Wilfried Kunstmann

»Wir« waren auch andere

Auf den krummen Wegen von 68

Nach den Aufsätzen von MARTIN ALTMEYER zur »Mentalität des deutschen Linksterrorismus « in der Ausgabe 3/07 und von JOSCHA SCHMIERER: »Wider die Provinzialisierung und Verdeutschung von 68« in der Ausgabe 4/07, geht die Debatte um die Deutung und Bewertung von »1968« weiter. JÜRGEN TREULIEB kritisiert die »Methode Kraushaar«, in der Rudi Dutschke zu Unrecht in die Nähe zum Terrorismus der RAF gestellt sieht. Dutschke habe sich vielmehr klar gegen eine »Terrordespotie« gewandt. MARTIN ALTMEYER antwortet auf den Beitrag von JOSCHA SCHMIERER und plädiert für eine selbstkritischere Betrachtung der Schattenseiten der antiautoritären Revolte. Die Aufklärung der Selbstaufklärung müsse auch in einem veränderten Wissen über die Vergangenheit geschehen. WILFRIED KUNSTMANN richtet den Blick auf eine Bewegung, die weit über die der Studenten hinausging: »Wir« waren auch andere.

Keinem Beitrag konnte ich in der letzten Zeit so zustimmen wie Joscha Schmierers Polemik gegen die Provinzialisierung und Eindeutschung von 68 (Kommune 4/07). Gegenüber den altweisen Klugdenkern, die 1968 revolutionäre »Kursbücher« herausgaben, arbeitet er präzise die subjektive Denksituation der Menschen (nicht der Generation) heraus, die in den Jahren 1967 und 1968 politisiert wurden beziehungsweise sich politisierten. Zur historischen Würdigung wie auch zur Antwort auf die Frage nach den Folgen ist es zwingend notwendig, auch (nicht nur) den Erkenntnishorizont der damaligen Akteure zu rekonstruieren. Schmierer kann das, weil er zu den Akteuren gehörte und gleichzeitig einen kritischen Blick auch auf seine eigene Karriere bewahrte.

Im Nachhinein ist man immer schlauer. Schief wird es dann, wenn man die eigenen Kenntnisse von heute in die Situation damals transponiert und meint, man habe schon damals schlauer sein müssen. Mir ist zum Beispiel keine ernsthafte öffentliche Diskussion über die mörderischen Konsequenzen der »Kulturrevolution« aus diesen Jahren bekannt, die eine kritische Stellung gegen Mao hätten fundieren können. Edgar Snows Bestseller über den langen Marsch oder Joachim Schickels subtile Chinoiserien tauchten eher die frühere und aktuelle Politik Mao Zedongs in ein rosafarbenes Licht. Auch diejenigen, die wie ich dem chinesischen Weg kritisch gegenüberstanden, bezogen ihre Kritik eher auf außenpolitische Themen denn auf die innerchinesischen Zustände. China war nicht nur geografisch weit weg. Die weit nähere Sowjetunion beispielsweise samt ihrem Cordon sanitaire war ja 1968 gerade nicht außerhalb der Kritik – Schmierer verweist mit Recht auf Kuron und Modzelewski. Ich erinnere mich an erregte Diskussionen mit Altkommunisten, die den Einmarsch in die CSSR mit allerlei »Fakten« rechtfertigten und bei den meisten von uns die Assoziation auslösten, so könnten alle und jede Schandtaten gerechtfertigt werden.

Natürlich war, innerwestdeutsch betrachtet, die 68er-Bewegung im Takt der Modernisierung der Gesellschaft. Aus historischer Sicht hat Enzensberger natürlich Recht – aber ist er wirklich ein abgeklärter Historiker, der sine ira et studio argumentiert? Oder ist er ein zudem prominenter Mittäter, der sich nachträglich in den Mainstream einordnet? Wir sahen 1967 und 1968 keine Modernisierung, wir lasen von einem Polizisten, der unbestraft einen Menschen ermorden durfte, wir sahen die tägliche Bild-Zeitung Hass auf Langhaarige und Studenten schüren, wir hörten die alten Geschichten, wie wir den Iwan beinahe ..., wir sahen berittene Polizisten mit Gesichtern wie »damals« auf Demonstranten einprügeln – dass dies Relikte der Vergangenheit sein sollten, war für uns beim besten Willen nicht auszumachen. Und zur gleichen Zeit war unser Modernisierungsvorbild damit beschäftigt, von deutschen Politikern unterstützt mit Hilfe von Bodentruppen und Agent Orange das kleine Vietnam mit Krieg und Vernichtung zu überziehen. Wenn das der gute John F. Kennedy gewusst hätte ... (dass er einer der Protagonisten dieses Krieges war, lag trotz Horlemann und Gäng außerhalb unseres Erkenntnishorizonts).

Wenn ich von »wir« spreche, muss ich Schmierer jedoch ergänzen, der sich vornehmlich auf die Studenten bezieht. Die zum Teil selbst gewählte Bezeichnung »Studentenbewegung« war für Westdeutschland immer schon falsch, wenn auch die Impulse und Akzente aus den Universitäten kamen. »Wir« waren auch – und in der Provinz – vor allem Lehrlinge und »Jungarbeiter«, vor allem allerdings junge Angestellte. Es gab ja nicht nur Muff unter den Talaren, sondern auch in den Betrieben und Büros, wo viel offener und ohne liberale Professoren täglich vielstimmig »Volkes Stimme« ertönte. Auch jener später avancierte Frankfurter Taxifahrer wird von seinen Fahrgästen damals allerlei Vorschläge gehört haben, was man so alles mit den »Ratten und Schmeißfliegen« (zu denen damals auch Enzensberger gezählt wurde) tun sollte. Der Erfinder dieses Wortes wurde, nebenbei zum Thema Schnelligkeit der Modernisierung, 1980 Kanzlerkandidat der CDU/CSU.

