Helmut Forster-Latsch/ Maryse Quézel

»... Frankreich setzt seine Werte in Klammern«

Maghreb-Migranten, französische Karrieren und westliche Ängste – ein Gespräch mit Tahar Ben Jelloun

Für jeden Schriftsteller scheint es dem französischen Sinologen Rogers Darrobers zufolge eine fundamentale Erfahrung zu geben, die das Ganze seines Werkes rechtfertigt. Wenn dem so ist, dann sind dies für den am 1. Dezember 1944 im marokkanischen Fes geborenen und später in Tanger aufgewachsenen Tahar Ben Jelloun die Erfahrungen unter der Diktatur in Marokko – als Teilnehmer an studentischen Demonstrationen 1965 war er über zwei Jahre lang im Gefängnis – und der Emigration. Bis heute schreibt er auf Französisch, »eine Frage des historischen Zufalls«. In Paris studierte er Sozialpsychiatrie, publizierte neben Lyrik vor allem Prosa und immer wieder auch politisch-soziologische Schriften, etwa über Rassismus in Frankreich. Tahar Ben Jelloun ist heute der wohl bekannteste der auf Französisch schreibenden Schriftsteller aus dem Maghreb, mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet. Seine Werke sind in über 40 Sprachen übersetzt.

Tahar Ben Jelloun schreibt regelmäßig für große französische, italienische und marokkanische Zeitungen, mischt sich ins politische Alltagsleben, besonders in Emigranten betreffende Fragen ein, aber nicht nur. Für Jugendliche schrieb er Papa, was ist der Islam?, 2002, und Papa, was ist ein Fremder?, 1999. Für seine Leistungen im Dialog mit dem Islam wurde er ebenfalls ausgezeichnet.

Seine zuletzt auf Deutsch erschienenen Bücher sind Der letzte Freund, Berlin 2004, der 2006 erschienene Roman Verlassen und im Frühjahr 2007 Die Früchte der Wut über die Probleme junger Beurs, in Frankreich aufwachsender Kinder nordafrikanischer Immigranten. Im Herbst wird auf Deutsch Yemma erscheinen, das den langsamen Tod seiner an Alzheimer leidenden Mutter schildert.

Tahar Ben Jelloun ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Paris und Tanger. Das Gespräch fand am 21. Juni 2007 in seiner Büro-Wohnung am Boulevard Saint-Germain statt. Übersetzt wurde es von Gisela Schneckmann und Maryse Quézel unter Mitarbeit von Helmut Forster-Latsch.

 

Herr Ben Jelloun, wie sehen Sie die Situation in Frankreich nach dem Sieg Sarkozys und den Konservativen? Wird Frankreich, wie manche meinen, eine Art konstitutionelle Monarchie und Sarkozy ein populistischer Monarch?

Tahar Ben Jelloun: Nein, ich würde eher sagen, er ist wie ein Sänger, der eine Million Schallplatten verkauft hat und dem man nun eine Medaille gibt, wie ein Kind, das viele Geschenke bekommen hat und jetzt sehr zufrieden ist; oder wie ein Arbeiter, der mehrere Millionen Euro im Lotto gewonnen hat. Er hat noch nicht begriffen, was Präsident der Republik zu sein bedeutet, er glaubt, alles drehe sich um ihn. Um es politischer zu fassen: Die Wahl von Sarkozy entspricht der Entwicklung einer bestimmten Mentalität, einer französischen, und ich würde sogar sagen, einer europäischen, die gerade dabei ist, sich in eine konservative und rechte Richtung zu bewegen, denn die Europäer im Allgemeinen sind im Moment eher glückliche Völker, die ein gutes Leben haben. Natürlich gibt es unglückliche Menschen und Arbeitslosigkeit, aber die Mehrheit, die überwältigende Mehrheit, sagen wir 85 Prozent, lebt in Frieden, nicht im Krieg, sie konsumiert viel, folglich wollen die Menschen dies bewahren, zwangsläufig gehen sie deshalb immer weiter nach rechts. Sie haben die vielleicht reagansche oder thatchersche Idee akzeptiert, den Armen bleibe nichts anderes übrig als zu krepieren, das kümmert sie gar nicht. Sarkozy scheint nun in dieser Bewegung angekommen zu sein, überall sieht man diese Art Rückzug auf sich selbst, diesen triumphierenden Egoismus. Es ähnelt ein wenig dem, was in Italien mit Berlusconi passiert ist, auch Prodi wirkt nicht sehr stabil, und bei den letzten Wahlen in Spanien ging es mit Zapatero gerade noch einmal gut.

