Martin Altmeyer

Glaube und Dissidenz

Zum sozialrevolutionären Internationalismus von 68

Nach den Aufsätzen von MARTIN ALTMEYER zur »Mentalität des deutschen Linksterrorismus « in der Ausgabe 3/07 und von JOSCHA SCHMIERER: »Wider die Provinzialisierung und Verdeutschung von 68« in der Ausgabe 4/07, geht die Debatte um die Deutung und Bewertung von »1968« weiter. JÜRGEN TREULIEB kritisiert die »Methode Kraushaar«, in der Rudi Dutschke zu Unrecht in die Nähe zum Terrorismus der RAF gestellt sieht. Dutschke habe sich vielmehr klar gegen eine »Terrordespotie« gewandt. MARTIN ALTMEYER antwortet auf den Beitrag von JOSCHA SCHMIERER und plädiert für eine selbstkritischere Betrachtung der Schattenseiten der antiautoritären Revolte. Die Aufklärung der Selbstaufklärung müsse auch in einem veränderten Wissen über die Vergangenheit geschehen. WILFRIED KUNSTMANN richtet den Blick auf eine Bewegung, die weit über die der Studenten hinausging: »Wir« waren auch andere.

Emphatisch verteidigt Joscha Schmierer (in Kommune 4/07) den Kosmopolitismus der 68er-Bewegung gegen das, was er im Titel ihre nachträgliche »Provinzialisierung und Verdeutschung« nennt. Mit der Verengung auf das »Schrebergärtchen Bundesrepublik« werde unterschlagen, dass sich vor vierzig Jahren gleichzeitig, wenn auch unter völlig verschiedenen Umständen, auf der ganzen Welt Protestbewegungen entwickelt hätten, die 1968 zu einem »unerhörten Ereignis« gemacht hätten, einem »Metaereignis« gar, das in den periodisch hereinbrechenden »Be- und Entschuldigungswellen« nicht untergehen dürfe. Mit der gleichen Emphase weist er auf gemeinsame Triebkräfte und Zielsetzungen dieser weltweiten Fortschrittsströmungen hin, die »doch alle in die gleiche emanzipatorische Richtung, letztlich in Richtung Sozialismus drängten«. Die eigentliche Leistung von 68 – so betont der ehemalige SDS-Aktivist, Mitbegründer und bis zu dessen Selbstauflösung Sekretär des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, der später Mitglied im Beraterstab des grünen Außenministeriums unter Joschka Fischer wurde, gleich mehrfach – liege in der »Bündelung der Stoßkraft all dieser Bewegungen in Richtung Emanzipation und letztlich Sozialismus«.

In dieser Nachbetrachtung eines prominenten Alt-Achtundsechzigers mit beispielhafter Biografie gehen Richtiges und Falsches Hand in Hand. Richtig ist gewiss der Verweis auf die Internationalität einer Bewegung, welche sich bekanntlich von Berkeley und die amerikanische Ostküste über Paris, London, Madrid, Rom und Athen bis nach Tokio ausbreitete und ihrem Bekenntnis zur Solidarität mit den Völkern insbesondere der Dritten Welt auch Taten folgen ließ. Wer wollte ernsthaft bestreiten, dass wir damals das Ganze in den Blick nahmen. Freilich war es eine zunehmend weltbildkontaminierte Solidarität, die gegen Kapitalismus, Imperialismus und die beiden Supermächte gerichtet war, in erster Linie aber gegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Ebenfalls richtig und unbestreitbar ist die Bedeutung des emanzipatorischen Moments in all diesen Bewegungen, eines gewaltigen Befreiungsimpulses, der von der radikalen Selbstbefreiung aus den Zwängen und Verbiegungen der eigenen – »bürgerlichen« – Persönlichkeit bis zu Visionen einer befreiten Weltgesellschaft reichte und alle Sphären des Lebens durchdrang: die Sexualität, die sozialen Beziehungen und nicht zuletzt die gesamte Kultur. 1968 bedeutete einen »emanzipatorischen Quantensprung« (Bernardo Bertolucci), der in Literatur und Theater, in Malerei, Musik und Film ebenso zu erleben war wie im revolutionierten Alltagsleben westlicher Gesellschaften.

