Otfried Höffe

Stellt die Hirnforschung die Willensfreiheit in Frage?

Entscheidend sind nicht neuronale Zustände, sondern intellektuelle Argumente *

Einst brachte die Aufklärung das Licht der Freiheit, jetzt, so unser Autor, meinen Hirnforscher uns über die Illusion der Willensfreiheit aufklären zu müssen. Liefert das Labor, das wissenschaftliche Experiment tatsächlich Beweise dazu, oder handelt es sich nur um fragwürdige Interpretationen? Der Philosoph klopft Experimente und Deutungen ab – und stößt auf jeder Stufe auf eine Reihe von Widersprüchen, die die Beweisschärfe neurophysiologischer Interpretationen stumpf werden lassen.

Früher waren es Physiker oder Psychologen, neuerdings sind es einige Hirnforscher und weitere Neurowissenschaftler, die mit einem Kardinalbegriff der Moderne, der Aufklärung, dem anderen Kardinalbegriff, der Willensfreiheit, zu Leibe rücken. Sie erklären die Erfahrung, von innerem Zwang frei zu sein, für eine Täuschung und erkennen von der Freiheit vornehmlich den faktitiven Rest an, die Freiheit als Frei-Machen, hier als Emanzipation von der Illusion selbst einer bescheidenen Willensfreiheit. Neuronale »Verschaltungen«, behaupten sie, legen uns fest; »wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen« (Singer 2004). Allenfalls ist es noch den Hirnforschern und einigen sie sekundierenden Neurophilosophen wie Metzinger (1993) erlaubt. Denn sie haben zweierlei zu erklären, einerseits wie im Gehirn die Begleiterscheinung (Epiphänomen) neuronaler Prozesse, die Illusion der Freiheit, entsteht, andererseits warum das Gehirn so hartnäckig an der Illusion der Freiheit festhält.

Als exemplarischer Beleg gelten Versuche von Benjamin Libet aus dem Jahr 1985. Ursprünglich wollte der Neurophysiologe die Willensfreiheit experimentell belegen. Zu diesem Zweck untersuchte er das willkürliche, »freie« Auslösen einer minimalen Bewegung, des Hebens der rechten Hand. Von der »autonomen« Macht des Geistes überzeugt erwartete er, dass dem Beginn entsprechender Gehirnprozesse, dem Aufbau eines elektrischen Bereitschaftspotenzials, eine selbstgesteuerte Willenshandlung, ein Willensakt, zeitlich vorausgehe. Tatsächlich stellt sich das Nichterwartete heraus: Das Bereitschaftspotenzial baute sich weder nach dem Willensakt noch zeitgleich auf, vielmehr ging es ihm mit einem Zeitunterschied voraus, die Libet (2004) »mind time«, Geist-Zeit, nennt und die etwa 350 Millisekunden beträgt.

Manche Forscher berufen sich lieber auf andere Befunde. Diese passen sich aber nahtlos in eine Fülle weiterer neurologischer Erkenntnisse ein, die den Schluss aufdrängen, dass unbewusste Gehirnprozesse unser Bewusstsein steuern und nicht umgekehrt das Bewusstsein »Herr im Hause« ist. Die Menschen dünken sich zwar selbstständig und frei. In Wahrheit führen sie nur aus, was das Netz ihrer grauen Zellen vorab festlegt: »Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.« (Prinz 1996, 87)

Falls der Mensch, weil das Gehirn sein Verhalten steuere, tatsächlich keine Willensfreiheit hat, zöge es erhebliche Folgen nach sich. Beispielsweise verlöre der für das Strafrecht wesentliche Begriff der Schuldfähigkeit sein Recht. Vielleicht darf ein Gemeinwesen gegen Delinquenten noch Sanktionen verhängen. Weil aber die Täter für die Delikte keine Schuld tragen, dürfen die Sanktionen keine Strafe sein, nur noch eine Quasi-Strafe, eine erzwungene Therapie. (Zur weitläufigen Debatte s. Geyer 2004, Goldberg 2005 und Köchy/Stederoth 2006)

Tragweite der Provokation

Eine erfahrungsoffene Philosophie der Freiheit nimmt die neuen Forschungen zur Kenntnis, angefangen mit der Beschreibung des Gehirns als eines so komplexen Organs, dass es mit seinem Netz von etwa hundert Milliarden (1011) Nervenzellen (Neuronen) und tausendmal so vielen Verbindungsstellen (Synapsen: 1014) noch jeden Großrechner weit übertrifft. Und mit »neidlosem Neid« blickt sie auf die sowohl in technischer als auch in optischer Hinsicht faszinierenden Verfahren funktioneller Bildgebung.

Angeblich könne man mit ihrer Hilfe dem Gehirn beim Wahrnehmen, Denken und Fühlen zusehen. In Wahrheit ist es nicht das Gehirn, das wahrnimmt, denkt und fühlt, sondern der entsprechende Mensch. Und vor allem kann man nur gewissermaßen zusehen. Gesehen wird nämlich nur die objektive räumlich-zeitliche Architektur des Gehirns, nicht die subjektive »Begleiterscheinung«, das Wahrnehmen, Denken und Fühlen. Man beobachtet zwar nicht bloß die Hirnprozesse im engeren Sinn, die neurophysiologischen und neurochemischen Vorgänge, sondern auch deren funktionellen Zusammenhang mit Verhaltensreaktionen und inneren Vorgängen. (Die genannten Geräte genügen dafür freilich nicht; es braucht noch andere Verfahren und andere Hilfsmittel.) Trotzdem kann man die Bedeutungsebene, dass der funktionelle Zusammenhang ein Wahrnehmen, Denken oder beispielsweise ein Sich-Ängstigen bedeutet, nicht sehen. Der Forscher muss nämlich das, was er im Gehirn sieht, den funktionellen Zusammenhang von äußeren Verhaltensreaktionen und inneren Vorgängen im Gehirn als Wahrnehmung annehmen. Er muss aber den Zusammenhang »als« Wahrnehmung, Denken und so weiter ansprechen. Darin liegt eine Zusatzleistung, eine Interpretation, die ihrerseits eine Kenntnis der Interpretationsmuster, ein Wissen um die Besonderheit von Wahrnehmen, Denken und Fühlen voraussetzt. Die Frage nach der Willensfreiheit entscheidet sich daher nicht im Labor der Hirnforscher, sondern im Seminar, nicht im Experiment, sondern erst in dessen Interpretation. Und sie ist, wo sie für die Willensfreiheit erheblich wird, hochumstritten.