Es gibt in Europa eine allgemeine Tendenz zu einer Art Befreiung vom Schuldgefühl hinsichtlich der Rechte der Armen, der Rechte der mittellosen Menschen, folglich tut man alles dafür, damit diejenigen, die schon gut situiert sind, noch mehr bekommen.

In einem Artikel vom Mai dieses Jahres haben Sie Sarkozy vorgeworfen, er führe in Bezug auf Ausländer und Immigranten den Diskurs der Rechten und betreibe eine Banalisierung des rassistischen Diskurses. Wie meinen Sie das?

Sarkozy ist überhaupt nicht rassistisch, das ist es nicht, aber ich glaube, dass der Front National, Le Pen, die Menschen, die nicht wagten, ihren Hass auf Ausländer einzugestehen, von ihren Schuldgefühlen befreit hat, er ist dadurch zu etwas immer Banalerem geworden. Natürlich gibt es Gesetze, die Rassenhass unter Strafe stellen, aber sie sind klug genug, um nicht in direkte Diffamierungen zu verfallen. Ein Arbeitgeber wird zum Beispiel versuchen, einen Araber oder Schwarzen, selbst wenn er Franzose ist, nicht einzustellen. Er wird ihm nicht sagen: ich stelle dich nicht ein, weil du schwarz bist, er wird sagen, die Stelle ist schon vergeben. Genauso ist das bei Wohnungsvermietungen, der Vermieter wird sagen: Ah ja, die ist schon vergeben, tut mir leid. Er wird sehr höflich sein, aber im Grunde weiß er, dass die Leute im Haus protestieren werden, wenn zu viele Araber oder Schwarze einziehen.

Ségolène Royal hatte im Falle der Wahl Sarkozys gedroht, es werde zu Aufständen in den Vorstädten kommen. Drückt das nicht die ganze Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit der französischen Sozialisten aus?

Jedenfalls ist die Situation in den Vororten nicht allein Angelegenheit der Rechten, sondern ebenso der Linken. Seit 1981 hat die Linke praktisch nichts gemacht für die jungen Franzosen mit Immigrationshintergrund, sie haben rein gar nichts gemacht! Sie haben die Situation immer schlechter werden lassen, vielleicht nicht absichtlich, aber sie sind sich nicht über den Ernst der Lage klar gewesen. Die Rechte hat das geschafft, sie hat mit Repression geantwortet, nicht mit Erziehung oder Prävention. Wenn man also in einer Region ist, die zur Arbeitslosigkeit oder zur Delinquenz verurteilt ist, dann gibt es notgedrungen Gewalt.

Vor einem Monat war ich mit einem italienischen Fernsehteam unterwegs, gefilmt wurde in Clichy sur Bois und in Montfermeil, die beiden Städte, von denen die Unruhen 2005 ausgegangen sind. Es war Nacht, wir wurden von Jugendlichen angegriffen, die uns Material gestohlen und den Kameramann geschlagen haben, sie wollten das Auto plündern, es war schrecklich. Ich will ganz einfach sagen, dass diese Situation explosiv ist, ob unter der Rechten oder der Linken. Den Rechten ist das egal. Wir waren danach auf der Polizei, etwa 100 Meter vom Ort des Angriffs entfernt; sie sagten uns, sie gingen dort nicht hin, das heißt, sie sind dabei, Inseln des Nicht-Rechts zu schaffen. Wenn man also angegriffen wird, könnte das sehr, sehr ernst werden; diese hier waren nicht bewaffnet, hätten sie zum Beispiel Eisenstangen gehabt, hätten sie jemanden töten können. Der Angriff war sehr heftig, und ich glaube nicht, dass Sarkozy oder Ségolène so etwas kennen, sie haben keine Ahnung von solchen Dingen. Merkwürdigerweise nehme ich es diesen Rowdys nicht übel. Ich denke, es gibt eine bestimmte Situation, die solche Dinge provoziert und Bedingungen, die 30 Jahre lang geschaffen worden sind. Es gibt Viertel, die der Staat verlassen hat, und das ist sehr, sehr ernst, weil eines Tages die Franzosen erwachen werden, umgeben von einem Gürtel von Kriminellen, und das einfach deshalb, weil dort unten die Arbeitslosigkeit 45 Prozent beträgt, während der Durchschnitt bei 9 Prozent liegt.

