Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Die dunkle Hälfte der Türkei

Die Bostoner Ethnologin Jenny B. White bereiste in den Neunzigern vor allem die eben explodierenden anatolischen Städte. In ihrem Buch Islamist Mobilization in Turkey (2002) präsentiert sie Interviews mit Frauen, die gerade vom Land zugezogen sind: »Eine Frau, deren Gesicht von ihrem Kopftuch in Schatten gehüllt und im diffusen Licht nur unklar zu erkennen war, sagte: ›Es ist schwer, die ganze Zeit alleine zu Hause zu sein.‹ Eine andere fügte wehmütig hinzu, ›wenn ich doch nur irgendwohin reisen könnte‹. – Die Frauen schwächten ihre Klagen sofort wieder ab und fügten bestimmt hinzu, es gehöre sich für Frauen, zu Hause zu bleiben. Sie waren sich einig, dass schutzlose Frauen in ihren Bewegungen einschränkt sein sollten. ›Man weiß nie, was passieren kann.‹ Sie diskutierten die Aussagen des Korans zu diesem Thema, wobei eine Frau darauf hinwies, dass die Macht der Männer den Grad dieser Einschränkungen bestimmte und nicht der Koran. Mehrere Frauen sagten, dass sie gerne arbeiten möchten, doch dass ihre Männer es nicht erlaubten. Im Laufe der Unterhaltung wuchs die Unzufriedenheit. – ›Die Männer machen unser Leben schwer.‹ – ›Ich wünschte, wir hätten mehr Bildung.‹ – ›Ich wünschte, ich könnte arbeiten und etwas Geld verdienen. Es ist schwer, sich darauf verlassen zu müssen, dass dein Mann jeden Tag Geld für dich da lässt. Manchmal vergisst er es; was tust du dann?‹«

Die andere Seite: Kadigöy, ein Istanbuler Bezirk mit 660000 Einwohnern, Heimat des Fußballclubs Fenerbahce, Boulevards, Straßencafés, Boutiquen, alternative Musikszenen, westliches Flair, durchschnittliche Haushaltsgröße 2,4 Personen, 95 Prozent können lesen und schreiben, jeder Fünfte hat eine Uni besucht. Wie London oder Madrid. Viele Frauen arbeiten, erreichen führende Positionen, nehmen am öffentlichen Leben teil. Es gibt Kindergärten und Frauenhäuser. Bürgermeister ist Inci Bespinar, eine Frau, die vom europäischen Einfluss schwärmt und von der Vielzahl der Frauenvereine: »Kadiköy bot Frauen das Umfeld, in dem sie Fragen nach ihrem Platz in der Gesellschaft aufwerfen konnten. Sie hatten die nötige finanzielle Absicherung und Zeit, um über solche Dinge nachzudenken. Und sie hatten die kulturellen und fremdsprachlichen Kenntnisse, um an die Diskurse im Ausland anzuknüpfen. Kadiköy hatte gute Kontakte zu ausländischen Frauenorganisationen. Wann immer unsere Frauen ins Ausland reisten, erwarteten wir ihre Erfahrungsberichte mit großer Spannung. Zeit, Geld und Kultur… das sind die drei Hauptbestandteile.« (Geschlecht und Macht in der Türkei. Feminismus, Islam und die Stärkung der türkischen Demokratie, Bericht der ESI, »European Stability Initative«, Berlin/Istanbul, Juni 2007) Hier dominieren die säkularistischen Parteien, Abertausende Frauen haben an den großen Demonstrationen teilgenommen. Hier präsentiert sich die moderne türkische Frau.

Aber schon die Medienrepräsentation lässt an dieser Modernität einigen Zweifel aufkommen. Schreibende Frauen sind in der türkischen Presse immer noch eine Seltenheit, und Kadigöy ist eher so etwas wie ein Reservat. Führt eine Medienagentur wie Bianet eine Großdebatte mit Intellektuellen verschiedener Couleur durch und versammelt den Gelehrtenadel der Republik zum Meinungsaustausch (www.bianet.org/english/kategori/english/101434, 29.8.), erübrigt sich jede weibliche Form – in diesen Kreisen bleibt »Mann« unter sich. Und vor Erdogans vermeintlichen Hardcore-Islamisten war das noch ärger.