Diese Sachlage ist folgenreich: Würde sich die Frage im Labor entscheiden, wäre es um den Frieden der Neuroforschung mit der Lebenswelt, deren Bewusstsein von Freiheit, schlecht bestellt. Da sich die Frage aber im Seminar entscheidet, sieht es besser aus. Denn während Labor und Lebenswelt methodisch durch eine Kluft getrennt sind, ist das Seminar eine Instanz mit der Kraft zur Vermittlung.

Die Philosophie ist nicht bloß von der immer feineren Konstruktion der funktionellen Gehirnarchitektur beeindruckt. Aus eigener Kompetenz, nämlich ihrer Theorie des Lebendigen, teilt sie auch die neurowissenschaftliche Grundansicht, die Dynamik im Gehirn lasse sich am ehesten als Selbstorganisationsprozess und kaum in linearen Verlaufsmodellen erläutern. Noch mehr als die Forscher bewundert sie freilich die Natur, die im Verlauf der Evolution dieses morphologische und physiologische Wunder, eben das menschliche Gehirn, hervorgebracht hat. Dass es immer mehr entschlüsselt wird, überrascht die Philosophie dagegen nicht wirklich. Schon einer ihrer Kirchenväter, Aristoteles, erklärt zu Beginn eines Grundtextes abendländischen Denkens, der Metaphysik, dass der Mensch von Natur aus wissbegierig sei und seine Wissbegier erst im Wissen um Ursachen und letzte Ursachen (einschließlich Gründen) zur Ruhe komme (I 1, 980 a 21). Und der Autor, ein für Jahrhunderte überragender Biologe und Psychologe, legt den Ursachenbegriff nicht auf lineare Kausalität fest; bei entsprechenden Gegenständen gehören dynamische Strukturen und Selbstorganisationsprozesse hinzu.

Gemäß dem Sprichwort »Philosoph, bleib bei deinen Leisten« hält sich die Philosophie mit Stellungnahmen zu den experimentellen Anordnungen und zu den Forschungsergebnissen zurück. Sie setzt sich jedoch mit der Interpretation der Befunde, insbesondere mit deren »missionarisch-aufklärerischer« Deutung auseinander. Zu diesem Zweck stellt sie Hintergrundüberlegungen an, die über Voraussetzungen der angedeuteten Aufklärung aufklären, also jene reflexive Aufklärung suchen, um die sich die Philosophie seit jeher bemüht: Ist die Willensfreiheit tatsächlich eine Illusion, oder liegt im Gegenteil bei der Illusion der Willensfreiheit die wirkliche Illusion?

Bevor sie der Frage nachgeht, erweitert sie die Provokation. In einer sozialen Welt ohne Willensfreiheit geht weit mehr verloren als nur das bisherige Schuldstrafrecht, obwohl schon dieser Verlust erheblich ist. Das alternative, auf Besserung verpflichtete Strafrecht lässt nämlich ein in beide Richtungen extrem ungerechtes Strafen zu, das im Übrigen treffender »Quasi-Strafen« hieße: Einerseits könnten relativ harmlose Delinquenten, wenn zur »Heilung« erforderlich, extrem hoch quasi-bestraft werden. Andererseits kann das Quasi-Strafen selbst bei einem Schwerstdelikt wegfallen, sofern man wie bei manchem Nazi- oder Gulag-Schergen keinen Rückfall zu erwarten hat.

Darüber hinaus wird infrage gestellt, was die Grundlage sowohl der politischen als auch der personalen Moral bildet: die Selbstbestimmung. Weiterhin steht eine Voraussetzung von Erziehung, Selbsterziehung und Selbstachtung zur Disposition: Um in der Gesellschaft, auch vor sich selbst überleben zu können, müssen die Individuen sich in einer bestimmten Weise programmieren (»verschalten«). Sie müssen beispielsweise hoch exzentrische, aber noch erlaubte Verhaltensweisen von strafbewehrten Delikten unterscheiden und gemäß der Unterscheidung ihre Persönlichkeit entwickeln, was ohne Willensfreiheit schwerlich denkbar ist. Die genannte Aufgabe stellt sich übrigens beiden, sowohl dem Rechtschaffenen, der die Delikte vermeiden, als auch dem »genialen Verbrecher«, der sie unentdeckbar begehen will.

Die Evolutionsbiologie ergänzt: Ob Konstrukt oder Realität – für die Evolution der Hominiden war der Gedanke der Verantwortlichkeit samt einer zumindest bescheidenen Willensfreiheit unerlässlich. Infolgedessen drängt sich dieses Zwischenergebnis auf: Der Verlust der Willensfreiheit gefährdet einen Großteil der in der Menschheitsgeschichte entwickelten und mittlerweile zu einem Höhepunkt gelangten Individual-, Sozial- und Rechtskultur.