In Ihrem Roman Die Früchte der Wut überlegt die Hauptperson: »Wo ist meine HEIMAT? Ist es die meines Vaters? Die meiner Kindheit? Habe ich ein Anrecht auf ein Vaterland? Manchmal ziehe ich meinen Ausweis hervor – nein, hier in Frankreich heißt das ›nationaler Personalausweis‹. Oben steht in Großbuchstaben REPUBLIQUE FRANCAISE. Ich bin eine Tochter dieser Republik. Name, Vorname(n), Geburtsdatum, Geburtsort, Größe, besondere Kennzeichen, Wohnort, ausgestellt am, von, Unterschrift des Inhabers. Besondere Kennzeichen: keine. Sie haben nichts angeführt. Heißt das, dass ich nichts bin? Nicht einmal eine ›Aufständische‹ oder eine ›zornige Beur‹?« (beur = in Frankreich geborene Nordafrikaner/in, Anm. d. Ü.)

Aber das Problem existiert natürlich weiter, außer dass jetzt die Jungen Anspruch erheben auf ihre französische Identität. Sie sind Franzosen, aber Franzosen zweiter Kategorie, zweiter Wahl. Das ist das gleiche Problem wie bei den jungen Türken in Deutschland.

Ich kenne zahlreiche Marokkaner, die aus der Region von Tanger kommen und jetzt in Deutschland leben. Ein Freund von mir arbeitet seit 35 Jahren in Deutschland, seine Kinder sind alle deutsch, er ist mit einer Deutschen verheiratet, er selbst ist Marokkaner. Er erzählte mir, er sei jedes Mal sehr erstaunt darüber, wenn seine Kinder nach Marokko kommen und sie sich wie Deutsche betragen. Sie kritisieren vieles, sie fühlen sich von Marokko nicht betroffen. Er meinte: »Das ist überhaupt nicht mehr ihr Land, Deutschland aber schon.« Im Gegensatz dazu sind die Kinder von Einwanderern aus dem Maghreb hier in Frankreich, wenn sie nach Marokko kommen, vor allem an ihrem Land interessiert. Ich glaube, die Integration vollzieht sich in Deutschland vielleicht direkter als in Frankreich. Gleichzeitig hat Deutschland nicht die gleiche koloniale Vergangenheit wie Frankreich.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang Mme. Rachida Dita, die marokkanischen Ursprungs ist und von Sarkozy in sein Kabinett als Justizministerin aufgenommen worden ist?

Das ist ein besonderer Fall, weil Rachida, die ich sehr gut kenne und die eine Freundin ist, immer eine Kämpferin gewesen ist, ein wenig wie ich. Aber zu der Zeit, als ich Die Früchte der Wut geschrieben habe, kannte ich sie noch nicht, ich habe sie erst Jahre später kennen gelernt. Sie ist eine Frau, die beschlossen hat, sich nicht von anderen erniedrigen zu lassen, das ist ihr Temperament; sie ist eine Frau, die sehr schnell begriffen hat, dass sie nichts bekommen wird, wenn sie nicht kämpft. Ich glaube, sie ist eine außerordentliche Persönlichkeit, die anderen sicherlich den Weg öffnen wird.

Was wirklich bemerkenswert ist, das ist die Intelligenz von Sarkozy; er tut Dinge, die die Linke hätte machen müssen, die sie aber niemals gemacht hat, niemals. Deshalb ist es auch erwiesen, dass unter den jungen Franzosen mit Immigrationshintergrund einige für Sarkozy gestimmt haben, die genauen Zahlen kenne ich nicht. Mitterand hatte in seinem Programm geplant, den Immigranten das kommunale Wahlrecht zu geben: nichts. Jospin sagte das Gleiche, auch er hat nichts gemacht. Die Linke ist in diesem Land deshalb für viele Probleme bei der Immigration verantwortlich.

Offensichtlich scheint für Sie auf Frau Rachida Dita der Vorwurf des Verrats nicht zuzutreffen, den Sie gegenüber einigen Intellektuellen und Politikern erhoben haben, die Sarkozy unterstützen, etwa Glucksmann ...

Ich dachte dabei nicht an Glucksmann, denn er ist immer für den Krieg im Irak gewesen, er hat den Islam einzig und allein unter dem karikaturistischen Aspekt des Terrorismus gesehen, dabei ist nicht der Islam terroristisch, sondern es gibt Menschen, die es sind. Für mich ist es völlig normal, dass Glucksmann mit Sarkozy übereinstimmt ...

... Und Kouchner? Hat er Verrat begangen?

Kouchner hat für mich auch keinen Verrat begangen, er ähnelt Sarkozy sehr, weil er um jeden Preis vorankommen will, und gleichzeitig hat es die Sozialistische Partei nicht verstanden, ihn zu halten, folglich ist dies eine Abrechnung zwischen ihm und der Partei. Außerdem ist er 67 Jahre alt, im Jahre 2012 wird er 72 sein, da wird man ihm wahrscheinlich nichts mehr anbieten, für ihn geht seine Karriere damit zu Ende. Mich stört es nicht, dass er Außenminister ist, darum geht es gar nicht.

