Michael Ackermann

Editorial

Hält man sich an die Sicherheitsfanatiker aus dem Innen- und Verteidigungsministerium, scheint es so, als wolle ein extrem konservativer Flügel der CDU/CSU den Koalitionspartner vor sich her und nach rechts treiben. Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die CDU, nimmt man den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm, wieder in eine liberalere Mitte rückt. Rechts, so Tine Stein über den neuen Konservatismus in dieser Ausgabe, ist intellektuell »out«. Die CDU hat sich demnach von der eher neoliberalen und antietatistischen »Leitkultur« des Leipziger Parteitages abgewandt.

Damit liegt sie gewissermaßen im Trend. 34 Prozent der BundesbürgerInnen bezeichneten sich neulich selbst als eher links (1981 waren es 17 Prozent). Obwohl dies rein rechnerisch keineswegs für eine »linke Mehrheit« spricht, war die Beunruhigung bei konservativen Meinungsmachern ebenso spürbar wie bei den Ergebnissen einer Emnid-/Zeit-Umfrage. In ihr bekam der Sozialismus als gute Idee (bislang nur schlecht ausgeführt) ganz prächtige Werte, auch Mindestlöhne und Abschaffung der Rente mit 67 erhielten hohe Zustimmung. In einer GEO-Umfrage hieß es zudem, dass 85 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass der Staat die soziale Gerechtigkeit durchsetzen soll. Doch gleichzeitig wussten immer weniger, was unter sozialer Gerechtigkeit eigentlich genau zu verstehen sei. Zu dieser Indifferenz passt, dass in der gleichen Umfrage die Ungleichheit durch Erbschaft breitest akzeptiert wird. 84 Prozent finden es gerecht, wenn die Eltern das Vermögen an die Kinder weitergeben, auch wenn Kinder vermögenderer Eltern dadurch bessere Chancen haben. Erbe wird als Familienangelegenheit betrachtet, nicht als eine Frage von gesellschaftlichen Gütern und Werten. Bestärkt worden ist diese Auffassung gewiss noch durch die Erfahrungen mit Hartz IV, das vor dem Haus der »kleinen Leute« nicht Halt macht. Auch in diesem Kontext hat die SPD die einstige Hegemonie in Fragen der Gerechtigkeit verloren. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm, zwischen »Leistungsträgern« und »Prekariat« sind nicht nur gefühlte Entwicklungen, sie sind ebenso wie Bildungsverlierer in den unteren Einkommensgruppen und schlechtere Gesundheitsversorgung bei Kassenpatienten Tatsachen. Das alles stimuliert weithin die Schutzbedürfnisse und stützt Forderungen nach Mindestlöhnen und Grundeinkommen. Dem stehen allerdings Entsolidarisierungsprozesse in den Mittelschichten entgegen. Der auch von der Schröder-SPD favorisierte »Selbstverantwortungsdiskurs« und die Rede von der »Eigenoptimierung« haben also Desintegration, Verlierermentalität und Trash-Kultivierung beschleunigt.

Oliver Nachtwey (»Die SPD verliert ihren Identitätskern«, FAS, 16.9.07) bezeichnet die »regelrechte Pflicht zum produktiven Selbst« als den »Sozialpaternalismus unserer Zeit«. Wenn die SPD in ihrem neuen Programmentwurf eher auf einen vorsorgenden statt nachsorgenden Sozialstaat setzt, verfehle sie ihre Klientel im unteren Teil der Gesellschaft erneut. Denn der »vorsorgende Sozialstaat funktioniert für diejenigen, die ihn eigentlich nicht brauchen: Die gut ausgebildeten, leistungsstarken und gesunden Modernisierungsgewinner«. Für die anderen bedeutet er »weniger soziale Gerechtigkeit und mehr Zwang«. War die SPD einmal die Partei der Aufstiegswilligen und der Bildungshungrigen, aber auch die der Schwachen, ist es mit dieser Mischung schon länger vorbei. Im Alltag hat die Partei, die »ihre Wurzeln in Humanismus und Aufklärung, christlicher Ethik, marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung« begründet sieht, diese schon verloren. Die »Sozialdemokratisierung der Volksparteien« könnte also eher der CDU zugute kommen.

Denn mindestens ein Teil der Konservativen hat erkannt, dass die Rede vom »mündigen Bürger«, der sich vom Staat nicht mehr bevormunden lassen will, an den Problemen vorbeigeht. Selbst die mündigste Bürgerin ist auf die strukturellen Voraussetzungen eines Gemeinwesens in einem Maße angewiesen, wie es nie zuvor der Fall war. Das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiver Abhängigkeit nimmt zu. Signifikant kommt dieses Bevölkerungs- Bewusstsein in einer Allensbach-Umfrage (FAZ, 19.9.) zum Ausdruck. In ihr werden Bahn, Universitäten und Schulen zu 50 Prozent und mehr für genuin staatliche Zuständigkeiten erklärt (auch Stromversorgung, Müllabfuhr, Krankenversicherung und Nahverkehr liegen noch bei circa 40 Prozent). Wächst das Bewusststein für öffentliche Güter wieder?

Selbst der liberalste deutsche Freigeist müsste also angesichts der jüngsten Turbulenzen auf den Immobilienmärkten in den USA und Großbritannien erkennen, dass bei Banken, Börsen und Finanzmärkten der Steuerungs- und Kontrollbedarf ungleich höher ist als zuvor angenommen. Wer will schon öfter Milliarden Steuergelder in zahlungsunfähige Banken stecken, wie im Falle der auf dem Spekulationsparkett ausgerutschten Sächsischen Landesbank? Alles »schreit nach mehr und immer mehr Regulierung – leider«, stellt ein Konservativer wie Michael Stürmer fest (Die Welt, 3.9.07). Welche nationale Politik oder Regierung könnte den ökonomischen Hochrisiken schon alleine begegnen? Auch die Anforderungen an internationale Institutionalisierung wachsen kontinuierlich weiter an.

© Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007