terrordespotie« gewandt. MARTIN ALTMEYER antwortet auf den Beitrag von JOSCHA SCHMIERER und plädiert für eine selbstkritischere Betrachtung der Schattenseiten der antiautoritären Revolte. Die Aufklärung der Selbstaufklärung müsse auch in einem veränderten Wissen über die Vergangenheit geschehen. WILFRIED KUNSTMANN richtet den Blick auf eine Bewegung, die weit über die der Studenten hinausging: »Wir« waren auch andere.

In einer gemeinsam mit Jan Philipp Reemtsma und Karin Wieland 2005 herausgegebenen Schrift Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF(1) stellt Wolfgang Kraushaar in seinem Beitrag »Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf« die Behauptung auf, dass Dutschke der Begründer der Stadtguerilla in Deutschland ist. Als Beleg für seine These führt Kraushaar neben öffentlich zugänglichen Quellen handschriftliche und maschinenschriftliche Notizen aus bislang nicht veröffentlichten Teilen des Nachlasses von Rudi Dutschke an, die sich in der Obhut des Hamburger Instituts für Sozialforschung befinden.

An Kraushaars Vorgehensweise scheint dem Verfasser besonders fragwürdig zu sein, dass er sich völlig unsystematisch und willkürlich einzelne Zitate aus Notizen und Artikeln, die angeblich Dutschkes Autorenschaft aufweisen, so zusammenstellt, dass sie eine scheinbare Systematik ergeben. So zitiert er nicht ein einziges Mal aus den Tagebüchern von Rudi Dutschke, die Gretchen Dutschke 2003 herausgegeben hat und in denen Rudi Dutschke eine sehr differenzierte und scharfe Kritik der RAF vornimmt.(2) Aus der fragmentarischen Autobiografie von Rudi Dutschke,(3) in der dieser an verschiedenen Stellen die RAF ebenso hart kritisiert, zitiert Kraushaar einen einzigen Satz(4) an einer Stelle, an der dieser Satz in seine Beweisführung passt, einige Sätze zuvor analysiert Dutschke in demselben Text die Aktionen der RAF,(5) wovon in Kraushaars Text an keiner Stelle etwas zu lesen ist.

Der Verfasser hat sich die Mühe gemacht, die handschriftlichen und maschinenschriftlichen Notizen aus den bislang nicht veröffentlichten Teilen des Nachlasses von Rudi Dutschke, die die Grundlage von Kraushaars Darstellung bilden, im Hamburger Institut für Sozialforschung in Augenschein zu nehmen. Es handelt sich um eine Lose-Blatt-Sammlung von Hunderten von Seiten, die zum Teil sicherlich authentische Produkte von Rudi Dutschke sind; manche wirken allerdings eher wie Exzerpte aus Texten oder Büchern, deren Autor nicht Rudi Dutschke, sondern irgendein anderer Mensch irgendwo auf der Welt ist. Mit anderen Worten: Das Werk, von dem Jan Philipp Reemtsma im Vorwort unter anderem schreibt: »Das vorliegende Buch stellt die drei Komponenten, aus denen die Terrorgruppe ›Rote Armee Fraktion‹ ihre Existenz konstituierte, vor: 1. die theoretische Orientierung auf den bewaffneten Kampf in der bundesrepublikanischen Neuen Linken am Beispiel Rudi Dutschkes, 2. ...«(6), steht auf tönernen Füßen, es entbehrt einer seriösen sozialwissenschaftlichen Grundlage.

Bevor der Verfasser auf Rudi Dutschkes Position zum Terrorismus der RAF eingeht, will er zunächst auf einige offensichtliche Widersprüchlichkeiten und augenscheinliche Fehler in Kraushaars Text aufmerksam machen.

Zu Beginn des ersten Kapitels, das die Überschrift »Die Entpuppung des Guerilleros« trägt, zitiert Kraushaar Ulrike Meinhof mit einem Satz aus dem Jahre 1971: »Die Rote Armee Fraktion leugnet, im Unterschied zu den proletarischen Organisationen der Neuen Linken, ihre Vorgeschichte als Geschichte der Studentenbewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im Klassenkampf rekonstruiert und den internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen hergestellt hat.«(7)

Dazu ist zu sagen, dass von den vielen Dokumenten, die die RAF seit ihrer Gründung im Jahre 1970 herausgegeben hat, es keine positiven Bezüge zur Studentenbewegung gibt. Der Verfasser hat Andreas Baader zwei- oder dreimal im Berliner SDS erlebt, bei seinen kurzen Wortbeiträgen hat er sich stets sehr arrogant über die studentischen Aktivitäten geäußert, etwa in dem Sinne, dass es ihnen um bürgerliche Privilegien gehe und man diese Kleinbürger vergessen könne, weil ihnen die Bereitschaft zum revolutionären Kampf fehle.