Aber es war ein folgenschwerer Irrtum, an dem es historisch nichts zu verteidigen gibt, Emanzipation mit Sozialismus gleichzusetzen, wie Schmierer das tut, den Sozialismus gar als eine Art Konsequenz sozialer und politischer Befreiungsbewegungen auszugeben (»in Richtung Emanzipation und letztlich Sozialismus«), als ob das für einen Linksintellektuellen immer noch die pure Selbstverständlichkeit und gegen alle realgeschichtliche Erfahrung zu behaupten wäre. Es ist keineswegs selbstverständlich, sondern gerade erklärungsbedürftig, dass wir auf der Suche nach einem einheitsstiftenden Ziel für unsere Freiheitssehnsüchte und Gerechtigkeitsträume ausgerechnet in sozialistischen Utopien unser Heil suchten. Insofern liefert Schmierers Hinweis auf die Perspektive des Sozialismus keine Antwort, sondern wirft erst die Frage auf, die wir zu beantworten haben. Gerade in jenem Sachverhalt, der seinem Verteidigungstext mentalitätsgeschichtlichen Halt verleihen soll und deshalb zu Recht im Zentrum steht, liegt das eigentliche Problem – in der sozialrevolutionären Wendung des Universalismus von 68.

Wo Schmierers Argumentation endet, fängt die mühsame Arbeit der kollektiven Selbstaufklärung erst an: Wie konnte es geschehen, dass sich eine auf Emanzipation zielende Weltbewegung schließlich unter der roten Fahne versammelt hat und totalitären Visionen von der klassenlosen Gesellschaft erlegen ist, für deren Realität bereits hinreichend abschreckendes Anschauungsmaterial vorlag? Wie lässt sich erklären, dass Sozialismus und Kommunismus in klugen Köpfen immer noch zu anerkannten Etappen auf dem Weg der Gattungsemanzipation werden konnten? Was hat uns damals getrieben, unsere moralisch unterfütterten Weltverbesserungsfantasien im Budenzauber von marxistisch-leninistischen Parteigründungen, im Rückgriff auf verklärte anarchosyndikalistische Traditionen der Arbeiterbewegung oder im existenzialistischen Revoluzzertum des Linksterrorismus auszuleben?

Wenn eine in die Jahre gekommene 68er-Generation im selbstgerechten Stolz auf ihr Rebellentum die Irrwege der eigenen Adoleszenz ausblendet, um sie der heutigen kapitalismus- und globalisierungskritischen Jugend zur Wiederholung zu überlassen, versagt sie vor der Aufgabe, die eigene Vergangenheit mit all ihren sozial- und kulturrevolutionären Turbulenzen zu erinnern und durchzuarbeiten. Denn diese stürmischen Zeiten brachten, zusammen mit dem frischen Wind der Veränderung, der uns die ganze Welt eröffnete, zugleich die Gewissheiten eines hermetischen Weltbilds, in das wir uns am Ende verrannt hatten. Bei allen Unterschieden: Auch unsere Generation muss sich an den Maßstäben jener Aufklärung und Selbstaufklärung messen lassen, die wir seinerzeit unter dem Signum der »Vergangenheitsbewältigung« der Nazigeneration abverlangt haben; das sind wir nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Kindern schuldig.