Droht die Gefahr, dass der Philosoph die Provokation überschärft? Nach Gerhard Roth ist der Mensch dank einer Selbstbewertung seines Handelns und einer daraus folgenden erfahrungsgeleiteten Selbststeuerung zu einer »Verantwortung ohne persönliche Schuld« fähig (2003: 544). Diese Fähigkeit wird sogar »Autonomie« genannt. Da sie aber nichts mehr beinhaltet als etwas, das »wohl auch die meisten Tiere« besitzen (531), ist sie zu schwach konzipiert. Beispielsweise bleibt eine Grundlage des Privatrechts gefährdet, jene Fähigkeit und zugleich Berechtigung, Verträge abzuschließen, die Privatautonomie, die kaum dem Primaten und gewiss nicht »den meisten Tieren« zukommt.

Eine Auffälligkeit nur in Klammern: Einige Hirnforscher neigen dazu, beim Vergleich von Mensch und Tier deren Unterschied zu verringern. Beim Vergleich ihrer neuen Erkenntnisse mit den Einsichten der – ihrer Ansicht nach zurückgebliebenen – Geisteswissenschaftler und Philosophen, ziehen sie es jedoch vor, die bestehenden Unterschiede zu vergrößern. Dagegen drängen sich eine Frage und eine Vermutung auf.

Die Frage: Kann man die skizzierte Neigung oder auch nur den Verdacht auf die Neigung, gewisse Differenzen zu unter-, andere zu überschätzen, auch bei Tieren feststellen, oder ist sie an einen qualitativen Unterschied, also doch an eine Besonderheit des Menschen, gebunden? Die (wahrscheinlich) positive Antwort spräche für einen doch erheblichen Unterschied.

Die Vermutung: Man argumentiert mit einer zu einfachen Alternative. Dass der Mensch sowohl körperlich als auch geistig-psychisch ein Teil der belebten Natur ist, wird ebenso von niemandem bestritten wie die Einsicht, dass es unsinnig ist, eine scharfe Trennung zwischen Natur auf der einen Seite und Geist, Kultur und Gesellschaft auf der anderen Seite zu machen. Gefragt ist die strukturell kompliziertere Fähigkeit, beides zu sehen: den Zusammenhang mit der subhumanen Natur und die Sonderstellung des Menschen. Ebenso sollte man beides können: Natur und Kultur sowohl in ihrer Verbindung als auch in ihrer relativen Trennung zu würdigen.

Auf die Erweiterung der Provokation folgt eine Erweiterung der phänomenalen Basis: Die Philosophie erinnert an die Fülle von Zwischen- und Übergangsphänomenen und zugleich daran, dass der Mensch nicht stets in Willensfreiheit, nicht einmal in schlichter Freiheit agiert (vgl. Höffe 2007, Kap. 16). So kann er stolpern, sich verrechnen oder etwas vergessen. Er unterliegt inneren Widerfahrnissen – dass seine Triebe, Bedürfnisse und Leidenschaften eine Übermacht gewinnen – und außerdem äußeren Widerfahrnissen – dass er zum Opfer böser, freilich auch glücklicher Schicksalsschläge wird. Nicht zuletzt gibt es zahllose physische, psychische und soziale Ursachen, die manches Verhalten, andere wie Psychosen, Demenz und schwere Wahnvorstellungen, die – fast – alles Verhalten von entsprechender Verantwortung und Freiheit entlasten: Dass jeder Mensch zu jeder Zeit vollkommen frei und rundum verantwortlich sei, ist eine Illusion, der wohl niemand anhängt.

Angeblich soll die Einsicht, dass der Mensch kein unumschränkter Herr über sein Leben und seine Geschichte ist, erschrecken, in Wahrheit erschreckt sie nicht. Die beliebte Diagnose von den großen Kränkungen, die die Menschheit im Verlauf der Neuzeit erleide, darf man getrost für eine Überdramatisierung halten.

Schon der Alltagsmensch weiß, dass der Mensch nicht Herr seiner Geschichte ist. Seit der griechischen Tragödie und Philosophie kennt die westliche Kultur gute Gründe. Manche Religion und viele Weisheitstexte anderer Kulturen sind noch skeptischer, allerdings nicht immer mit wissenschaftlich-philosophischen Argumenten. Weil man mit Darwin, Freud und der neueren Hirnforschung vieles genauer weiß, ist die Philosophie auf Einsichten der Evolutionstheorie, Psychologie und Neurowissenschaft neugierig und nimmt beispielsweise die von Neurologen wie Antonio Damasio (1999) vorgetragenen Argumente zu Grenzen der Willensfreiheit ernst. Grundstürzende Überraschungen erwartet aber nur, wer zuvor wohlbekannte Zeugnisse der Kultur ausblendet, zusätzlich eigene Alltagserfahrung verdrängt. Nur dann kann man der pathetischen Inszenierung angeblich radikal neuer Einsichten aufsitzen.

Zweifelsohne kommen voreilige Urteile vor. Beispielsweise täuscht man sich darüber, dass man noch sein eigener Herr ist. Oder man rechnet einer Person eine moralisch verwerfliche Tat zu, obwohl man später in jenen Strukturen des Frontalhirns einen Tumor entdeckt, die man zum zurechenbaren Handeln, Hirnforscher sagen: zum Abrufen erlernter sozialer Regeln, benötigt. Oder: Vermutlich ist bei einem harten Kern jugendlicher Gewalttäter ihr Hirnstoffwechsel empfindlich gestört. Und der Cineast erinnert sich an Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931), in dem am Ende der erschreckende Triebtäter, ein vielfacher Kindermörder, verzweifelt ruft: »Ich will nicht, ich muss; ich will nicht, ich muss; ich will nicht, ich muss.« Derartige Umstände legen nicht den illusionären Charakter der Willensfreiheit, wohl aber zwei andere Dinge nahe: Erstens sei man mit moralischen Verurteilungen vorsichtig. Diese Mahnung ist freilich seit langem anerkannt, zumal im Strafprozess, für den das Prinzip der Unschuldsvermutung wirklich nicht neu ist. Zweitens ist es nur deshalb sinnvoll, jemanden unter Hinweis auf einen speziellen Tumor (oder auf Störungen im Hirnstoffwechsel) zu entschuldigen, weil andere Tumore keine Entschuldigungskraft haben und viele Menschen – so darf man hoffen – auch nicht unter einer anderen die Schuldfähigkeit mindernden Krankheit leiden. Die angedeuteten Phänomene fehlender oder verminderter Handlungsfreiheit sind jedenfalls unstrittig.