Dass Ulrike Meinhof, die gemeinsam mit Jürgen Seifert die SDS-Gruppe in Münster aufgebaut hat, ihre Herkunft aus der Studentenbewegung nicht leugnet, ist verständlich und völlig normal, aber kein Beweis für Kraushaars These. Dass Kraushaar in diesem Zusammenhang ausgerechnet den früheren RCDS-Bundesvorsitzenden und späteren CDU-Bundestagsabgeordneten und heutigen Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn, Gerd Langguth, als Kronzeugen bemüht, der in seinem Buch einen direkten Zusammenhang zwischen Rudi Dutschkes Wirken und dem Terrorismus konstruiert und die Theoretiker der Frankfurter Schule für politisch begründete Gewalt in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre mitverantwortlich macht, ist ein starkes Stück. Kraushaar verniedlicht Langguths schwer wiegende Fehlanalyse, indem er in diesem Zusammenhang davon spricht, der CDU-Politiker und Politikwissenschaftler »überziehe seine Hypothesen«.(8) Kraushaar schildert dann die Szene am Grab von Holger Meins am 18. November 1974 auf einem Hamburger Friedhof, als Rudi Dutschke »Holger, der Kampf geht weiter!« ausruft. Obwohl Kraushaar selbst in diesem Zusammenhang einen Leserbrief von Rudi Dutschke an den Spiegel vom 25.11.1974 und einen anderen an Freimut Duve vom 1.2.1975 zitiert, in denen Dutschke klarstellt, dass es ihm bei seiner Äußerung nicht um eine politische Solidarisierung mit der RAF gegangen ist, lässt es Kraushaar offen, wie der Auftritt von Dutschke letztlich zu interpretieren ist. Eine ganz andere Interpretation hat Co-Autor Jan Philipp Reemtsma zu Dutschkes Verhalten am Grab von Holger Meins in seinem Vorwort zu dem Buch zu bieten. Er schreibt: »›Holger, der Kampf geht weiter!‹ – damit war von dem, der das rief, nicht der bewaffnete Kampf der RAF gemeint, sondern etwas für den Terrorismus ungleich Wichtigeres: die Anerkennung, dass man denselben Kampf kämpft.«(9)

Vom Grab von Holger Meins springt Kraushaar dann direkt zum Tod von Rudi Dutschke am 24. Dezember 1979. Er schreibt: »Als Dutschke am Heiligabend 1979 völlig überraschend an den Spätfolgen des Attentats stirbt, ist der Schock groß. Nachdem die Nachrufe gedruckt, die Reden bei der Beerdigung auf dem Dahlemer Friedhof gehalten und die Szenen der Trauerfeier im Auditorium Maximum der Freien Universität, von peinlichen Auftritten esoterisch anmutender Öko-Fundamentalistinnen unterbrochen, vorüber sind, scheint sich ein Bild von der Ikone der 68-er-Bewegung herauszukristallisieren, das sich mehr und mehr den vier Grundprinzipien der nur wenige Tage später in Karlsruhe gegründeten Partei der Grünen zu fügen scheint – ökologisch, basisdemokratisch, sozial und gewaltfrei.«(10)