Um die Empörung zu dämpfen, die angesichts dieses unerhörten Generationenvergleichs bei einigen entstehen mag, nenne ich gleich zwei entscheidende Differenzen zum Denken und Handeln unserer Eltern, soweit sie als Parteigänger oder Mitläufer in den deutschen Nationalsozialismus verstrickt waren. Der erste Unterschied liegt im Ursprung der Ideologie. Der Marxismus, den wir für uns neu entdeckten, gehört zum Projekt der Moderne. Sozialismus und Kommunismus sind Kinder der Aufklärung. Sie sind aus dem Geist von Universalismus, Rationalismus und Fortschrittsglauben geboren und einer Idee der vernünftigen wie gerechten Ordnung der Welt verpflichtet. Der totalitäre Kern dieser Idee hat sich erst im Versuch ihrer Verwirklichung enthüllt, in der Praxis des realen Sozialismus, dessen historisches Scheitern spätestens seit 1989 (im Grunde jedoch bereits seit den Moskauer Prozessen) nicht einfach zur Folge von ideologischer Abweichung, bürokratischer Entartung oder gemeinem Verrat erklärt werden kann oder wie die Versuche zur Rettung der »guten« Theorie gegenüber der »schlechten« Praxis sonst lauten mögen, sondern vielmehr zur Überprüfung auch seiner theoretischen Wurzeln zwingt. Der Faschismus dagegen ist ideologisch von Anfang bis Ende ein Produkt der Gegenaufklärung und des Partikularismus, ein Rückfall in das Denken in Kategorien der völkischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, der biologischen Höher- und Minderwertigkeit. Dieses Denken mündete direkt in die Lehre vom arischen Herrenmenschentum und feierte den Zivilisationsbruch, den der Nationalsozialismus mit seinem mörderischen, zur Staatsideologie erklärten Rassen- und Reinheitswahn nach innen und nach außen bedeutete.

Der zweite Unterschied zwischen den 68ern und der Generation ihrer Eltern liegt in der Realitätserfahrung, der unterschiedlichen Teilhabe an der politischen Macht. Die Nazis waren tatsächlich für einige Jahre am Drücker, was den Deutschen Gelegenheit gab, an der faschistischen Herrschaft in der einen oder anderen Weise zu partizipieren, mehr oder weniger kräftig davon zu profitieren und sich die Hände schmutzig zu machen. Wir dagegen konnten unsere von der Utopie des Weltkommunismus inspirierten Macht- und Größenfantasien in aller Regel nur im Rahmen diverser Identifikationen mit den Heroen revolutionärer Volksbefreiungsbewegungen, in gelegentlichen Angriffen auf die Organe der Staatsgewalt sowie in der psychosozialen Innenwelt unserer diversen Sekten ausleben. Wären wir wirklich an die Macht gekommen – eine Horrorvorstellung, deren Verwirklichung uns und den Massen, für die wir uns ins Zeug legten, zum Glück erspart blieb.

Wer sich angesichts der offenkundigen Unterschiede immer noch über den Vergleich empört, weil er sich gegenüber nationalsozialistischen Abgründen moralisch erhaben fühlt, den muss man auf die mentalen Gemeinsamkeiten der beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts hinweisen, die den Verlauf dieses »Jahrhunderts der Extreme« (Hobsbawm) geprägt haben. Diese teilten nicht nur das Ressentiment gegen Geschäftemacherei, Kapitalismus und Marktkonkurrenz miteinander, aus dem sich hier wie dort der Hass gegen den »Geldjuden« und das »raffende Kapital« speiste. Beide pflegten zudem politisch hochvirulente Sauberkeits- und Homogenitätsobsessionen, denen jede Differenz als verdächtig galt. War es auf der einen Seite die faschistische Volksgemeinschaft, die keine Klassenunterschiede mehr kannte, setzte die andere Seite vergleichbare Obsessionen im Grauen der Zwangskollektivierungen um oder in periodischen Liquidationsorgien, in der Verfolgung, Verbannung und Psychiatrisierung von Dissidenten sowie im Rahmen von Säuberungswellen, denen schließlich, wie etwa in den stalinistischen Schauprozessen oder der chinesischen »Kulturrevolution«, die Parteikader selbst massenhaft zum Opfer fielen, weil sie Verrat an der revolutionären Sache begangen oder das Geschäft der Konterrevolution betrieben hatten.

Nun mag man einwenden, dass von solchen Barbareien bei den 68er-Aktivitäten angesichts der real eingeschränkten Handlungsspielräume einer außerparlamentarischen Opposition nicht die Rede sein kann, wenn wir einmal davon absehen, dass es in linksterroristischen Gruppierungen wie der RAF oder der Bewegung 2. Juni sehr wohl die Bedrohung von Zweifelnden und die Verfolgung von Abtrünnigen gab bis hin zur Liquidation von angeblichen oder wirklichen »Verrätern«. Aber waren wir im Denken und in unseren Fantasien so weit entfernt davon? Hätten wir nicht gerne, wenn wir gekonnt hätten? Zumal wir genau zu wissen glaubten, was richtig und was falsch und was gut und was schlecht war. Dass in den Verlautbarungen des KBW etwas »gut und nicht schlecht« oder »richtig und nicht falsch« war, kennzeichnete eine rhetorische Redundanz, die Zweifel ausräumen und auch schlichte Gemüter von den einfachen Wahrheiten überzeugen sollte.

