Michael Ackermann

Das kleine Universum

Katalonien und seine Literaturen – ein Mosaik

Als der Börsenverein des Deutschen Buchhandels für die Frankfurter Buchmesse 2007 das Thema »Katalanische Kultur« ausrief, war das keine unverfängliche Angelegenheit. Bislang wurden nur Nationalstaaten oder Ländergruppen zur Präsentation auf der Buchmesse eingeladen. Die Wahl der »Nation Katalonien« ist ein Novum in der bisherigen Einladungspolitik, und selbstverständlich wurde sie in Madrid als ein Affront betrachtet. Wichtiger ist, dass die Einladung einen weiteren Konflikt hervorrief. Das den Buchmessen-Auftritt organisierende Institut Ramon Llull in Barcelona stellte in seiner Einladung die katalanisch schreibenden Autoren in den Mittelpunkt. Die Auffassung, dass das verbindende Element der katalanischen Kultur die Sprache sei, wirkt auf den ersten Blick plausibel. Sie offenbart jedoch ihre Tücken, wenn man weiß, dass die Mehrzahl der katalanisch-stämmigen Autorinnen und Autoren auf Spanisch schreiben. Viele von ihnen fühlten sich brüskiert und haben sich, wie die Organisatoren zu sagen pflegen, »selbst ausgeladen«. Dabei zählen die sich als Katalanen verstehenden, aber auf Spanisch schreibenden Autorinnen und Autoren hierzulande zu den bekanntesten und meistübersetzten.

In diesem delikaten »Sprachenstreit« kann man sich zunächst einmal in Zahlen flüchten. In einem Nachwort zu einer Sammlung von Erzählungen aus dem Katalanischen schreibt Àlex Broch schon 1988: »Der katalanische Sprachraum umfasst ein Gebiet, das größer ist als die Staatsfläche Belgiens. Am Mittelmeer gelegen, reicht es von den nördlichen Pyrenäenausläufern im Roussillon bis zur Provinz Alicante im Süden und schließt die balearischen Inseln mit ein. Katalanisch wird – mit regionalen Varianten – von 6 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen: in Katalonien, Andorra, Valencia und auf den Balearen.« Katalonien mit seiner Hauptstadt Barcelona feiert 1988 sein 1000-jähriges Bestehen als Nation, zwanzig Jahre später gehören nun (laut Institut Ramon Llull) schon rund 13 Millionen Menschen der katalanischen Sprachfamilie an.

»Die Verlagsbranche in Katalonien spielt mit einem Anteil von rund 28 Prozent eine führende Rolle innerhalb des gesamten spanischen Buchmarkts, die rund 80 von 260 Verlagen, die katalanische Literatur publizieren, bilden einen wichtigen Stützpfeiler der katalanischen Kultur und Wirtschaft«, sagt der Lyriker und Übersetzer Axel Sanjosé in einem Gespräch mit Michael Braun (im Freitag, 3.8.07). Die katalanische Buchindustrie ist mit einem Umsatz von 1,6 Milliarden Euro mächtig, und Barcelona ist das Branchenzentrum für die gesamte spanischsprachige Welt.

Der Glanz der Gegenwart ist grundiert vom Glanz der Vergangenheit. Nicht umsonst heißt der rührigste Förderer der Übersetzung katalanischer Literatur in andere Sprachen eben Institut Ramon Llull. Sein Namensgeber, Raimundus Lullus (1232–1316) ist die berühmteste Gestalt der altkatalanischen Sprache und Kultur. Systematischer Wissenschaftler und Glaubensgelehrter, Dichter und Gelehrter, Mittler zur arabischen Welt und Kultur, und auch ein Bewusstseinsträger des Jüdischen in einer aufstrebenden Region am Mittelmeer, gilt er als die tolerante und kosmopolitische Persönlichkeit seiner Zeit, als Klassiker mit europäischer Ausstrahlung, der gewissermaßen den Ruf des Katalanischen und der katalanischen Nation begründet – mit Barcelona im Zentrum.