Für mich ist das Schrecklichste dieser Typ, der sich Besson(1) nennt: das ist Verrat im moralischen und politischen Sinne des Wortes. Ich kenne diesen Herrn nicht, aber die Tatsache, eine Partei zu verlassen, sich der gegnerischen anzuschließen und dieser Partei die Geheimnisse der anderen zu verkaufen, das ist reiner Verrat. Verrat, was ist das? Das bedeutet in den Dienst des Gegners zu treten, Informationen weitergeben, genau das hat er gemacht: Er hat Sarkozy über Methoden und Geheimnisse der Kampagne von Ségolène Royal informiert. Das ist widerlich, das ist ein Mensch, den ich überhaupt nicht als anständigen Menschen betrachten kann. Was mich interessiert, ist, warum Sarkozy einen Verräter in seiner Mannschaft akzeptiert. Ich würde sagen, Le Pen hat den Rassismus banalisiert und Sarkozy hat den Verrat banalisiert, er hat sogar den Verrat zu einer Methode gemacht, um an die Macht zu kommen. Das wäre interessant für eine politische Analyse, wie heutzutage die Werte, für die Frankreich gekämpft hat, gerade dabei sind, in Klammern gesetzt zu werden.

Führt eine multikulturelle Gesellschaft nicht zur weiteren Separierung, zu weiteren Mauern? Pascal Bruckner zufolge beruht der Multikulturalismus auf dem Relativismus: »Für den Multikulturalismus verfügt jede menschliche Gruppe über eine Einzigartigkeit und Legitimität, die ihr Existenzrecht begründen und ihr Verhältnis zu den anderen definieren. Die Kriterien von Recht und Unrecht, von Verbrechen und Barbarei treten zurück vor dem absoluten Kriterium des Respekts vor dem Anderen. Es gibt keine ewige Wahrheit mehr, der Glaube an sie entspringt einem naiven Ethnozentrismus.« Sehen sie den Multikulturalismus auch als gescheitert, als ein Konzept von gestern an?

Bruckner, Glucksmann – all diese Leute haben Angst um den Westen, sie treten für einen Westen ein, der »rein« sein soll, und das gibt es nicht. Heute ist es nicht einmal mehr nötig, über Multikulturalismus zu diskutieren, denn er existiert, er ist eine Realität, ob man will oder nicht. Das ist, als wolle man einen dahinströmenden Fluss anhalten, man kann also sagen, gut, sehr gut, natürlich gibt es universelle Werte, die für alle und auf der ganzen Welt gelten: Die Wahrung der Rechte des Menschen ist für mich weder ein westlicher noch ein östlicher Wert, es ist ein allgemein gültiger Wert. Genauso verhält es sich mit dem Recht auf Verschiedenheit, auf die Vielfalt der Meinungen, auch hier das Gleiche, es gilt universell. Erst dann kommen die Traditionen, die Gebräuche, die einer bestimmten Kultur eigenen Riten; doch diese Riten und Traditionen kann man nicht beurteilen, man kann kein Werturteil über sie fällen, denn es ist wichtig zu sehen, wie die Wirklichkeit sich schafft. Heute sind wir Träger von Werten, die wir von der französischen Revolution geerbt haben, ich von Werten, die mir meine Eltern vom Islam inspiriert beigebracht haben, allerdings von einem Islam, der nichts gemein hat mit dem, was man hier von ihm behauptet. Ich bin laizistisch, und doch hat mein Vater mir schon als ganz kleiner Junge beigebracht, dass der Islam Respekt für den anderen bedeutet, man darf also nicht lügen, nicht stehlen, nichts Böses tun, niemanden töten, so jedenfalls verstehe ich das.