In diesem Satz sind gleich mehrere Un- sowie Halbwahrheiten enthalten. Auf dem Dahlemer Friedhof fand am 3.1.1980 eine kirchliche Beerdigung statt, bei der der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer, ein langjähriger Freund von Rudi Dutschke, die Predigt hielt. Anschließend fand im Auditorium Maximum der Freien Universität eine Gedenkveranstaltung statt, auf der der ehemalige AStA-Vorsitzende der FU, Jürgen Treulieb, der Psychologe Thomas Ehleiter, der nach dem Attentat Rudi Dutschke bei der Wiederaneignung der Sprachfähigkeit half, das ehemalige SDS-Mitglied Bernd Rabehl, die Bremer Grüne Delphine Brox-Brochot und der Schriftsteller Erich Fried sprachen. Wolf Biermann sang dem toten Rudi Dutschke ein Lied, das er anlässlich seines Todes komponiert hatte. Kraushaar scheint die bei der Trauerfeier gehaltenen Reden nicht zu kennen, denn seine Quellenangabe(11) in der Fußnote enthält diese Beiträge nicht. Die Trauerfeier wurde vor allem nicht »von peinlichen Auftritten esoterisch anmutender Öko-Fundamentalistinnen unterbrochen«. Auch wurde Rudi Dutschke in den Beiträgen nicht als »Ikone der 68-er Bewegung« gewürdigt, denn eine Ikone ist ein Heiligenbild, und das wurde von der Rednerin und den Rednern von Rudi Dutschke dort gerade nicht gezeichnet. Kraushaar wundert sich in einer Fußnote zu seiner Einschätzung der Gedenkveranstaltung über einen Beitrag in der Zeit vom 4.1.1980: »Ein wahrhaftiger Sozialist. Zum Tode von Rudi Dutschke« von Jürgen Habermas, den er einen der ehemals schärfsten Dutschke-Kritiker nennt. Die Behauptung, Habermas sei einer der »ehemals schärfsten Dutschke-Kritiker« gewesen, ist auch irreführend. Zwar hatte Habermas im Juni 1967 in einer sehr erregten Debatte, die nach der Beerdigung des von der Berliner Polizei erschossenen Studenten Benno Ohnesorg in Hannover stattfand, Rudi Dutschke »linken Faschismus« vorgeworfen, hatte diesen Vorwurf später aber mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückgenommen. Ansonsten hatten Jürgen Habermas und Rudi Dutschke einen respektvollen wie kritisch-solidarischen Umgang miteinander, was auch Habermas’ Nachruf in der Zeit zeigt.

Über Habermas’ Dutschke-Bild und das auf der Trauerveranstaltung dargestellte schreibt Kraushaar: »Gegen dieses Bild des grün angehauchten, christlichen Pazifisten hat sich schon bald darauf erheblicher Unmut geregt.«(12) In einer Fußnote schreibt Kraushaar, Dutschke selbst hat dazu unmissverständlich festgehalten: »Ich schätze jeden pazifistisch orientierten Demokraten und Sozialisten – ich bin es nicht.« Hier zeigt sich die Methode Kraushaar. Erst wird von Kraushaar behauptet, seine Freunde stellen Rudi Dutschke als »Ikone« und »Pazifisten« dar, Kraushaar entlarvt, dass Dutschke beides nicht ist. Es ist aber von niemandem behauptet worden, dass Dutschke »Ikone« oder »Pazifist« ist.(13) Weder Rudi Dutschke selbst noch seine Freunde haben das über seine politische Position in den Sechziger- und Siebzigerjahren behauptet. Es ist auch absurd sich vorzustellen, dass Rudi Dutschke zum Beispiel auf dem Vietnamkongress 1968 in Berlin die Position hätte vertreten sollen, der gewaltigen amerikanischen militärischen Aggression gegen Vietnam mit friedlichen Mitteln entgegenzutreten. Statt auf die Beiträge der Gedenkveranstaltung einzugehen macht uns Kraushaar mit Gedanken von Fritz Teufel vertraut, der zu dieser Zeit im Gefängnis Berlin-Moabit einsitzt und von dort aus den Beitrag von Erich Fried auf der Trauerversammlung zu kritisieren weiß. Kraushaar zitiert Teufel wörtlich: »Ohne das Attentat, meint Erich Fried, hätte Rudi Ulrike Meinhof vom bewaffneten Kampf abgehalten. Ohne das Attentat, meine ich, wäre Rudi vielleicht selbst diesen Weg gegangen und hätte dem bewaffneten Kampf in den Metropolen, ebenso wie Ulrike, entscheidende Impulse geben können.«(14) So glaubt Kraushaar über einen vermeintlichen Beitrag auf der Gedenkveranstaltung mittels der Projektion von Fritz Teufel Rudi Dutschke dem bewaffneten Kampf näher bringen zu können, auch wenn auf der Veranstaltung das Gegenteil gesagt wurde.