Zweites Zwischenergebnis: Beides, die grundsätzlichen Grenzen von Willensfreiheit und Fehlurteile über ihr konkretes Vorliegen, ist unbestritten. Zu klären bleibt nur, ob es keinerlei Willensfreiheit gibt, »keine Freiheit nirgends«: Ist jeder, der sich bestechen lässt, der Steuern hinterzieht oder als Pfleger einen Patienten tötet, notwendigerweise schuldunfähig? Die Alternative: Während ein krankes Gehirn je nach Krankheit unfrei macht, ist das gesunde Gehirn nicht die einzige, aber eine wichtige organische Voraussetzung von Freiheit und Verantwortung.

Ein exemplarisches Experiment

Eine dritte Überlegung richtet sich auf die Tragweite des oft als exemplarisch angesehenen Libet-Experiments. Dabei ist in die Debatte um Kausalität und Willensfreiheit einzutreten. Kant bleibt hier schon deshalb der maßgebliche Denker, weil er sich mit beiden auseinandersetzt, mit dem Lieblingsgegner vieler Hirnforscher, René Descartes, und mit dem für einen Großteil heutiger Philosophie des Geistes paradigmatischen David Hume. So bleibt das erste Argument zur Kausalitätsfrage gültig, das Kant dem Empiristen Hume entgegenhält: Eine beobachtbare Veränderung ist nur unter Voraussetzung von vier nicht beobachtbaren Dingen objektiv erkennbar. Wer am Beispiel des Libet-Experiments das Ereignis, dass jemand seine Hand hebt, zu einem nicht reflexhaften, sondern wissentlich-willentlichen Verhalten erklärt, behauptet erstens einen zeitlichen Sachverhalt: »erst Aufbau des Bereitschaftspotenzials, danach Willensruck«. Zweitens erklärt er deren Nichtumkehrbarkeit: Auch gelegentlich findet nicht zuerst der Willensruck, danach der Aufbau des Bereitschaftspotenzials statt. Zum Zweck der Nichtumkehrbarkeit setzt er drittens ein Deswegen, mithin Kausalität voraus: Der Willensruck findet nur statt, weil zuvor ein Bereitschaftspotenzial aufgebaut wurde. Das Weil folgt aber nicht schon aus dem Zuvor, vielmehr braucht es viertens eine (nicht notwendig schon bekannte) Verknüpfungsregel. Sie erklärt den Aufbau des Potenzials zu einem gegenüber dem Willensruck nicht zufälligen, sondern der Verlaufsrichtung nach notwendigen Davor.

Eine aufgeklärte Freiheitsphilosophie ist daher – drittes Zwischenergebnis –über den Libet-Versuch nicht sonderlich überrascht: Um den Willensruck als ein objektives Ereignis zu erkennen, muss man ein vorangehendes Ereignis annehmen und als das in der Verlaufsrichtung notwendige Davor behaupten. (Auch für die nichtlinearen Modelle findet sich bei Kant ein transzendentales Naturgesetz, die Dritte Analogie, der Grundsatz der Wechselwirkung: Kritik der reinen Vernunft, B 256 ff.).

Weitere Argumentationsschritte runden die Aufklärung über Aufklärung ab. Sie zeigen, dass das, was als eine empirische Widerlegung der Willensfreiheit auftritt, in Wahrheit eine obsolete, alle Kausalität auf die Naturkausalität verkürzende Metaphysik ist. Die Gegenannahme einer Kausalität durch Freiheit setzt, wie schon gesagt, keinen Indeterminismus voraus, der das Wollen für »letztinstanzlich und unverursacht« hält. Ebenso wenig nimmt sie von der betreffenden Person an, sie hätte unter identischen inneren und äußeren Bedingungen auch anders handeln können.

Häufig nimmt man an, die Willensfreiheit bestehe in Indetermination, und man befürchtet, bei einer wirklichen Willensfreiheit würden sich Menschen noch häufiger unkalkulierbar verhalten. Tatsächlich findet sich ein Argument mehr, warum eine aufgeklärte Freiheitsphilosophie auch Hirnforscher sollte überzeugen können: Verantwortliche Urheberschaft. In Wahrheit besteht sie in der Bindung des Willens an Gründe. Bei im Weiteren technischen Gründen (»gut für etwas«) stehen sie für eine technische Freiheit, bei pragmatischen Gründen (»gut für jemanden«) für eine pragmatische und bei moralischen, zum Beispiel Gerechtigkeitsgründen, für eine moralische Freiheit. Willensfreiheit im strengen Sinn, die moralische Freiheit, besteht also in der Bindung des Willens an eine ausgezeichnete Art von Gründen. Schlagen sich die Gründe in Charaktergrundsätzen nieder, so können willensfreie Menschen in der relevanten Hinsicht nicht anders handeln; sie sind insofern vorhersehbar: Ein Achill ist stets tapfer; ein Sokrates betrügt nie; der Freund in Schillers »Bürgschaft« kann nicht anders, als Damon die Treue zu halten; und Mutter Teresa wollte nichts anderes tun, als den Notleidenden in Kalkutta zu helfen. Aus Vorhersehbarkeit folgt aber nicht Unfreiheit.