Die Problemlage der Türkei ist vielgestaltig. Sie umfasst, allein von ihrer geopolitischen Lage her, handfeste äußere Faktoren. In dieser Hinsicht hat sich der neue nationalistische Stabschef Yasar Büyükanit, einer der Hüter der kemalistischen Ikonographie, mehrmals peinlich hervorgetan. Seine wiederholten Drohungen, in den Irak einzumarschieren (FAS, 1.7.), zielen auf mehr ab, als nur der PKK den Garaus zu machen. Innenpolitisch wird dem Republikhüter eine fragliche Distanz zur Mafia des »tiefen Staates« unterstellt, jenem paramilitärischen und kriminellen Filz im Staatsapparat, der bis in höchste Kreise des Militärs, der Polizei, der Geheimdienste und der Gerichtsbarkeit vernetzt ist (dazu Rainer Hermann in der FAS, 15.7.). Diese Art Konservatismus mit zeitweise staatsterroristischen Mitteln ist eines der Probleme der Türkei. Der Fall Hrant Dink hat es wieder aufgeworfen (siehe Kommune 2/07). Darüber wurde auch in der Professorenrunde gestritten: Die AKP will sich, wie ihre Reformen andeuten, gerade dieses Mittels nicht bedienen und hat daher den Artikel 301 des Strafrechts scharf angegriffen – was für das Militär, das am Verfolgungsparagrafen festhält, ein Grund ihres massiven Auftretens war.

Eine Reihe weiterer Probleme deutet darauf hin, dass es eben nicht um die überholte Auseinandersetzung Säkularismus versus Islamismus geht. Eines wurde in der Bianet-Debatte klar: Auch den Rechtsgelehrten der Universitäten Istanbul und Ankara verschlägt es ob der derzeitigen ökonomischen Explosion den Atem: »Das Land wird derzeit umgestülpt.« Oder, wie eine andere türkische Zeitschrift schon vor Monaten schrieb: »Ökonomisch ist für Europa die Türkei heute so, als läge China oder Indien vor der Haustür.«

Seit 2001 erfährt das Land ein rasantes Wachstum mit durchschnittlich mehr als sieben Prozent im Jahr, 2006 waren es sechs Prozent. Die ausländischen Direktinvestitionen erreichen Jahr für Jahr neue Rekordhöhen; allein 2006 betrugen sie 15,4 Milliarden Euro, das ist mehr als während der gesamten Periode zwischen 1980 und 2000. Und heuer wird diese Marke wieder deutlich überschritten werden (tcmb.gov.tr/odemedenge/tablo20.pdf).

Hand in Hand mit dem Prozess der Industrialisierung geht jener der Urbanisierung. 1945 lebte erst ein Viertel der Bevölkerung (18,8 Mill.) in den Städten, 1980 waren es 44 Prozent (von 44,7 Mill.), 2000 schon mehr als die Hälfte, nämlich 65 Prozent von 67,8 Millionen (Angaben nach Türkiye Istatistik Kurumu, www.tuik.gov.tr/Start.do).

Gegen den Furor dieser Dynamik wirkt der alte Streit zwischen Nationalisten und Linken gegen Islamisten reichlich altbacken. Wie hinfällig dieses Schema geworden ist, äußert sich in einer Kontroverse in der taz, als Dilek Zaptcioglu am 20.8. melodramatisch einen »Wendepunkt« der Türkei verkündete; mit der Wahl Güls würde »das letzte Widerstandsgefühl gebrochen« auf der »Rückkehr ins Reich des Religiösen«. Sie erblickt darin den »Vatermord in Ankara«, denn Kemal Atatürk, »der für ihre Rechte eingetreten ist«, würde nichts mehr verstehen können – Ende der Republik, »deren kleinster Nenner das freie Individuum ist und nicht die patriarchale Religionsgemeinschaft«. Dem entgegnete am 28.8. Ömer Erzeren, der die Wahl als »Ende einer Schmierenkomödie« bezeichnete und aufzeigte, wie doch die Militärs kräftig zur Islamisierung der Gesellschaft beigetragen haben. Und vor allem: Wie eine »reaktionär-konservative Clique« ohne demokratische Kontrolle ihre Macht »im Namen des Fortschritts« ausgeübt hat – der »tiefe Staat« ist nur einer ihrer Auswüchse. Nun wehren sich, oft in einer seltsamen Allianz von Altlinken und Rechten, diese Kräfte gegen »die pragmatische Realpolitik, die die AKP eint: ein pro-europäischer Kurs, eine liberale Wirtschaftspolitik, die Integration des türkischen Marktes in die kapitalistische Weltökonomie«. Stellt sich doch die AKP als einzige Kraft ernsthaft den Problemen: Sie blickt nicht nach Iran oder Saudi-Arabien, muss aber den Spagat zwischen einem muslimischen Land und der Globalökonomie durchführen.