»Barcelona ist die einzige Stadt der Welt, die während des vierzehnten Jahrhunderts Macht besaß und danach nicht mehr«, formuliert der irische Autor Colm Tóibín in seiner Huldigung an Barcelona (Aufbau-Verlag, 1992) prägnant. Tatsächlich ist Barcelona schon vor dem 13. Jahrhundert ein herausragendes Zentrum im Mittelmeerraum. 1229 erobert Jaume I. Mallorca von den Mauren und ergreift auch von den restlichen Balearen Besitz, später ebenfalls von Valencia. Kataloniens Goldenes Zeitalter bricht an. In vierhundert Jahren besitzen die Katalanen eine eigene Sprache, einen eigenen Staat mit Armee und imperialer Strategie, ein eigenes Recht und eine eigene Kultur in gleichberechtigtem Austausch mit den fortgeschrittenen Kulturen Europas. Spätestens aber1640, als der spanische König Philipp IV. Barcelona erobert, ist es mit dem »Goldenen Zeitalter« vorbei. Carme Riera (geb. 1948, Mallorca) hat in Ins fernste Blau (edition Lübbe, 2000) den Niedergang eines Zeitalters thematisiert. In ihrem historischen Roman beschreibt sie den Terror der Inquisition auf Mallorca und wie sich eine Gruppe der jüdischen Gemeinde der Insel am 7. März 1681 durch Flucht diesem Terror zu entziehen versucht. In der Ausleuchtung einer lokalen Gemeinschaft und im Interessengeflecht von Kirche und Aristokratie, Bürgern und jüdischem Getto, von ökonomischen Interessen und gruppenspezifischer Loyalität und vergeblicher Anpassungsversuche präsentiert sie die prototypischen Bilder eines Pogroms.

Das farbenreiche Bild einer »Endzeit« in Gestalt eines Sittenbildes spielt auf dem Hintergrund eines der bedeutendsten Orte des katalanischen Reiches. Palma de Mallorca ist zeitweise die Inselmetropole im Mittelmeer. Wie viel weiß George Sand keine zweihundert Jahre später noch davon, als sie unter den bäuerlich-herben Verhältnissen leidet und kaum ein gutes Wort für die Menschen übrig hat? Jedenfalls flüchtet sie 1839 nach weniger als einem halben Jahr mit ihren beiden Kindern und dem kränkelnden Geliebten Fréderic Chopin wieder von der »Affeninsel«, wie sie die größte der Balearen in ihren Erinnerungen Ein Winter auf Mallorca (1842) nennt. Hat sie schon jenes Problem, mit dem die Touristen von heute auf Mallorca, meist unbewusst, konfrontiert sind? Man genießt die natürlichen Schönheiten, hat aber kein Interesse an den Bewohnern und nicht die mindeste Ahnung, auf welch geschichtsträchtigem Boden man sich befindet.