Schon von ihrem Thema, der Raum-Zeit-Architektur des Gehirns, befasst sich die Hirnforschung nicht mit dem für die Willensfreiheit entscheidenden Gegenstand, den praktischen Gründen. Daraus folgt ein weiteres Zwischenergebnis: Weil derjenige, der sich auf den Umkreis möglicher Naturerfahrung beschränkt, die Willensfreiheit schon im Ansatz ausblendet, darf er sich nicht wundern, dass er sie im Fortgang seiner Arbeit nicht entdeckt. Auch den Hirnforschern empfiehlt sich, bei ihren Leisten zu bleiben, also ihre Beobachtungen beobachtungsgerecht zu deuten, statt Deutungen vorzunehmen, die durch (weithin) unstrittige Beobachtungen nicht unstrittig gedeckt sind.

Wer aus naturalen Gegebenheiten auf die Nichtexistenz der Freiheit schließt, erliegt einem naturalistischen Fehlschluss. Der Wille ist nicht deshalb frei, weil er die Naturkausalität außer Kraft setzt. Er ist vielmehr frei, weil oder, vorsichtiger, sofern er trotz einer Naturkausalität erstens über die Fähigkeit verfügt, nach anerkannten und angeeigneten Gründen, also in praktischer Reflexivität, statt bloß nach äußeren oder inneren Zwängen zu handeln (bescheidene Willensfreiheit), und weil oder sofern er zweitens diese Fähigkeit auf moralische Gründe auszuweiten vermag (volle Willensfreiheit).

Geradezu offensichtlich findet man die Freiheit gegeben, wenn man sich einer Frage stellt, die die Hirnforscher bei ihren Deutungsansprüchen auszublenden pflegen: Inwieweit sind Versuchsleiter und Versuchsperson frei? Überwindet man den üblichen »blinden Fleck«, so findet man von den Stufen der Urheberschaft und der praktischen Gründe erstaunlich viele wieder.

Beginnen wir mit den Versuchspersonen. Diese nehmen erstens in der Regel freiwillig teil, sind insofern freie Urheber. Zweitens sind sie fähig, gemäß der Erläuterung des Versuchsplanes zu handeln. Vielleicht versprechen sie sich drittens etwas für ihr Wohl; beispielsweise fühlen sie sich geehrt oder brauchen als Psychologiestudierende den Versuch für ihr Studium, eventuell werden sie auch bezahlt. Nicht zuletzt wird auf ihre Ehrlichkeit vertraut, auch wenn man glaubt, eine gelegentliche Unehrlichkeit methodisch eliminieren zu können.

Der Versuchsleiter wiederum ist schon insofern frei, als er jener bewusste Urheber der Handlung ist, der sich alternative Möglichkeiten überlegt, unter ihnen auswählt und die für die Planung ordnungsgemäße Durchführung kontrolliert. Spätestens die Kollegen, die den Versuch überprüfen, machen den Versuchleiter für alle drei Hauptstufen von Freiheit verantwortlich: Im technischen Sinn prüfen sie die in Aussicht genommenen Alternativen und die schließliche Auswahl, nicht zuletzt die Deutung des Versuchs; dabei können sie auf professionelle Kunstfehler stoßen. Im pragmatischen Sinn bewerten sie die Versuche nach Gesichtspunkten wie Originalität und Erklärungskraft und verleihen nach deren Maßgabe wissenschaftliches Prestige und Preise. Im moralischen Sinn fragen sie, ob die Daten gefälscht sind oder geistiger Diebstahl (Plagiat) vorliegt. Nicht zuletzt fragen sie, wie es schon bei gutachterlichen Stellungnahmen für Stiftungen der Wissenschaft heißt: ob es mögliche Konflikte mit rechtsverbindlichen Grundsätzen der Wissenschaftsethik gibt.

Werden technische, pragmatische oder moralische Anforderungen verletzt, so mag sich mancher zwar lieber für nicht schuldfähig erklären. Die positive Leistung dagegen – das ist »mein Experiment« beziehungsweise »meine Veröffentlichung« – schreibt man sich lieber selber zugute. Man beansprucht eine Leistung, vielleicht sogar eine Glanzleistung, für die man dann Prestige und wissenschaftliche Preise zunächst als verdient erwartet und schließlich entgegennimmt.

Weitere Einwände

Seit ihrer Frühzeit, besonders nachdrücklich in Kants transzendentaler Erkenntnistheorie, lehrt die Philosophie, dass sich schon die optischen, akustischen, haptischen und anderen Alltagswahrnehmungen dem Zusammenspiel zweier Faktoren verdanken: der Aufnahme von Sinnesreizen und deren Verarbeitung durch den Verstand. Erst aus diesem Zusammenspiel entsteht etwas als etwas, beispielsweise das im Garten lärmende Wollknäuel als ein Hund, der bellt.

Selbst für das bloße Wollknäuel und das pure Lärmen werden gewisse Sinnesreize »als« etwas, hier als Wollknäuel und als Bellen, gedeutet. Auch der Hirnforscher »sieht« nicht Zellen oder Schaltstellen. Noch weniger ist das in der Schädelkappe gelegene Nervensystem, das Gehirn, dazu imstande. Es vermag nicht, was der Buchtitel eines Hirnforschers nahe legt: Aus Sicht des Gehirns (Gerhard Roth 2003), über Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Gefühle gewisse Ansichten zu haben. Nicht das Gehirn hat eine gewisse Sicht, sondern lediglich der Hirnforscher. Und dieser interpretiert: ständig und mit zunehmendem Abstand von dem, was er beobachtet. Angefangen mit der Deutung gewisser Sinnesreize als Zellen oder Schaltstellen, steigt er über viele Zwischenstufen auf zu einer hirnphysiologischen Theorie des Gehirns, die die gesamten menschlichen Aktivitäten, einschließlich Denken und Freiheitserfahrungen, neuronal zu verstehen sucht. Wegen dieser vielstufigen Interpretation braucht es die genannte Einschränkung, dass man dem Gehirn »nur gewissermaßen« beim Denken oder Fühlen zusieht.