Betrachtet man hier und heute einen jungen Menschen, sei er deutsch, türkisch oder aus dem Maghreb, so laufen durch ihn verschiedene kulturelle Strömungen hindurch. Was ich bedauere und wovon Pascal Bruckner nicht spricht, das ist die kulturelle Verarmung der Welt: warum? Weil wir auf eine Uniformierung hinsteuern, eine Globalisierung des kulturellen Konsums. Heute wird uns zum Beispiel ein einziges Modell von Kino und von Unterhaltungsmusik aufgezwungen, ein einziges Modell von literarischen Bestsellern und so weiter. Das ist wirklich verhängnisvoll und das Gegenteil von multikulturell, es ist die Vorherrschaft einer großen Mittelmäßigkeit. Wenn ich in den USA bin, fühle ich mich verstört, ich gehe in eine Buchhandlung und sehe dort eine unglaublich große Ansammlung von Büchern, übereinander gestapelt wie Massenkonsumgüter; später sehe ich das Gleiche in Frankfurt, in Berlin, in Mailand, in Paris noch nicht, aber das kommt schon noch. Es gibt also eine Vereinheitlichung von Literatur, die keine Literatur ist; es handelt sich hier um etwas anderes, man fabriziert jetzt Bücher, das ist beängstigend, das ist die eigentliche Bedrohung. Nicht die Tatsache, dass man eine bestimmte Fantasievorstellung hat, genährt durch die arabische Kultur, die jüdische, die christliche, die westliche oder die chinesische Kultur. Es ist wunderbar, wenn man sieht, dass sich ein junger Mensch heute auch für das interessiert, was in Tibet, in Marokko oder in Deutschland vor sich geht, genau das fasziniert mich.

Doch sich abzukapseln, zu sagen, wir, wir haben weiße Werte, weil Pascal Bruckner und Glucksmann und Alain Finkielkraut auch eine neue Idee initiiert haben – den Kampf gegen den Rassismus gegenüber den Weißen. Rassismus heißt für mich, gegen alles zu sein; es gibt keinen Rassismus nur gegen Schwarze, meiner Meinung nach wird jemand, der Schwarze nicht leiden kann, auch Juden nicht leiden können, er wird Weiße nicht leiden können. Rassismus ist eine Zurückweisung all dessen, was nicht die eigene Person ist. Es ist lächerlich, ein Kampagne zu führen und plötzlich eine Petition gegen den Rassismus gegen Weiße herauszugeben. Für mich ist ein Rassist ein Rassist, es ist mir egal, welche Farbe derjenige hat, den er verabscheut.

Das Ganze hat ja auch mit dem Problem von Sprache zu tun. Sie benutzen unter anderem den Begriff métissage (Verschmelzung),(2) auf die Zwei- oder Mehrsprachigkeit bezogen: »... beim Schreiben begebe ich mich manchmal auf Irrwege, ganz so als müsse ich das Fundament meiner Zweisprachigkeit festigen. Ich wühle in meiner Gedächtnisgrotte und vermenge lustvoll die Sprachen, nicht etwa, um einen zweisprachigen Text zu verfassen, sondern nur um eine Art gegenseitige Ansteckung zu erreichen. Das ist besser als eine einfache Vermischung, es ist métissage, wie zwei Stoffe, zwei Fragen, die sich in unendlicher Liebe umfangen.« Ist der Begriff eine Art Konkurrenz zur Multikultur, die ja oft auf das Trennende mit hinweist? Ist der Begriff métissage auch auf Gesellschaft anwendbar?

Natürlich, gehen Sie hinaus auf die Straßen von Paris, in die etwas einfacheren Viertel, die Vielfalt der Hautfarben, die man dort sieht, ist wunderschön. Die Vermischung der Rassen findet meiner Meinung nach dann statt, wenn die Menschen heiraten. Wenn man heiratet, macht man Kinder; heiratet ein Pakistaner eine Bretonin, dann gibt es pakistanisch-bretonische Kinder, das ist fantastisch! In Frankreich existiert eine starke Vermischung der Rassen, aber die Leute wollen es nicht sehen. Tatsächlich haben sie Angst, aber es zwingt sie doch niemand, sich zu vermischen, diese Vermischung existiert einfach und sie geschieht durch Verheiratung, denn für mich gibt es keine theoretische Vermischung. Wenn man eine Familie gründen will, in der es verschiedene Hautfarben gibt, dann ist das Rassenmischung (métissage), und die französische Gesellschaft ist schließlich ziemlich gemischt, schon allein durch ihren Anteil von den Antillen, der einen wichtigen Bestandteil darstellt. Hier macht es sich nicht so sehr bemerkbar, doch fährt man nach Martinique, Réunion oder Guadeloupe, sieht man sehr wohl, dass es sich hier um Franzosen handelt; das sind keine Engländer, das sind Franzosen, aber Franzosen mit schwarzer oder brauner Haut. Sie arbeiten hier, das ist eine Realität; es gibt keine reine Gesellschaft, so etwas existiert nicht, Hitler hat so etwas gewollt, man weiß, wie das ausgegangen ist. Reinheit ist eine sehr gefährliche Vorstellung, ich verabscheue diesen Reinheitsbegriff, denn die Menschheit besteht aus Mischungen, sie ist nicht aus einer Reproduktion von sich selbst gemacht, daraus entstehen nur Monster.