Die Katalanen wissen es sehr wohl. Der Mythos bleibt, er lebt weiter. So ruft 1977, kurz nach dem Ende der Franco-Herrschaft, der Präsident der autonomen katalonischen Regierung, Jordi Pujol, voller Stolz seinen Zuhörern zu: »Von hier aus haben wir Athen regiert«. Ja, fängt nicht sowieso alles schon mit Herkules an! Ist es nicht er, der, den Legenden und Sagen zufolge, die Siedlung begründet, die einmal Barcelona wird? Genüsslich breitet Manuel Vázquez Montalbán in seinem kaleidoskopartigen Barcelonas (Signet Verlag, 1992) diese Legenden aus, um ein paar Zeilen später ironisch anzufügen: »Die Katalanen haben eine gute Nase dafür, wo es etwas zu plündern gibt – ohne Zweifel, weil sie kurze Zeit im Paradies auf Erden gelebt haben – und wissen alles zu schätzen, was sie in der Natur gratis bekommen.« In diesem launigen Ton, dem überschäumender katalanischer Patriotismus fremd ist, formuliert er denn auch: »Die Katalanen scheinen, vielleicht schon von Herkules, dem Alkides von Verdaguer, katalanisch programmiert worden zu sein.« Dabei vergessen sie jedoch gerne bestimmte Zeitabschnitte ihrer Stadt: »Man erinnert sich kaum an das römische Barcelona, und wenig ist davon erhalten. Dasselbe gilt auch für das westgotische Barcelona. Dagegen wurde alles getan, um jene Stadt zu erhalten und zu vergegenwärtigen, die vom 8. bis 15. Jahrhundert die Hauptstadt des Mittelmeers war. … Heute ist es aber das Erbe aus der Epoche der nationalen Wiedergeburt, der industriellen Revolution und der explosionsartigen Entwicklung Barcelonas als Kapitale in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die am meisten gepflegt und herausgestellt wird.«

Mit dieser Bemerkung von Manuel Vázquez Montalbán drängeln schon die Romane von Eduardo Mendoza (geb. 1943) ins literarische Licht. Vor allem in Die Stadt der Wunder (Suhrkamp Verlag, 1989), dem monumentalen Barcelona-Porträt zwischen den beiden Weltausstellungen von 1888 und 1929, fasst er seinen Geburtsort in ein bewegtes Panorama von Modernisierungsschüben. Anders als Josep Maria de Sagarra (1894–1961), der in Privatsachen ein dichtes Porträt des Oberhauptes einer verarmten Barceloneser Adelsfamilie am Beginn des 20. Jahrhunderts liefert, siedelt Mendoza auf seinem städtischen Plafond auch in seinen anderen Romanen immer Außenseiter und Schelme an. Sie erfahren die Stadt als einen Moloch, in dem sich die verschiedenen Milieus und Gesellschaftsschichten überschneiden. Zwischen pittoresken und realistischen Szenarien bewegt Mendoza sich hin und her. In seinen Gesellschaftsromanen über Industriemagnaten und Anarchisten, Kriminelle und Terroristen, Bourgeois und Außenseiter hat es das gehobene Barceloneser Bürgertum faustdick hinter den Ohren. In Eine leichte Komödie (Suhrkamp, 1998) setzt Mendoza mit den späten 1940er-Jahren die Unterdrückung der Franco-Diktatur ins Bild. Auch hier scheut er die Niederungen der Kolportage nicht.

Der Bürgerkrieg und die folgende Franco-Diktatur bildet für die katalanische Nationalidentität ein besonderes Kapitel, denn sie stellen eine unmittelbare Verbindung zur Unterdrückung alter historischer Größe dar. Sören Brinkmann schlägt dieses Geschichtskapitel in seiner Studie Katalonien und der Spanische Bürgerkrieg – Geschichte und Erinnerung in einem Gesamtüberblick auf. Keine andere Region Spaniens, auch nicht das Baskenland, erreicht bis kurz vor dem faschistischen Aufstand eine so weit gehende Autonomie wie Katalonien. Bei einem Volksentscheid im Jahre 1931 beteiligen sich 75 Prozent der Bevölkerung an der Abstimmung über die Autonomie und 99 Prozent stimmen dann dafür. Im September 1932 wird nach den Verhandlungen mit der republikanischen Madrider Zentralregierung das Autonomiestatut verabschiedet. Die folgenden Jahre sind ein ständiges Ringen zwischen Autonomie und Zentralregierung einerseits und zwischen nationalkonservativer Rechter und einer sich zunehmend radikalisierenden Linken andererseits. Dieses Ringen mündet in einer Niederlage der Nationalkonservativen bei den Wahlen von 1936 und in die linken Aufstandstage im Mai 1937, die allerdings mit einem stalinistischen Sieg über die POUM enden – es folgt die Niederlage im Kampf gegen den Putschisten Franco.