Daran schließt sich ein Einwand an, der in Aristoteles’ Hinweis steckt, »nicht die Seele ist zornig oder bedrückt oder denkt, so wenig wie sie webt oder ein Haus baut, sondern besser ist zu sagen, der Mensch tue dies kraft seiner Seele« (De anima I 4, 408 b: 13 ff.). Hier wird die Seele weder als ein geheimnisvolles Etwas noch als Gegenüber des Leibes, sondern als Inbegriff von dessen Antriebskräften gedacht. In der Tat tut der Mensch, was er tut, kraft seines Gehirns. Aus dem Umstand, dass alle Bewegungen des Leibes lückenlos hirngesteuert und dass alle bewussten, geistigen Aktivitäten an neuronale Aktivitäten des Gehirns gebunden sind, folgt aber nicht, die Aktivitäten seien nichts anderes als ein Bündel neuronaler Erregungszustände, so dass das Gehirn denke, fühle, entscheide und handle. In Wahrheit denkt der Mensch zwar »mit« seinem Zentralorgan, er agiert »mit« dem Gehirn, aber nicht denkt oder agiert das Gehirn statt des Menschen.

Noch wichtiger ist, dass der Gegenstand der Experimente schwerlich als einschlägig gelten darf. Der Libet-Versuch ist ein klassischer Reiz-Reaktionsversuch. Auf einen inneren Reiz, den Drang, eine Hand zu bewegen, wurde der Versuchsperson freigestellt, den »gefühlten« Drang auch nicht auszuführen. Dabei geht es nicht um eine echte freie oder unfreie Entscheidung, sondern um eine als Instruktion vorgegebene Minimalreaktion, um eine atomare Handlung, die für die Frage der Willensfreiheit unzureichend, streng genommen sogar unerheblich ist. Eine schlichte Urheberschaft lässt sich mit atomaren Handlungen belegen; um die anspruchsvolle Urheberschaft der Willensfreiheit entweder zu belegen oder aber zu widerlegen, genügen sie nicht. Entsprechendes gilt für Singers (2004) Wahrnehmungsexperimente. Die moralisch belangvollen Hirnprozesse, die etwa zu einem Lügen, Betrügen oder Stehlen, die zu einem Besonnensein, Helfen oder Verzeihen, selbst die zu einem Drohen oder Beschwichtigen gehörenden neuronalen Abläufe sind zeitlich gesehen keine Kurzstrecken, sondern Mittelstrecken, oft sogar Langstrecken, genauer sogar Langzeiträume.

Dank ihrer Intelligenz so gut wie nie an den »Pflock des Augenblicks« angebunden (Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1), leben die Menschen gleichermaßen und oft zugleich aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Ihr Handeln besteht aus einer komplexen Verkettung von kurz- und mittel-, gelegentlich auch langfristigen Zielen, die im Licht von Leitgesichtspunkten wie Glück und Moral gegeneinander abgewogen werden und zu denen sie die geeigneten Mittel im Blick auf Gelegenheiten und Ressourcen, aber auch auf Hindernisse und Widerstände überlegen. Und um ganz im Augenblick aufzugehen, bedarf es meist einer außergewöhnlichen Leistung, einer höchsten Konzentration.

Die für Freiheit und Moral entscheidenden Handlungen sind nicht bloß neuronal betrachtet Langzeiträume. Sie müssen auch noch in einer (moral-)erheblichen Hinsicht interpretiert werden. Uninterpretiert liegt nur eine moralisch indifferente Grundhandlung vor, beispielsweise nimmt jemand eine Sache an sich. Die moralerhebliche Handlung entscheidet sich erst an der Frage, wem die Sache gehört und ob der Eigentümer dem An-sich-Nehmen zustimmt. Wenn er nicht zustimmt, findet ein Stehlen, wenn doch, findet anderes statt.

Zurück zum Überlegen: Den dafür erforderlichen Komplex von Fähigkeiten und Fertigkeiten muss man lernen. Es geschieht aber weniger auf die Art, wie man Musik- oder Kunstgeschichte als wie man ein Musikinstrument oder das Malen lernt: durch Vor- und Nachmachen, durch Einüben, Einarbeiten und Verfeinern, bis man schließlich wohl abgewogen und umsichtig zu handeln vermag. Indem atomare Handlungen von all dem absehen, sowohl vom zeitlich gestreckten und sachlich komplexen Handlungsraum als auch von den Gründen, die den Handlungsraum zu ordnen und zu gestalten helfen, nicht zuletzt vom zugehörigen Können, nehmen sie die im erheblichen Sinn freie Handlung gar nicht in den Blick.

Diese Einwände wollen die Leistungen der Hirnforschung nicht verkleinern, schon gar nicht leugnen. Zusätzlich zu ihren Erkenntnissen verspricht die Forschung einen humanitären Wert: einen Beitrag zur Diagnose und indirekt zur Therapie von Krankheiten. Beispielsweise hilft sie, die Ursachen für krankhafte Fehlwahrnehmungen oder für Halluzinationen zu erkennen, und dank der Zuordnung zu wohl bestimmten Gehirnarealen beziehungsweise Nervenpopulationen ermöglicht sie (minimal-)invasive Eingriffe. Die für die moralische Freiheit wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale, die nichtpathologischen Haltungen wie Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit, Courage oder Feigheit, Rechtschaffenheit und Großzügigkeit, sind aber Gegenstände, die sich in längeren Zeiträumen entwickeln, die Ordnung in ein ganzes Leben bringen und weder in den Libet- noch in den Singer-Experimenten noch in anderen bislang bekannten Versuchen auch nur am Horizont auftauchen.