Gewiss, niemand wurde umgebracht, der nicht daran glauben wollte, aber ungemütlich wurde es schon, wenn man an der Weisheit der ZK-Beschlüsse zweifelte oder sich gar der Rechts- oder Linksabweichung schuldig machte. Und natürlich unterschieden sich die marxistisch-leninistischen Methoden des Psychoterrors und Gruppenzwangs von denen der RAF oder auch vom proletarischen Mummenschanz des Revolutionären Kampfes, dessen Kader sich damals der Fron der Betriebsarbeit »beim Opel« unterziehen mussten oder die im Straßen- und Häuserkampf ihren Mut unter Beweis stellten durften. Aber als in jenen Zeiten ein Autor in Kommunismus und Klassenkampf, dem theoretischen Organ des KBW, davon träumte, Daniel Cohn-Bendit nach der Machtübernahme zum Arbeiten in die Fischmehlfabrik zu schicken, sprach aus diesem Traum nicht bloß die revolutionäre Größenfantasie, gewissermaßen ein vorfantasierter Auftrag des siegreichen Proletariats, sondern auch eine latente, symbolisch gerade noch eingefangene Gewaltfantasie, die dem Unbewussten entstiegen sein muss: Die Fischmehlmetapher provoziert neben der unangenehmen Geruchsvorstellung eben auch die Assoziation, dass etwas zu Fischmehl verarbeitet werden soll. Spätestens hier war für mich Schluss mit dem Spuk.(1)

Ebenso wie im real existierenden Nationalsozialismus das Vernichtungshandeln mit dem Vernichtungsdenken begonnen hatte, war auch unser auf die Erfordernisse der Revolution hin entworfenes Handeln von einem gewaltschwangeren Denken infiziert, das einen in seiner revolutionären Unbedingtheit heute noch erschauern lässt. Das war beileibe kein Privileg der Stadtguerilla, die den Repräsentanten der Bourgeoisie, während sie von der Entfaltung der Klassenkämpfe und vom Sieg im Volkskrieg schwadronierte, lieber direkt an den Kragen ging und selbst im Gerichtssaal die Vertreter der Klassenjustiz noch bedrohte (wie auf den gerade aufgetauchten Tonbandmitschnitten beim Stammheim-Prozess zu hören ist).

Gerade in der Berufung auf den unbestreitbaren Universalismus von 68 hält Schmierer an Fehleinschätzungen fest, die im Lichte späterer Einsichten zu korrigieren wir allen Anlass hätten. Mit Sympathie betrachtet er nach wie vor die chinesische Kulturrevolution »als Weg, um es anders zu machen als in Moskau«, ein Weg, dem er die löbliche Absicht zugute hält, »die Widersprüche zwischen Hand- und Kopfarbeit wie zwischen Stadt und Land in Angriff zu nehmen und der Herrschaft einer Parteibürokratie entgegenzutreten«. Dass von den Roten Garden unter diesen Parolen der Hass auf die Intellektuellen geschürt wurde, die unter unwürdigsten Umständen zu Hunderttausenden in die Fabriken und aufs Land geschickt wurden, wenn sie nicht als Volksschädlinge zur Umerziehung in Arbeitslager (labor reform farms) gesteckt oder gleich liquidiert wurden, muss Schmierer entgangen sein. Sonst könnte er heute die vom inneren Machtkreis der Partei um Mao selbst initiierte Kulturrevolution, die alte Traditionen zerstörte, um den neuen Menschen zu schaffen, nicht allen Ernstes »als Beispiel für die Selbstermächtigung der Gesellschaft gegenüber zementierten Herrschaftsverhältnissen« (!) in Erinnerung haben.