Das Rote Notizbuch von Mary Low und Juan Breá (Edition Nautilus, 2001) und Arthur Lehnings Spanisches Tagebuch mit seinen Anmerkungen zur Revolution in Spanien sind authentische Berichte vom revolutionären Barcelona der wenigen Monate von 1936 – aus der Perspektive der handelnden Protagonisten. Hinter dem Leuchten der Energien und Hoffnungen werden jedoch auch das Sektierertum und die Illusionen sichtbar, die das Streben nach der sozialen Revolution jenseits der Verteidigung der »bürgerlichen Republik« umgaben. Das macht es den Stalinisten noch leichter, die Revolutionäre zu isolieren und auch physisch zu beseitigen. Gerade in Arthur Lehnings Briefen sind die Desillusionierungen zu spüren, die ihn schon nach wenigen Wochen revolutionärer Herrschaft in Barcelona und Valencia erfassen. In der Reflexion der revolutionären Motive und Probleme ist George Orwell in Mein Katalonien allerdings noch immer eindringlicher und letztlich auch weitsichtiger.

In der nationalen Mythologie werden später gerne »alle Katalanen« zu Opfern. Vor allem die rigide Unterdrückung des Katalanischen und der katalanischen Kultur durch die Francisten bestärken diese Haltung und eine nationalidentitäre Beharrung. Nirgendwo sonst rückt die katholische Kirche so schnell vom francistischen Nationalkatholizismus ab, um einen eigenen »katalanischen Katholizismus« zu begründen. In Teilen wird dieser sogar zu einem Ankläger der francistischen Unterdrückungspolitik oder zu einem Träger der nationalen Versöhnung, zumindest aber zu einem Schutzraum, etwa auf dem Klosterberg Montserrat oberhalb von Barcelona. Dabei spielt eine Rolle, dass in Katalonien der zahlenmäßig francistisch-fanatisierte Bevölkerungsanteil kleiner war als im übrigen Spanien.

Dass es jedoch fanatische Francisten gibt, dass innerhalb von Dörfern und kleinen Orten erbitterte Fehden ausgetragen werden, dass bis in die mittleren 1940er-Jahre hinein der Maquis aus den Bergen und Wäldern heraus Angriffe auf die Falange führt und francistische Kollaborateure die Bevölkerung mit Terror überziehen, und dass die Anhängerschaften sich durchaus nach »Klassenzugehörigkeit« gruppieren – davon erzählt Jaume Cabré in seinem Roman Die Stimmen des Flusses. Er verknüpft hier die einstigen Geschehnisse im Pyrenäenort Torena mit den Nationalmythen und globalisierten Geschäftsinteressen von heute. Dabei steht die reiche und schöne Elisenda Vilabrú im Zentrum, die eine Rache für die Erschießung von Vater und Bruder durch Anarchisten am Beginn des Bürgerkrieges antreibt, die selbst ihre Liebe zum Lehrer Oriol Fontelles überstrahlt. Auf fast 700 Seiten breitet Jaume Cabré die Geschichte in Geschichten aus und benutzt dabei die Techniken des inneren Dialogs und sich widersprechender Bewusstseinsströme ebenso wie rasante Schnittfolgen und Zeitsprünge. Wenn in diesem Drama aus Leidenschaft und Fanatismus am Ende irgendwie alle und jeder schuldig sind, dann gehört das jedoch zu jenen »postmodernen Wahrheiten«, die wohlfeil sind, mit historischer Gerechtigkeit jedoch weniger zu tun haben.