Ihr Roman Partir – Verlassen aus dem Jahre 2005, letztes Jahr auf Deutsch erschienen,(3) hat das Drama der Bootsflüchtlinge zum Thema, die von Marokko aus in Richtung Spanien fliehen. Der Roman spielt Mitte der Neunzigerjahre, damals scheinen es vor allem Marokkaner selbst gewesen zu sein, die, wie in Ihrem Roman beschrieben, die Flucht über das Meer gen Spanien oder Frankreich antraten. Ist das heute auch noch so?

Nein, nein, da hat sich viel verändert, insbesondere für die Afrikaner. Gegenwärtig, in diesem Jahr kommen kaum noch Afrikaner nach Tanger, sie fahren zu den Kanarischen Inseln. Von den Marokkanern machen sich nur wenige auf den Weg, denn erstens werden die marokkanische und spanische Küste sehr scharf überwacht, es gibt eine enge Zusammenarbeit zwischen Spanien und Marokko. Das Drama der Boatpeople, die einfach so losgefahren sind, war eine schreckliche Katastrophe für die marokkanischen Familien, denn sie haben dabei nur verloren, gewonnen hat nur die Mafia. Marokko hat also reagiert. Die zweite kleine Veränderung ist, dass sich Marokko gut entwickelt hat: Es gibt jetzt ein bisschen mehr Arbeit als früher, und die Menschen, die arbeiten wollen, haben eine Arbeit gefunden. Es gibt eine große Nachfrage im Bausektor, in Marokko wird viel gebaut und es fehlt an Arbeitskräften, zum Beispiel im Norden. Das Gebiet um Tanger entwickelt sich enorm, denn der König liebt diese Gegend, es hat einen deutlichen Schub gegeben (nicht nur in dieser Region). Ich weiß, dass es zu wenige Bauarbeiter gibt, zu wenige Arbeitskräfte. Also, es gibt Arbeit, ich will nicht sagen, dass es keine Probleme gibt, es gibt junge Leute, die keine Arbeit haben, doch der Roman spielt in den Neunzigerjahren, und das war das Ende von Hassan II., das ein absolut katastrophales Ende war, er hat nämlich das Land völlig im Stich gelassen, er hat nichts für das Land getan. Durch mehrere Attentate und Mordversuche fühlte er sich in seiner Eigenliebe gekränkt und war verbittert. Er liebte dieses Land nicht, er liebte das Volk nicht, er liebte diese Menschen nicht, die mehrmals versucht hatten, ihn zu töten. Er schenkte dem Land keine Beachtung – doch sein Sohn interessiert sich für das Land, überall sieht man Bauarbeiten, Straßen werden gebaut, ausländische Investoren kommen, das Land verändert sich.

Sie haben des Öfteren in den letzen Jahren für die Aufnahme Marokkos in die EU plädiert. Was versprechen Sie sich davon?

Man wird nicht vollständig Teil dessen werden können, doch es gibt viele Affinitäten zwischen Marokko und Europa: Wir sind nur 14 Kilometer von Spanien entfernt, und man könnte eine Möglichkeit für einen Platz für Marokko in der EU finden, ohne dass es eine vollständige Einbindung geben müsste. Ich meine, das wäre sehr gut, für Marokko und für die Europäer. Ich glaube, Marokko, nicht der ganze Maghreb, das wäre ein bisschen schwierig zu verwalten und zu kompliziert, aber Marokko sollte auf jeden Fall die Möglichkeit haben, sein Potenzial in dieses Europa zu tragen, und ich glaube auch, die Europäer haben das verstanden und sind gerade dabei, eine Methode zu ersinnen, die da heißt »alles, außer Institutionen«; das heißt sie wollen dort keine EU-Fahne haben, auch nicht den Euro, kein Parlament und so weiter. Aber auf wirtschaftlichem und auch auf kulturellem Gebiet gäbe es dann eine Präferenz; ich hoffe, dass das eines Tages geschieht.

Ihr Roman Verlassen hat ja zum Thema die Auswanderung und deren Folgen, vor allem auch die psychischen. In Ihrem Roman wird beschrieben, wie die Emigranten von einer »Hölle«, dem damaligen Marokko, in eine andere »Hölle«, dem damaligen Spanien kommen. Ihr Roman ist vielfach verstanden worden als eine Art Manifest gegen jegliche Emigration, wenn ich Kritiken etwa hier in Deutschland richtig verstanden habe.