Den auf diese abenteuerliche Rechtfertigung folgenden Satz muss man zweimal lesen, um seine Entlastungsbotschaft zu begreifen: »Wenn sie (die Kulturrevolution; M. A.) nichts als bloße Hülle eines von oben angestoßenen Massenverbrechens gewesen sein soll, so war es doch diese Hülle, die faszinierte, und waren es nicht die Verbrechen, die sich unter ihr verbargen.« Gewiss haben wir uns damals nicht für Massenverbrechen begeistert, sondern für die kulturrevolutionäre Hülle, unter der sie stattfanden. Aber solch ein Faszinosum lässt sich in sämtlichen totalitären Bewegungen finden. Diese begehen ihre Massenmorde niemals und nirgendwo als Verbrechen, sondern stets als Mission im höheren Auftrag – für die Ehre Gottes und der eigenen Religion, für die Größe des Volks, für die Reinerhaltung der wertvollen Rasse, für die proletarische Weltrevolution und so fort. Gerade wegen der faszinierenden Hülle fehlt den moralisch aufrechten Massenmördern regelmäßig das Schuldgefühl. Ist aber die ideologische Hülle einmal gefallen, kommt darunter – eben als Kern, der vorher verhüllt war – das nackte Verbrechen zum Vorschein. Die Hülle gehört zum Kern und vice versa. Damit verliert Schmierers Verweis auf »diese Hülle, die faszinierte«, seine Unschuld und seine rückwirkende Entlastungsfunktion. Er verweist vielmehr auf jene kommunistische Ideologie, die unserer Begeisterung für das kulturrevolutionäre China zugrunde lag und ihrerseits aufzuklären ist.

Aus verständlichen Gründen wählt Schmierer als Beispiel für unsere damalige Unterstützung der Volkskämpfe nicht Kambodscha unter dem berüchtigten Pol-Pot-Regime, das die »Widersprüche zwischen Hand- und Kopfarbeit wie zwischen Stadt und Land« mit noch rabiateren Methoden in Angriff nahm als China, dabei einer urkommunistischen Vision folgend, der einst die besondere Sympathie des KBW galt. Aber weshalb versteigt er sich zu der trotzigen Behauptung, unsere Solidarität mit dem antikolonialen Befreiungskampf in Zimbabwe werde »nicht dadurch desavouiert, dass die Unterstützer nicht voraussahen, wie die ZANU durch ihren Sieg korrumpiert wurde und Mugabe sich von einem asketischen Führer des Befreiungskampfes zu einem machtversessenen grausamen Diktator wandelte«? Sind wirklich »Korruption« und »Persönlichkeitswandel« der revolutionären Akteure verantwortlich für die Katastrophe im postrevolutionären Zimbabwe, das sich von der ehemaligen Kornkammer des südlichen Afrika in ein verwahrlostes Land verwandelt hat, aus dem die Menschen inzwischen scharenweise flüchten? Gewiss war die Apartheid in Rhodesien ein Skandal und der Sturz des weißen Siedlerregimes historisch überfällig und höchst unterstützenswert. Das sollte uns aber nicht zu volkspsychologischen Entlastungsformeln greifen lassen, wenn die gute Sache wieder mal schlecht gelaufen ist. Das Schicksal Zimbabwes ist kein unvorhersehbarer Sonderfall in der Geschichte der revolutionären Volksbefreiungskriege, keine afrikanische Abweichung vom üblichen Gang der kommunistischen Weltbewegung, die nach ihrem historischen Scheitern im Genossen Mugabe vielmehr noch einmal zeigt, was in ihr steckte.

Als sich um das Jahr 1968 in den entwickelten Ländern des Westens eine moralisch sensible Nachkriegsgeneration zu einer globalen Protestbewegung zusammenfand, die sich zunehmend politisch artikulierte und Kapitalismus, Kolonialismus und (US-)Imperialismus ins Visier nahm, zeigten sich bei aller Internationalität auch nationale Besonderheiten. Das eine schließt das andere nicht aus. Auf dem Territorium der ehemaligen Achsenmächte musste sich die rebellische Jugend mit der schuldbeladenen und schweigenden Kriegsgeneration, die den Faschismus zu verantworten hatte, in besonderer Weise auseinander setzen. Und es spricht einiges dafür, dass im antikapitalistischen Unbewussten auch generationsübergreifende Entlastungswünsche, Verschiebungen, Identifikationen und Projektionen am Werk waren. Diese erlaubten der deutschen RAF, den italienischen Roten Brigaden oder den japanischen Verfechtern des Linksterrorismus jenes moralisch imprägnierte und deshalb besonders skrupellose Verhältnis zur Gewalt, das von einem ziemlich breiten Umfeld an Unterstützern und Sympathisanten geteilt wurde.(2)