Unter der Überschrift »Dutschkes Adaption der Focus-Theorie« behauptet Kraushaar anhand von Unterlagen, die in Aufarbeitung des Symposiums des Berliner SDS von 1985 erschienen sind(15), sowie von Unterlagen aus den Teilen des Nachlasses von Rudi Dutschke, die bislang nicht veröffentlicht wurden, hier liege »das Konzept einer Stadtguerilla – lange bevor es von dem brasilianischen Kommunisten Carlos Marighella seit Ende 1967 in Sao Paulo praktiziert und im ›Handbuch des Stadtguerillero‹ kanonisiert worden ist – bereits in nuce vor.«(16)

Kraushaar zitiert aus einem »Pamphlet«, das Rudi Dutschke als Vorwort zu der von Stephan Reisner herausgegebenen Schrift, Briefe an Rudi D., geschrieben hat, das nach dem Attentat auf Dutschke 1968 erschienen ist, und leitet dies mit den Worten ein: »Und er zitiert zustimmend eine Passage Mao Tse-tungs, die sich später in mancher RAF-Schrift wiederfindet: ›Die Revolution ist kein Gastmahl, kein Aufsatzschreiben, kein Bildermalen oder Deckchenstricken, sie kann nicht so fein, so gemächlich und zartfühlend sein, so maßvoll, gesittet, höflich zurückhaltend und großherzig durchgeführt werden. Die Revolution ist ein Aufstand, ein Gewaltakt, durch den eine Klasse eine andere stürzt.‹«(17) Nach dem Zitat fährt Kraushaar fort: »Die Ideen des chinesischen Diktators haben in jener Zeit – ganz im Gegensatz zu dem in der Öffentlichkeit vorherrschenden Bild Dutschkes als Protagonisten der undogmatischen Linken – bei ihm einen ganz besonderen Rang eingenommen.«(18) Dazu gibt es zweierlei zu sagen. Dieses Mao-Zitat findet sich später nicht nur in mancher RAF-Schrift wieder, sondern es findet sich wesentlich früher als bei der RAF auf unzähligen Flugblättern und in ebenso vielen Pamphleten der Sechziger- und Siebzigerjahre wieder und zweitens, es ist nicht das Zitat des chinesischen Diktators, wie Kraushaar uns glauben zu machen versucht, sondern das Zitat des in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts gegen die faschistischen japanischen Okkupationstruppen kämpfenden chinesischen Revolutionärs, den ein Sozialwissenschaftler auch im 21. Jahrhundert von einem Diktator unterscheiden können sollte.

Im Sommer 1970 habe ich Rudi Dutschke in Cambridge besucht, wo er an seiner Dissertation arbeitete. Wir haben damals neben vielen politischen Themen und Problemen über die Aktion von Ulrike Meinhof und Horst Mahler diskutiert, die im Frühjahr 1970 Andreas Baader bei einem Freigang aus der Justizvollzugsanstalt Tegel in einem sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Freien Universität in Berlin-Dahlem mit Waffengewalt »befreit« hatten. Rudi fand diese Aktion politisch falsch, weil er für den freiwilligen Gang in die Illegalität keine politische Begründung sah. Besonders entsetzt war er darüber, dass bei dieser Aktion der Hausmeister des Instituts durch Schussverletzungen lebensgefährlich verletzt wurde, und dass die Täter in ihren Erklärungen zu diesem Ereignis schwiegen sowie es später mit der Bemerkung rechtfertigten, der alte Mann hätte sich während ihrer »Aktion« zurückhalten sollen.

Artikel hat Rudi Dutschke zu dieser Problematik damals nicht geschrieben, weil er neben der Arbeit an seiner Dissertation noch große gesundheitliche Probleme mit den Folgen der Kopfschussverletzungen hatte, die er bei dem Attentat im April 1968 in Berlin erlitten hatte.(19)

Im Juli 1972 war der Verfasser bei einem Gespräch im Hause von Helmut Gollwitzer in Berlin anwesend, bei dem neben Helmut Gollwitzer seine Frau Brigitte, der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann und seine Frau Hilda sowie Rudi Dutschke anwesend waren. Das Gespräch wurde hauptsächlich durch einen Dialog von Gustav Heinemann und Rudi Dutschke bestimmt. Bevor Rudi Dutschke Heinemann nach seiner Position in der Deutschlandpolitik der Fünfzigerjahre löcherte(20) und Heinemann ihn nach den politischen Perspektiven der APO befragte, bat Heinemann Dutschke um seine politische Einschätzung der Baader-Meinhof-Gruppe.(21) Da Ulrike Meinhof am 15. Juni 1972 – also ein paar Wochen vor dem Gespräch – verhaftet worden war, war die Diskussion darüber überall gegenwärtig. Dutschke antwortete Heinemann, dass er den freiwillig gewählten Weg der Gruppe in den Untergrund für politisch falsch und die Konzeption des bewaffneten Kampfes für die bundesrepublikanische Situation für verhängnisvoll halte und es sehr bedaure, dass eine kluge Frau wie Ulrike Meinhof sich auf diesen Weg begeben habe. Heinemann, der Ulrike Meinhof aus der Zeit des Kampfes gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr persönlich kannte und sie in diesem Zusammenhang auch einmal als Rechtsanwalt beraten hatte, äußerte sich ähnlich wie Dutschke zur politischen Einschätzung der Baader-Meinhof-Gruppe.(22)