Ich bin gegen dieses Fortgehen, die Auswanderung ist für ein Land kein Schicksal an sich: das Land muss selbst genug Fortschritte machen. Man kann erst einmal mit der Entwicklung des Tourismus anfangen, aber weggehen, um in fremden Ländern zu arbeiten ... Ich hoffe, eines Tages wird man es schaffen, dass alle bei sich zu Hause bleiben und mit anderen Ländern zusammenarbeiten können. Das ist eine Utopie, ich denke, in der Literatur geht es nicht nur darum, eine Geschichte zu erzählen, es geht auch darum, ein paar Meilensteine der Utopie zu setzen: insbesondere bei der nicht erwünschten Einwanderung; wenn jemand eine Tür aufzwingt, so ist das nicht gut; du bist nicht eingeladen und trotzdem bist du gekommen, also gut, du hast Hunger – doch in diesem Fall muss man eine andere Lösung finden. Man zwingt weder Türen noch Grenzen. Ich habe hier offensichtlich gut Fuß gefasst, aber meinen Landsleuten möchte ich gern klar machen, dass ihre Probleme durch ein Fortgehen unter diesen Umständen nicht gelöst werden, im Gegenteil, leicht könnten sie ertrinken, und außerdem bereichern sie die Mafia.

Aber Europa kann seinerseits antworten, und die europäische Antwort muss lauten, mehr und mehr in diese Länder zu investieren, um Arbeit zu schaffen, so dass die Menschen gar nicht mehr weggehen wollen, das ist die Lösung. Ich gebe zu, dass die Ausdehnung Europas nach Osten mich sehr ärgert, denn die östlichen Länder standen so lange Zeit unter der sowjetischen Oberherrschaft, und es wäre Aufgabe des heutigen Russlands, die Schäden zu reparieren, die es angerichtet hat. Es ist nicht Aufgabe der Europäer, die Schäden zu beseitigen. Die Europäer müssen erkennen, dass das, was ihnen noch viel näher ist, das ist der Maghreb, er liegt gleich nebenan; sie können nicht nur nach Osten schauen und dabei den Süden vergessen.

Womit sollte Ihrer Meinung nach eine gute Einwanderungspolitik beginnen?

Zunächst mit einer ganz einfachen Sache anfangen, nämlich dass die Einwanderungsländer in Europa, das heißt Deutschland, Frankreich, Spanien, England, Italien, sich zumindest auf eine gemeinsame Einwanderungspolitik einigen, die Einwanderung auf Aufforderung unterscheiden von der heimlichen Einwanderung, die in der Minderheit ist. Es handelt sich um ein paar tausend, vielleicht ein paar zehntausend illegal eingewanderte Menschen, während es Millionen von Einwanderern gibt, die sich ganz offiziell hier niederlassen. Und man muss eine gemeinsame Politik finden, die im Sinne des Respekts vor der Justiz und vor den Menschenrechten vorgeht und die die Einwanderer nicht länger als Quelle der Angst, des Verbrechens, als Ursprung der Probleme in Europa ansieht.

Die meisten sind gute Menschen, ich spreche nicht von den Kriminellen, von einigen jungen Leuten, im Allgemeinen sind die Menschen, die hierher kommen, Leute, die arbeiten, die hart arbeiten, die schlecht bezahlt werden, das muss man sagen, es sind keine Menschen, die ein Vermögen machen. Mein Schwiegervater, der Vater meiner Frau, hat hier vierzig Jahre verbracht, erst im Bergwerk, dann bei Renault, er hat eine winzig kleine Rente und lebt sehr, sehr ärmlich. Er hat natürlich seine Kinder großgezogen, aber er hat kein Vermögen verdient. Die Leute sollten das wissen: Ein Einwanderer ist jemand, der hierher kommt, sich hier niederlässt, er macht euch eure Arbeit, die weder die Franzosen noch die Deutschen machen wollen. Man muss diese Menschen respektieren, ihnen Rechte geben, ich würde sogar sagen, sie besser bezahlen, denn sie müssen furchtbare Sachen machen, und man darf ihnen nicht die Gewalt und Kriminalität der anderen anlasten, die mit dieser Einwanderung nichts zu tun haben. Während der Unruhen hier im Jahr 2005 vermengten Medien und Politiker die Revolte der jungen Franzosen gegen die Arbeitslosigkeit mit den Einwanderern. Sie sagten, »Ja klar, diese Einwanderer, die sollen nach Hause gehen«, aber ihr Zuhause ist Frankreich.

1  Eric Besson, heute Staatssekretär für Zukunftsfragen und Evaluierung der öffentlichen Politik beim Premierminister; ehemaliger ökonomischer Berater von Ségolène Royal, ist während des Wahlkampfes zu Sarkozy übergelaufen und hat diesem geheime Informationen über seine Tätigkeit bei S. Royal geliefert.