Tatsächlich gibt es in der Türkei ein gewaltiges Frauenproblem, das die Republik, wäre sie denn wirklich so fortschrittlich, schon längst hätte lösen müssen. Dieses Problem spricht auf allen Feldern eine deutliche Sprache. Der genannte ESI-Bericht zeigt in kompakter Form die enormen Defizite des Landes auf. Zitiert wird der Global Gender Gap Report 2006 des World Economic Forum, das mit 115 Ländern 90 Prozent der Weltbevölkerung abdeckt: »Die Türkei rangiert an 105. Stelle, hinter Bahrein, Algerien und Äthiopien und auch weit abgeschlagen hinter dem am schlechtesten abschneidenden EU-Mitgliedstaat (Zypern, auf Platz 83).« Länder wie Moldawien, Lesotho, Burkina Faso, Zimbabwe liegen in dieser gewichteten Statistik ebenso vor der Türkei. Das ist eine katastrophale Bilanz. Denn die Türkei hatte in der jüngeren Vergangenheit etwas mehr Möglichkeiten als einige dieser ehemaligen Kolonien oder Kriegsgebiete. (siehe Tabelle im Heft)

Entsprechend sind die Defizite in den einzelnen Bereichen. Um die Bildung ist es miserabel bestellt, insbesondere bei höheren Bildungsabschlüssen. Natürlich verbessert sich hier die Bilanz im Generationenvergleich. Aber noch 1960 waren, laut Türkiye Istatistik Kurumu, 75 Prozent der Frauen Analphabeten, 1980 noch fast die Hälfte (45 %). Hier gibt es noch das Problem einer relativ hohen Dunkelziffer durch die nicht registrierten Kinder: Mädchen werden auf dem Lande des Öfteren nicht gemeldet. »Die Teilhabe von Frauen am politischen Leben ist ebenfalls gering ... Denn betrachtet man die Gemeindeebene, so sieht man, dass lediglich 18 der 3234 gewählten Bürgermeister der Türkei Frauen sind (0,56 Prozent), verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 20 Prozent.« Frau Bespinar ist also eine Ausnahmeperson. – Am stärksten fällt die Bilanz der Beschäftigungsraten der Frauen auf (siehe Tabelle):

Dazu stellt der Bericht fest: »Mit 28 Prozent liegt die Beschäftigungsrate von Frauen bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts. Doch selbst diese Zahl ist irreführend, denn 42 Prozent der arbeitenden Frauen arbeiten tatsächlich unbezahlt für ihre Familien, vor allem in der Landwirtschaft. In urbanen Gebieten liegt die Rate bei lediglich 18 Prozent.« Es gibt noch eine Menge Zahlen, die veranschaulichen, welche Reformschritte notwendig sind. Sie zeigen natürlich auch, was bisher verabsäumt wurde, dass die Demokratie in der Türkei bisher im Wesentlichen eine halbe Demokratie war.

Katharina Knaus griff in der Wiener Zeitschrift Falter »Türkische Mythen« auf (20.6.): »Der erste Mythos ist die ›Befreiung der türkischen Frau‹ durch den Kemalismus. Mustafa Kemal Atatürk war tatsächlich ein Visionär, der das osmanische Familien- und Strafrecht 1926 durch italienische und Schweizer Gesetzestexte ersetzte. Es ist richtig, dass türkische Frauen das Wahlrecht vor Frauen in Frankreich hatten. Es ist aber auch wahr, dass unabhängige Frauenorganisationen in der Türkei in den Dreißigerjahren aufgelöst wurden und dass es bei Wahlen im türkischen Einparteienstaat der Dreißigerjahre nichts zu wählen gab. Die ersten demokratischen Wahlen unter Beteiligung von Frauen fanden in der Türkei später (1946) als in fast jedem anderen Land Europas statt. Noch 2000 war die türkische Gesetzgebung die patriarchalischste in ganz Europa.

Der zweite Mythos betrifft die Frauenpolitikbilanz der AKP-Regierung. Diese ist nicht glänzend: Noch immer sind zu wenige Frauen in politischen Ämtern, es gibt zu wenig Frauenhäuser. Doch im Vergleich zu früher fand mit der Reform des Strafgesetzbuchs 2004 und anderen Reformen eine Revolution statt. Die Vergewaltigung einer Frau gilt erstmals nicht mehr als Angriff auf die Familienehre, sondern auf ein Individuum. Das bedeutet, dass ein Vergewaltiger nicht mehr durch Heiraten seines Opfers der Strafe entgeht. Ehrenmorde werden strenger bestraft. Andere Initiativen – im Arbeitsrecht, in der Schaffung von Familiengerichten, in der direkten Anwendbarkeit internationaler (UN-)Standards gegen Diskriminierung – gehen in die gleiche Richtung.«

Die AKP kann vermutlich etwas, was Linke und Nationalisten nie gekonnt, auch nie wirklich versucht haben: die große Masse der Muslime, und insbesondere der muslimischen Frauen, in die Moderne mitnehmen. Dass sie eine katastrophale Bilanz übernommen hat, kann man ihr nicht anlasten. Jene, denen diese anzulasten ist, rufen heute lauthals: Haltet den (islamistischen) Dieb!

© Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007