Nach Roth ist es durchaus nützlich, »bei wichtigen Dingen Verstand und Vernunft walten zu lassen. Beide entscheiden jedoch nichts; sie fungieren für das emotionale handlungssteuernde System als ›Ratgeber‹« (2003: 553). Der Autor der exemplarischen Versuche, Libet (2004), räumt dagegen dem Bewusstsein eine Veto-Möglichkeit ein. Der freie Wille vermöge eine Willenshandlung zwar nicht einzuleiten, wohl aber sie zu kontrollieren, beispielsweise das Fortschreiten des Willensprozesses zur schließlichen Bewegung aufzuhalten, sogar zu verhindern. Der Freiheit obliege also nicht die Initiative, wohl aber die Möglichkeit der Auswahl, der Steuerung und des Vetos. Dass beide, Libet und Roth, die einschlägigen Experimente kennen dürften, trotzdem deren Tragweite unterschiedlich einschätzen, bekräftigt den Grundvorbehalt: Die Hirnforscher können nur weniges direkt zeigen; weit mehr verdanken sie der Interpretation, und diese fällt gravierend unterschiedlich aus.

Wie begegnet man der Situation konkurrierender Deutungen? Zwei Strategien liegen auf der Hand. Entweder man überprüft die Interpretationen oder man lässt sich auf eine Interpretation zweiter Stufe ein. Bei der ersten Strategie ist dem Nicht-Hirnforscher, dem schlichten Philosophen, Vor- und Umsicht geboten. Eine seiner Kompetenzen, die Begriffsklärung, erlaubt aber, hinter Roths Deutung ein Fragezeichen zu setzen, denn sie enthält zwei widersprüchliche Teilthesen: Entweder ist der Wille, wie behauptet, ein Ratgeber, dann ist er kein neutraler Dritter, sondern eine engagierte Instanz, die die Entscheidung zwar nicht tragen, jedoch einen wesentlichen Teil, die vorangehende Überlegung, beeinflussen kann. Oder ihm fehlt jede Einflussmöglichkeit, dann ist er kein Ratgeber, nur ein neutraler Beobachter, der entscheidungsirrelevante Kommentare abgibt.

Die zweite, metainterpretierende Strategie schlägt Libet ein. Er ist zwar keine philosophische Autorität; seine Bindung an eine bestimmte Wissenschaftstheorie, Karl Poppers Falsifikationismus, ist sogar bedenklich. Gleichwohl beeindruckt seine Mahnung zu Vorsicht und Umsicht (2004): »Bei einer Frage, die für unser Selbstverständnis von so grundlegender Bedeutung ist, sollte die Behauptung der illusorischen Natur von Willensfreiheit auf recht direkte Belege gegründet werden. … Es ist töricht, auf der Grundlage einer unbewiesenen Theorie des Determinismus unser Selbstverständnis aufzugeben, dass wir eine gewisse Handlungsfreiheit haben.« Ebenso klug ist der bescheidene, nur epistemische, nicht auch ontologische Dualismus. Libet unterscheidet streng zwischen subjektivem Erleben und objektiver Erfahrung, also zwischen mentaler und physikalischer Welt, und merkt dann bescheiden an: »Die Emergenz [Auftauchen] von bewusster subjektiver Erfahrung aus der Aktivität von Nervenzellen ist immer noch ein Geheimnis.«

Die Grundannahme der neueren Hirnforschung, dass man bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung das Gehirn braucht, ist weder neu noch spektakulär. Auch das freie Handeln hat einen neurophysiologischen Hintergrund. Ebenso wenig kaum spektakulär ist die Einsicht, dass das Gehirn, weil polyzentrisch vernetzt, ohne ein oberstes kognitives Zentrum, einen Dirigenten oder Kapitän, arbeitet, stattdessen sich selbst organisiert. Ebenso wenig erstaunt die Philosophie, dass Geist und Bewusstsein nicht vom Himmel gefallen sind, sondern in der Evolution der Nervensysteme sich allmählich herausgebildet haben. Gegen die nicht seltene Neigung zu einem neurologischen Reduktionismus, gegen die Ansicht, dass zuletzt alles auf eine sich selbst organisierende Synapsentätigkeit hinter dem Rücken des Subjekts hinauslaufe, erinnert sie allerdings an die Bedeutung der kulturellen Evolution und des sozialen Lernens. Sozialwissenschaftlich gesehen ist die Naturgeschichte der menschlichen Person von Beginn an eine Interaktion mit anderen; sie bleibt eine Geschichte der Wechselwirkung mit einer kulturell durchsetzten, koevolutiven Umwelt; und ab einer gewissen Entwicklungsstufe tritt die Auseinandersetzung der Person mit sich selbst ein und erhält zunehmendes Gewicht.

Es überrascht auch nicht, dass sich das Ich »zusammensetzt« aus einem Bündel von genetischen Faktoren, von vorgeburtlichen und von frühkindlichen Erfahrungen sowie von Erfahrungen, die man als Jugendlicher, schließlich als Erwachsener macht. Die hirnphysiologische Erkenntnis, dass den bewussten neuronalen Prozessen unbewusste vorausgehen, gewissermaßen hirninterne Abwägungsprozesse, von denen erst das Ergebnis ins Bewusstsein tritt, so dass man nur vermeintlich alle erheblichen Entscheidungsvariablen bewusst, folglich frei abwägen könne, verlangt lediglich, die Freiheit anders, eben nicht als Indetermination, zu denken. Dieses Anders-Denken war aber längst vorher klar, in dem Augenblick nämlich, da man die Freiheit als Gegensatz nicht zu Determination, sondern zu Zwang begriff. Aus dem Umstand, nicht nur Herr im eigenen Haus zu sein, folgt nicht, man sei lediglich eine unfreie Marionette, ein Sklave.