2  Tahar Ben Jelloun: »On ne parle pas le francophone«, deutsch unter dem Titel: »Gastlichkeit einer Muttersprache«, in: Le Monde Diplomatique, Mai 2007. Métissage bedeutet wörtlich »Verschmelzung«; in dem Wort steckt als Kern der Begriff métis, vom Lateinischen mixticus (vermischt). In der eigentlichen Bedeutung ist métisssage genetische Vermischung (Mestize). Leopold Senghor (1906–2001): Begriff der métissage im Zusammenhang mit seinem Konzept der négritude als eine positiv verstandene kulturelle und sprachliche Vermischung verschiedener Kulturen. Diesem Verständnis zufolge werden die einzelnen Komponenten der métissage nicht zum Verschwinden gebracht, sondern in dem Prozess der Verschmelzung verwandelt, umgewandelt. Ob die deutsche Wiedergabe »Vermischung« die Komplexität des Begriffs métissage trifft, ist umstritten. Der französische Begriff métisssage vesteht sich als ein freiwilliger Prozess und steht dem Rassismus entgegen.

3  Siehe dazu die Rezension von Renate Wiggershaus in Kommune 2/07.

KASTEN:

Das Ende der Frankophonie

Im Frühjahr des Jahres 2007 unterschrieb Tahar Ben Jelloun zusammen mit 43 weiteren Schriftstellern (u. a. JeanVautrin, Didier Daeninckx, Alain Mabanckou, JMG Le Clézio, Dai Sijie) ein Manifest gegen die Frankophonie. Es plädiert zugunsten einer französischen Sprache, die »befreit werden muss von ihrem exklusiven Pakt mit der Nation«. Weiter heißt es: »Das Auftauchen einer littérature-monde in ganz bewusstem ausdrücklichem Französisch, offen zur Welt hin, transnational, markiert das Ende der Frankophonie. ... Uns scheint die Zeit für eine Renaissance gekommen, für einen Dialog in einem riesigen vielstimmigen Ensemble, unberührt von irgendwelchen Kämpfen für oder gegen die Vorherrschaft dieser oder jener Sprache oder eines wie auch immer gearteten ›kulturellen Imperialismus‹.«

Das ist auch geschrieben mit Blick auf die anglophonen Länder, in denen die Schriftsteller, »die nicht mehr in der Nostalgie eines für immer verlorenen Heimatlandes leben, sondern die sich als zwischen zwei Welten, zwischen zwei Stühlen stehend erfahren und versuchen, aus dieser Kollision den Entwurf einer neuen Welt zu gestalten. ... In diesem Sinne sind sie weniger Produkt der Dekolonisierung als Ankündiger des 21. Jahrhunderts.«

Angesprochen auf das Manifest, kam TBJ auf das Problem der Frankophonie zu sprechen: »Der Begriff hat mich schon immer sehr geärgert, für mich ist das ein politischer und kein kultureller Begriff. In den frankophonen Ländern – das sind in der Mehrheit afrikanische Länder, hinzu kommen Belgien, Kanada und die Schweiz – gibt es eine ungesunde Mischung zwischen rein politischen, militärischen Interessen ... und außerdem gibt es Menschen aus Afrika, Asien und der arabischen Welt, die französisch sprechen und als frankophon behandelt werden, als ob die Frankophonie die Literatur der Kanaken sei. Tut mir leid, aber ich bin kein frankophoner Schriftsteller, ich bin genau so ein französischer Autor wie Jean Marie Le Clézio, der deshalb auch die Petition unterzeichnet hat, genau so ein französischer Autor wie Régis Debré oder sonst irgendwer. Man kann doch keinen Unterschied zwischen den Schriftstellern machen, weil einige von ihnen nicht Franzosen von Geburt sind, das ist eine prinzipielle Position, offensichtlich ist das nicht verstanden worden. Gleichzeitig hat Frankreich das Problem, dass ihm seine Sprache ein wenig entgleitet, die Franzosen beklagen sich die ganze Zeit über die Dominanz des Englischen, doch das vorherrschende Englisch ist nicht das literarische Englisch, vielmehr dominiert die englische Handelssprache. Dazu muss man wissen, dass es noch viel mehr Nicht-Franzosen gibt, die auf Französisch schreiben und große Autoren sind, während die Engländer diesen Komplex nicht haben. Beweis dafür ist, dass sie niemals eine Anglophonie haben entstehen lassen: Salman Rushdie oder Hanef Kureishi schreiben für sie auf Englisch, und Ende der Diskussion.

© Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007