Gustav Heinemann sagte dann auch, dass es ihn beruhige, welche Haltung Dutschke gegenüber der Baader-Meinhof-Gruppe habe, dass er dieses auch nicht anders erwartet habe. Dutschkes Haltung zur Baader-Meinhof-Gruppe interessierte ihn auch deshalb, weil er sich während des Ausweisungsverfahrens der britischen Regierung gegen Rudi Dutschke für ein Aufenthaltrecht Dutschkes in England offiziell eingesetzt hatte.(23)

Im Spiegel Nr. 48 vom 25.11.1974 erscheint ein Leserbrief von Rudi Dutschke, in dem dieser seinen Ausspruch »Holger, der Kampf geht weiter« am Grab von Holger Meins(24) am 18. November 1974 in Hamburg erläutert. Er schreibt dort: »›Holger, der Kampf geht weiter‹ – das heißt für mich, dass der Kampf der Ausgebeuteten und Beleidigten um ihre soziale Befreiung die alleinige Grundlage unseres politischen Handelns als revolutionäre Sozialisten und Kommunisten ausmacht. Unsere Methoden und die Lösung der aktuellen politischen Aufgaben sind somit von dem sozialistischen Ziel des Sieges der Arbeiterklasse nicht zu trennen. Der politische Kampf gegen die Isolations-Haft hat einen klaren Sinn, darum unsere Solidarität. Die Ermordung eines antifaschistischen und sozialdemokratischen Kammerpräsidenten ist aber als Mord in der reaktionären deutschen Tradition zu begreifen. Der Klassenkampf ist ein politischer Lernprozess. Der Terror aber behindert jeglichen Lernprozess der Unterdrückten und Beleidigten.«(25)

Während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch die RAF im September 1977 schreibt Rudi Dutschke unter dem Titel »Kritik am Terror muss klarer werden« einen Artikel in der Zeit,(26) den er folgendermaßen beginnt: »Im Stern wurde vor Monaten ein erst erwünschter Beitrag von mir über die sozialistische Kritik an Desperado-Aktionen nicht veröffentlicht. In ihm hieß es:

›Als in Spanien der Franco-Minister Carrero terroristisch in die Hölle gejagt wurde, da atmete ein großer Teil eines ganzen Volkes auf, half der Anschlag, das Ende der Despotie voranzutreiben.‹ Unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen ist die Lage völlig anders. Jede Terroraktion bei uns dagegen macht die geringe gesellschaftliche Luft noch enger und vernebelt ungeheuer die realen Widersprüche und politischen Klassenkampfmöglichkeiten. In Spanien ist gewissermaßen ein Beginn der bürgerlichen Gesellschaft politisch und ökonomisch festzustellen. Jenen Spielraum freimachend, den die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten benötigen, um die Sozialismusfrage angemessen stellen zu können. Wir in der Bundesrepublik sind nicht am Beginn, wir sind viel eher in einer Endphase des bürgerlichen Rechtsstaates, der in einer tiefen Krise steckt. Buback und sein Mitarbeiter saßen an zentralen Stellen, um gesellschaftlich unkontrollierte Macht auszuüben. Sie waren, um mit Marx zu sprechen, ›gesellschaftliche Charaktermasken‹. Entfremdete Menschen – aber Menschen und nicht abzuschießende Schweine.«

Nach längeren Ausführungen zu innenpolitischen Auseinandersetzungen über den Terrorismus analysiert Rudi Dutschke am Schluss des Artikels noch einmal den Terror der RAF in aller Schärfe: »Denn in ihren Argumentationen und Diskussionen, soweit sie überhaupt von außen durchschaubar und erkennbar sind, gibt es die Frage der sozialen Emanzipation der Unterdrückten und Beleidigten schon lange nicht mehr. Der individuelle Terror ist der Terror, der später in die individuelle despotische Herrschaft führt, aber nicht in den Sozialismus. Das war nicht unser Ziel und wird es nie sein. Wir wissen nur zu gut, was die Despotie des Kapitals ist, wir wollen sie nicht ersetzen durch Terrordespotie.«

1  Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Karin Wieland (Hrsg.): Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005.