Dabei geht es ja nicht um simplifizierende Eindeutigkeiten. Nach der Lektüre von Tor – das verfluchte Dorf, einem »Tatsachenroman« des Fernsehjournalisten Carles Porta, wissen wir noch immer nicht, wer in dem Dorf mit den dreizehn Häusern 1995 einen gewissen »Sansa« umgebracht hat. Wir wissen aber um die Bedeutung eines Gesellschaftsvertrages der Miteigentümer des Berges von Tor, der an der Grenze zwischen katalanischen Pyrenäen und Andorra liegt, und welche dramatischen, oft tödlichen Folgen dieser Kollektiv-Vertrag bis in die Gegenwart hinein hat. Wir wissen nun, wie die Passwege den Dörflern einen Schmuggler-Mehrwert einbringen, wie der Pass im Zweiten Weltkrieg als Fluchtweg der Juden aus Frankreich dient (und schon wieder dem »Mehrwert«), wie die exklusive Lage von Tor und seinen Gemeindewiesen in den Zeiten des Wintersport-Tourismus Begehrlichkeiten wecken und mit welchen Mitteln sich das nahe Andorra das Kapital für seine Sportanlagen und einen ansehnlichen Reichtum für seine Bürger verschafft. Gerade weil hier viel im Dunkeln bleibt, auch was die unbeglichenen Rechnungen aus der Franco-Zeit angeht, tragen die recherchierten Geschehnisse in und um das Dorf zum Verständnis für eine bestimmte regionale Lage und ihre Mentalitäten bei.

Für die katalanische Mentalitätsgeschichte nach dem spanischen Bürgerkrieg ist Juan Marsé wohl einer der wichtigsten Autoren. 1933 geboren, in den Gassen der Elendsviertel von Barcelona fast schon elternlos aufgewachsen, kommt er mit 13 Jahren in eine Goldschmiedelehre. In seinen Romanen Ronda del Guinardo und Wenn man dir sagt, ich sei gefallen… (beide Elster Verlag, 1989 u. 1986) erkundet er die schmuddeligen Ecken der Franco-Zeit in den 1940er-Jahren. Mit den Augen eines Jungen und der Sprache eines Erwachsenen schildert er die düstere Welt der Okkupation. In den Bars der Stadt wird der Frust weggesoffen und statt eines Widerstands beschreibt er den alltäglichen Überlebenskampf. Gerade weil Marsé einen überbordenden Realismus bevorzugt, wirken die kargen, selten alles aussprechenden Beleuchtungen seelischer Befindlichkeiten umso intensiver. Auch in seinen weiteren Romanen überzeugt die Sensibilität, mit dem er die sozialen Widersprüche und Umbrüche aufspürt.

Niemand außer Vázquez Montalbán in seinen Kriminalromanen schreibt besser als Marsé über Katalonien als die Binnenzuwanderungsregion in Spanien, und wie Vázquez Montalbán schreibt auch er auf Spanisch. Mit Francisco Casavella (geb. 1963) und seinem Der Tag des Watussi. Verwegene Spiele (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2004) gibt es schon einen recht guten Nachfolger für die Außenseiter-Beschreibungen à la Marsé. Doch auch mit seinen 72 Jahren schreibt dieser noch Romane, die vornehmlich im Milieu spielen – etwa dem der lateinamerikanischen Zwangsprostituierten wie in Liebesweisen in Lolitas Club. Die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit der Franco- und der unmittelbaren Nach-Franco-Zeit besitzt der jüngste Roman nicht mehr, den Sinn für die Entwicklung sozialer und gesellschaftlicher Konflikte aber hat Marsé behalten. In einer Vater-Figur findet der Widerstand gegen Franco hier auch noch seine Würdigung. Er kämpfte und verlor und blieb doch integer. Ein Hauch von würdiger Melancholie durchzieht Marsés bislang letzten Roman.