Heute lässt sich die massenhafte Mobilisierung von Lehrlingen und jüngeren Arbeitnehmern als Teil der Mobilisierung von »Bildungsreserven« begreifen, denn die meisten schieden über kurz oder lang aus ihrem Ursprungsberuf aus und studierten (überdurchschnittlich viele Sozialarbeit). Zeithistoriker können hier unschwer einen Nachhall der vom Deutschen Bildungsrat und Georg Picht angestoßenen Diskussion über die neuen Bildungsanforderungen angesichts der »wissenschaftlich-technischen Revolution« erkennen, doch das spielte im Bewusstsein der Akteure nur eine marginale Rolle.

Joscha Schmierer macht eines sehr klar: Wir sahen uns 1967 und danach als Teil einer weltweiten Bewegung für wirkliche Demokratie, Freiheit und Frieden. Der amerikanische SDS, die englischen und französischen Gruppen, die Reformer von Prag, die Chinesen, das heroische Vietnam, die afrikanischen und lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – sie alle zusammen ergaben ein weltumspannendes, »trikontinentales« Potenzial an wirklicher Befreiung. Dieser Zusammenhang gab auch der westdeutschen Bewegung Auftrieb und sogar welthistorische Bedeutung. Von heute aus gesehen war dieser Zusammenhang höchst illusionär und schon damals hätte man bei genauerem Hinblick auf die Politik der Pol Pots skeptisch werden müssen, aber wer hatte diesen »genaueren Hinblick«? Wir waren auf die wenigen Berichte angewiesen, die in den Zeitungen erschienen oder von den revolutionären Gruppen selbst herüberkamen. Was heute im Zeitalter des Internet für uns kaum noch vorstellbar ist, war damals Realität: das Angewiesensein auf ein schmales Rinnsal zum Teil parteiischer Informationen. Wer dies wie Lord Ralf verkennt, denkt leider nicht (mehr) soziologisch oder historisch.

Und auch der Weg in die RAF lässt sich nur rekonstruieren, wenn man das subjektive Bewusstsein der damaligen Charaktere in die Überlegungen einbezieht. Ganz sicher gehört Rudi Dutschke nicht dazu, dessen klare Stellungnahme »die terroristische Gewalt gegen Menschen ist in den Metropolen nicht mehr notwendig« auch Herrn Kraushaar in den Ohren klingeln müsste. Aber wer die Stellungnahmen von Ulrike Meinhof vor ihrer Anhängerschaft zu Herrn Baader liest, erkennt deutlich das Leiden an einer Gesellschaft, die sich eben nicht als auf einem Modernisierungskurs befindliche zu erkennen gab, sondern als durch und durch repressive, gegründet – so konnte man es damals analysieren – auf Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen hierzulande und anderswo. Dass in einer subjektiv als unveränderbar empfundenen Zwangssituation der Gedanke an Gewalt aufkommen (und durch Gruppendruck dann multipliziert werden) konnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Damit will ich nichts entschuldigen; die große Mehrheit der Linken hat damals den Weg in den Terrorismus abgelehnt und scharf kritisiert, musste aber für die Morde der RAF mit bezahlen.

Noch ein Hinweis zur Rolle des Nationalsozialismus in der damaligen Situation. Zwischen 1945 und 1967 lagen etwas mehr als kurze 20 Jahre, in denen die Westdeutschen ihre »Unfähigkeit zu trauern« durch den Wiederaufbau und das anhaltende »Wirtschaftswunder« kompensieren konnten. Statt Trauer gab es das Wiederauftauchen alter Nazis, die Gründung der NPD, die wöchentlichen »Landser«-Hefte und die immer wieder aufflammende Erinnerung an die schönen Zeiten, von denen selbst einarmige oder einbeinige Versehrte nicht verschont wurden. Und für uns stand die meist unbeantwortete Frage im Raum, was denn die eigenen Väter in den Jahren vor 1945 gemacht hatten. Wenn selbst so harmlos-freundliche Gestalten wie Heinrich Lübke bei den Nazis mitgemacht hatten, wie wir mit unbenannter Hilfe der DDR annehmen mussten, wer würde dann einen neuen Faschismus in anderem Gewand aufhalten können? Die Furcht vor einem neuen Faschismus war – weit vor den platten Faschismus-Schimpfworten gegen alle anderen – durchaus mit einem realen Angstkern gefüttert. Wer einmal in der Mitte der Sechziger mit langen Haaren über eine Dorfstraße gegangen ist oder 1968 einem hasserfüllten Polizisten mit Schlagstock gegenübergestanden hat, mag sich an diesen Angstkern erinnern.

Was bleibt von 68? Diese Frage möchte ich nicht beantworten, denn die Antwort setzte ein ganzes Buch voraus, bei dem gleichwohl noch viele Fragen offen blieben. Mindestens aber bleibt die Einsicht, dass es kein Unglück war, für demokratische Rechte und freie Meinungsbildung, gegen ungerechte Kriege und brutale Unterdrückung einzutreten. Es bleibt die Einsicht, dass auch andere – wie man selbst – das Recht auf Irrtum haben, dass dieses Recht aber nicht einschließt, sich selber dumm zu halten. Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, war bei allen krummen Wegen ein bleibendes Ziel der 68er-Bewegung, weltweit.

© Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007