Aus den tatsächlichen Einsichten der Hirnforschung ergibt sich jedenfalls kein dogmatischer Neurobiologismus, demzufolge Geist und Bewusstsein lediglich als naturhafte Ereignisse sich darstellen und auch die gesellschaftliche Natur des Menschen sich ausschließlich aus seiner biologischen Natur ergibt. Zweifel weckt schon die Kritik, die ein methodisch so überlegter Naturforscher wie Max Planck (1949: 301 f.) gegen analoge Neigungen zum Physikalismus richtete. Einem Physikalismus erliegt der Versuch, das Bewusstsein der Willensfreiheit mit Hilfe von Heisenbergs Unschärferelation zu erklären. Denn wie solle sich – fragt Planck – »die Annahme eines blinden Zufalls mit dem Gefühl der sittlichen Verantwortung zusammenreimen«? In der Tat ist ein weit vorbewusstes Ereignis, der zeitlich nicht genau vorhersehbare Quantensprung eines Elektrons, keine sachgerechte Grundlage für die an Bewusstsein gebundene Freiheit.

Die Alternative zum Physikalismus, eine methodische Zurückhaltung, pflegt beispielsweise ein Elementarteilchenphysiker, der die Eigenschaften chemischer Verbindungen, etwa von Alkoholen, nicht ausschließlich aus den physikalischen Eigenschaften der Elementarteilchen zu erklären versucht. Zumindest als Hypothese ist die Annahme plausibel, dass die Makrophysik eine unbestrittene mikrophysikalische Grundlage, ebenso die Chemie eine makrophysikalische, die Biologie eine chemische und die Psychologie eine biologische Grundlage hat. Durch sie ist aber die jeweils komplexere, »höhere« Ebene unterbestimmt, so dass sie nicht ohne Rest auf die niedere zurückgeführt werden kann.

Der schlichte Dualismus dagegen, die naive Annahme, die geistige Welt des Menschen sei von der dinglichen Welt vollkommen unabhängig und ontologisch rundum verschieden, wird nirgendwo ernsthaft vertreten. Selbst der »Erzdualist« Descartes erliegt ihr nicht. Dieser viel gescholtene Philosoph hält Geist und Körper zwar für unterschiedene Substanzen, die aber in zwei Hinsichten in funktionaler Einheit wirken. Einerseits nimmt Descartes eine Korrelation von Körper und Geist an, die aber von Fall zu Fall empirisch zu bestimmen ist, womit sie für die entsprechende Forschung, auch die neue Hirnforschung, grundsätzlich offen ist. Andererseits sieht er den Geist »als ganzen im ganzen Körper«, sogar »in jedem beliebigen Teil des Körpers« gegenwärtig (Descartes, Meditationes, 1642/1994: 382 f.; gegen Missverständnisse s. Perler 1998: 180 ff.).

So wie makrophysikalische Vorgänge mikrophysikalisch und psychologische Vorgänge biologisch unterbestimmt sind, darf man von der neurophysiologischen Erklärung atomarer Handlungen rein methodisch nicht erwarten, die für komplexe Handlungen zuständige Willensfreiheit eliminieren zu können. Zu Recht geben sich im Manifest (Elger u. a. 2004) elf führende deutsche Neurowissenschaftler weit zurückhaltender. Einschließlich Roth und Singer erklären sie, »dass neuronale Netzwerke als hochdynamische, nicht-lineare Systeme« zwar »einfachen Naturgesetzen gehorchen, aufgrund ihrer Komplexität« aber »völlig neue Eigenschaften« hervorbringen.

Von ihren drei Gegenstandsebenen »versteht« die Hirnforschung immer genauer sowohl die obere Ebene, die Funktion der größeren Hirnareale, als auch die Vorgänge auf der unteren Ebene, dem Niveau einzelner Zellen. Dank der Computerentwicklung und den bildgebenden Verfahren vermag sie auch, ihre Messdaten mediengerecht darzustellen. Das Geschehen auf der mittleren Ebene ist ihr dagegen weithin verschlossen. Die bescheidene Einschätzung des Manifests darf daher als weiteres Zwischenergebnis gelten: »Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das Gehirn das innere Tun als ›seine‹ Tätigkeit erlebt und wie es zukünftige Aktionen plant, all das verstehen wir nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.«

Die Philosophie setzt noch eins drauf und stellt eine ebenso grundlegende wie unübersteigbare ontologische Heterogenität fest. Die zur Willensfreiheit gehörenden Gründe sind ihrer Seinsart Vorstellungen im Bewusstsein und gehören in die Sprache einer Philosophie des Geistes, nicht der Hirnforschung. Für diese mögen sie zwar die Funktion von inneren Ursachen haben, die, um handlungswirksam zu werden, neuromotorische Ursachen bewirken. Für die Freiheit sind aber nicht etwaige neuronale Korrelate entscheidend, sondern die Gründe selbst. Diese sind ontologisch gesehen aber nicht neuronale Zustände, sondern intellektuelle Argumente. In Handlungszusammenhängen sind sie zum Beispiel mögliche Antworten auf Fragen, die Rechenschaft fordern. Wer den Unterschied übersieht und Begriffe, die wie »Gründe« aus der Sprache des Geistes stammen, in die Rede über das Gehirn einschmuggelt, der begeht einen Kategorienfehler, wer den Unterschied bewusst unterschlägt, einen intellektuellen Betrug.

* Gastvortrag beim II. Außerordentlichen Internationalen Philosophiekongress in San Juan, Argentinien, 9.–12. Juli 2007

 

Zitierte Literatur:

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Damasio, Antonio (1999): The feeling of what happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, San Diego: Harcourt

Elger, C. E./Friederici, A. D./Koch, C./Luhmann, H./von der Malsburg, C./Menzel, R./Monyer, H./Rösler, F./Roth, G./Scheich, H./Singer, W. (2004): »Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung«, in: Gehirn und Geist, Heft 6

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In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007