Eine solch würdige Melancholie findet sich auch bei der Grand Dame der katalanischen Literatur. Mercé Rodoreda ist 1909 in Barcelona geboren und ihre ersten Bücher erscheinen bereits in den 1930er-Jahren. Nach dem Bürgerkrieg beginnt jedoch ein fast zwanzigjähriges Schweigen (im Exil), welches sie erstmals 1962 mit ihrem wohl berühmtesten Roman Auf der Plaça del Diamant (Suhrkamp Verlag, 1978) durchbricht. Die Lebensgeschichte von Colometa, der Frau aus dem einfachen Volke, ist zwar grundiert von den Ereignissen des spanischen Bürgerkrieges, aber es ist der unmittelbare Alltag und das Empfinden einer Frau, vor allem die Sprache, die diesen Roman zu einem Ereignis machen. Rodoreda bevorzugt einen einfachen, fast kristallinen Stil. Ein schmuckloser Realismus und doch auch lyrischer Ton verbinden sich zu einem eigenen Klang.

Rodoreda siedelt mit ihrer Sprache nahe an der Poesie. Reise ins Land der verlorenen Mädchen (Bibliothek Suhrkamp, 1981) etwa besteht nur aus erzählerischen Miniaturen zwischen Naturbeobachtung und legendenhaften Ereignissen. Auch das soeben übersetzte Buch Weil Krieg ist bestätigt diesen Eindruck. Ein Jugendlicher flüchtet zusammen mit seinen Freunden aus den engen Familienverhältnissen in den (Bürger-)Krieg. Die ersten Schritte erscheinen noch wie ersehnte, verwegene Abenteuer, doch wachsen sich die Szenen des Krieges schnell zu unterkühlt wahrgenommen Phantasmagorien einer grauenhaften und doch auch wieder märchenhaften Welt aus Mord und Totschlag, Inzest und Vergewaltigung, plötzliche Idyllen und sagenhafte Begegnungen werden bei Rodoreda zu einer ungewöhnlichen literarischen Verarbeitung von Krieg. Ihr Roman scheint wie in tiefster Vergangenheit und überzeitlichem Schrecken des Krieges verankert – und wirkt doch auch als der Entwicklungsroman über die Desillusionierung eines jugendlichen Gemüts.

Mercé Rodoreda erlebt noch die Zeit der »Transición«, in ihrer Literatur aber findet sie keinen Niederschlag mehr. Als sie 1983 stirbt, ist sie jedoch längst ein herausragendes literarisches Vorbild für die neue Generation schreibender Frauen. Rodoredas katalanisch geschriebene, fast schon singulär zu nennende Literatur ist ein Treibsatz für eine neue, emanzipatorische Literatur mit weiblichem Blick auf die sich plötzlich überstürzenden Verhältnisse. Zu diesem literarischen Treibsatz gehört auch Nada (Elster Verlag, 1992) der Roman der 1921 geborenen Carmen Laforet. Schon 1944 erschienen, beschreibt sie aus der Perspektive der jungen Andrea die Verhältnisse in Barcelona als eine Familien- und Frauenhölle. Ein »Nichts« meldet sich zu Wort und tritt in Erscheinung. Auch dieser auf Spanisch geschriebene Roman ist wichtig für den Aufbruch der Frauen in der »Transición«. Barcelona ist nun ein Zentrum der Frauenbewegung in Spanien.

Montserrat Roig (geb. 1946) beleuchtet in Zeit der Kirschen (Elster Verlag, 1991) mit der jungen Natalia Miralpeix die faschistisch-autoritären Polizeistaatsmethoden und die allgegenwärtige Unterdrückungskultur. Mit Die violette Stunde (Elster Verlag, 1992) setzt sie die Erkundung der Wirklichkeit mit den Augen einer Frau und die Auseinandersetzung mit spanisch-katalanischer Geschichte fort und lässt darin auch Elemente ihrer Studie Die Katalanen in den Konzentrationslagern als ein verschwiegenes Kapitel des Landes einfließen. Maria Mercé Roca (geb. 1958) wird Bestsellerautorin in Katalonien, weil sie mit Schattenfrauen und Die Spiegelfrau (Eichborn Verlag, 1992 u. 1994) eine verunsicherte Männergeneration schildert, die mit dem neu gewonnenen Selbstvertrauen der Frauen nicht umgehen kann – was auch die Frauen in psychische Krisen stürzt. Maria Jaén (geb. 1962) erzählt in Die verschwiegene Frau (Elfenbein Verlag, 2000) eine Schwestern-Geschichte und Antònia Vicens (geb. 1941) schreibt in 39 Grad im Schatten (Elfenbein Verlag, 2001) über das Fremdenverkehrsmilieu der Sechzigerjahre auf Mallorca; ein Identitätsfindungsroman im Kontrast zwischen altem Inselmilieu und »moderner« Gegenwart. Carme Riera, von der schon im Zusammenhang mit ihrem historischen Mallorca-Roman die Rede war, gehört zu den Schöpferinnen von Frauen-Romanen, in denen die Geschlechterspannung in effektvollen Krimihandlungen durchspielt wird.