Solche Annahmen, die durch eine psychoanalytische, auf die unbewusste Beziehung zwischen den beteiligten Generationen zielende Mentalitätsforschung gut belegt sind, hält Schmierer allerdings für »blanken Unsinn« – als ob damit die Veränderungsbedürfnisse einer vor vierzig Jahren aus guten Gründen aufbegehrenden Jugend auf sozialpsychologische oder familiendynamische Ursachen reduziert oder gar denunziert werden sollten. Wer die Leistung der 68er-Bewegung würdigen will, kommt um die gründliche Analyse ihrer Fehlleistungen, die auf verquere Kausalitäten im mentalen Untergrund dieser Generation hindeuten, nicht herum. Etwa die Chuzpe, mit der wir im Nahostkonflikt für die palästinensische Sache eintraten und Israel ins Lager der Täter steckten, ohne uns des latenten Antisemitismus bewusst zu sein, der sich in dieser blinden Parteinahme für die »Opfer des Judenstaats« verbarg. Eine böse Ironie der nationalen Bewusstseinsgeschichte auch, dass wir ausgerechnet in Deutschland meinten (und zwar auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs), die superkapitalistische USA zum neuen Heimatland des Bösen erklären zu können, statt die sozialpsychologische Abwehrfunktion jener Konstruktion aufzudecken, die – unbearbeitet – in den Köpfen der globalisierungskritischen Nachfolgegeneration immer noch virulent ist.

Unter Berufung auf die großen Menschheitsziele von Gleichheit und Gerechtigkeit war der kommunistischen Weltbewegung im Lauf des 20. Jahrhunderts das Kunststück gelungen, eigene Formen totalitärer Herrschaft zu etablieren, vor der die antikapitalistische Linke im Westen zu lange die Augen verschloss, während sie den Faschismus fest im Blick hatte.(3) Im 21. Jahrhundert scheint ein anderer die verwaiste Rolle des revolutionären Internationalismus zu übernehmen, dessen Verführungskraft einst die 68er-Bewegung erlegen ist: Heute fordert der radikale Islamismus die Welt des globalisierten Kapitalismus mit jenen Gesten absoluter Dissidenz heraus, die wir aus dem eigenen Repertoire nur allzu gut kennen sollten.

1  Dieser Artikel eines führenden KBW-Kaders, der gegen Daniel Cohn-Bendits spontaneistisches »Lob der Faulheit« die Erziehung durch Arbeit empfahl, fand noch eine Fortsetzung, die für die damalige Frankfurter Szene charakteristisch war: In einer Racheaktion wurden die Räume des KBW von den Spontis heimgesucht und mit Fischmehl überschüttet, was bleibende Geruchsfolgen hatte. Im Gespräch mit Dany, das meinem Buch Im Spiegel des Anderen (Gießen 2003) vorangestellt ist, wird dieser Abschnitt unserer revolutionären Periode näher beleuchtet.

2  Siehe insbesondere den Aufsatz von Dorothea Hauser »Deutschland, Italien, Japan. Die ehemaligen Achsenmächte und der Terrorismus der 1970er Jahre« in: Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2 (Hamburg 2007); vgl. auch meinen Beitrag in Kommune 3/07 zum Thema (»Komplexitätsreduktion mit Waffe. Zur Mentalität des deutschen Linksterrorismus«), auf den Schmierer antwortet, indem er ihn ignoriert.

3  Ein hybrides Spätprodukt dieser selektiven Blindheit ist die deutsche Linkspartei, die das revolutionäre Erbe von 1968 und der SED zugleich zu verwalten beansprucht, während ihre von Besitzstandsdenken, sozialen Abstiegsängsten und militanter Fremdenfeindlichkeit beseelte Globalisierungskritik mittlerweile selbst jenes Ewiggestrige verkörpert, das anzuklagen eine unbelehrte Linke nicht müde wird.

©: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007