2  Gretchen Dutschke (Hrsg.): Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher von 1963–1979, Köln 2003.

3  Rudi Dutschke: Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiographie, Berlin 1981.

4  »Ich schätze jeden pazifistisch orientierten Demokraten oder Sozialisten – ich selbst bin es nicht«, Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, S. 18.

5  Was für ein Teufelskreis, was für eine wahnsinnige ›Kooperation‹ der Gruppen des individuellen Terrors und derjenigen Fraktionen des Kapitals, denen der Klassenkompromiss des bürgerlichen Rechtsstaats in der Krisenperiode erst recht nicht mehr passt! Den Terrorgruppen bedeuten – wie jenen – die Kategorien der Demokratie und der Aufklärung nichts.« Rudi Dutschke: Aufrecht gehen, S. 166.

6  Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, S. 11 f.

7  A. a. O., S. 13.

8  A. a. O., S. 15.

9  A. a. O., S. 11.

10  A. a. O., S. 18.

11  Peter Bernhardi (Hrsg.): Sammelband mit Nachrufen, Rudi Dutschke, Frankfurt am Main 1987.

12

Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, S. 18.

13  Sicherlich war Rudi Dutschke, als er 1958 als Mitglied der »Jungen Gemeinde«, einer Jugendorganisation der Evangelischen Kirche in der DDR, nicht bereit war, in der Nationalen Volksarmee der DDR Wehrdienst zu leisten, in seinem Selbstverständnis christlicher Pazifist, was von einem der Redner auf der Trauerversammlung auch angesprochen wurde.

14  Rudi Dutschke Andreas Baader und die RAF, S. 19.

15  Siegward Lönnendonker (Hrsg.): Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) in der Nachkriegsgeschichte (1946–1969) – Linksintellektueller Aufbruch zwischen »Kulturrevolution« und »kultureller Zerstörung«. Dokumente eines Symposiums, Opladen/Wiesbaden 1998.

16  Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, S. 30 f.

17  A. a. O., S. 36 f.

18  A. a. O., S. 37.

19  Im Januar 1971 wurde Rudi Dutschke von der britischen Regierung mit einer politischen Begründung aus Großbritannien ausgewiesen und arbeitete ab Februar 1971 als Dozent an der Universität Arhus.

20  Gustav Heinemann sprach über seine Zeit in der GVP (Gesamtdeutsche Volkspartei) gern als »meine APO-Jahre«.

21  Gustav Heinemann sprach immer von Baader-Meinhof-Gruppe, das Wort Baader-Meinhof-Bande benutzte er nie.

22  Gustav Heinemann hat Ulrike Meinhof später einen Brief ins Gefängnis geschrieben, in dem er ihr einen Besuch im Gefängnis, um den sie ihn gebeten hatte, anbot, wenn dieser ohne Vorbedingungen stattfinde.

23  Gustav Heinemann erzählte in diesem Zusammenhang auch, dass er damals den britischen Botschafter in Bonn in die Villa Hammerschmidt einbestellt habe, ihm ein Exemplar der Rede überreicht habe, die er im April 1968 als Bundesjustizminister im Deutschen Fernsehen zum Attentat auf Rudi Dutschke gehalten hatte und dem Botschafter gegenüber erklärt habe, dass er als völkerrechtlicher Vertreter der Bundesrepublik Deutschland von der britischen Regierung erwarte, dass sie Dutschke nicht ausweist, weil das dem Geist der europäischen Verträge widerspräche und den Beziehungen zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik Schaden zufügen werde.

24  Vgl. die unterschiedliche Haltung von Kraushaar und Reemtsma in dieser Frage, s. S. 2.

25  Am 11. November 1974 wurde der Präsident des Berliner Kammergerichts, der Sozialdemokrat Günter von Drenkmann, in seiner Berliner Wohnung von Terroristen erschossen.

26  Zeit, 16.9.1977.

©: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007