Die »Transición«, der Übergang von der Diktatur zur Demokratie, bringt nicht nur die schönen Freiheiten für die Individuen. Das emanzipierte Bewusstsein wird keineswegs zum gängigen Alltag. Schroffer als hierzulande stoßen die Geschlechter in den »Frauenromanen« der 1980er- und 1990er-Jahre aufeinander. Das permanente Missverstehen, Gewalt und Unterdrückung sind allgegenwärtig. Die »Transición« entfesselt die Sex-Märkte, die flächendeckende Ausbreitung der Pornographie, die Internationalisierung der Prostitution und den Mädchenhandel. Barcelona gilt als eine der größten »Höllen« Spaniens. Gerade in Katalonien mit seinen boomenden Tourismusgebieten konzentrieren sich Grund- und Bauspekulation, ballen sich die alten und neuen Seilschaften und Machtgruppen.

Die Geschwindigkeit und Härte, mit der sich die »neuen Verhältnisse« vor allem im Großraum Barcelona ausbreiten, haben ihren nachdrücklichsten Niederschlag in den Kriminalromanen von Manuel Vázquez Montalbán (1939–2003), mit seiner Hauptfigur José »Pepe« Carvalho (rororo, versch. Jahrg.). Ehemaliger kommunistischer Widerstandskämpfer und in der Gegenwart der späten 1970er- bis in die mittleren 1990er-Jahre Privatdetektiv mit kulinarischen Neigungen, haben ihn die Verhältnisse so desillusioniert, dass er seine Wohnung regelmäßig mit Büchern aus seiner Bibliothek heizt. Während »Pepe« Carvalho noch immer mit dem romantischen Herzen eines Linken auf politische Intrigen und Verbrechen schaut, die Romane von Vázquez Montalbán also ausdrücklich als »politische Fiction« angelegt sind, herrschen in den Romanen von Andreu Martín (geb. 1949) der nackte Dreck und der blanke Zynismus. In seinen Krimis, etwa Barcelona Connection (Elster Verlag, 1989), wimmelt es von Psychopaten, von Horror und Gewalt und erklingt allenthalben ein infernalisches Gelächter. Dieses reicht bis in das Milieu der Konzept-Künstler, die zusammen mit Sado-Maso-Praktiken gerne auch den Mord als Kunstwerk inszenieren (Aus Liebe zur Kunst, Elster Verlag, 1990). Und gehören diese Romane, weil auf Spanisch geschrieben, etwa nicht zur katalonischen Kultur?

Die Vorstellung von einer autonomen sprachlichen Insel voller kultureller Sonder- und Spezialidentitäten wird in der »postmodernen Gegenwart« einerseits mehr und mehr anerkannt. Es ist also gut, dass Baskisch, Galizisch und Katalanisch offizielle EU-Sprachen geworden sind. Andererseits wurden und werden diese autonomen Realitäten durch die permanente Internationalisierung von Ländern und Regionen auch relativiert. Denn selbstverständlich sind schon die Kriminalromane von Vázquez Montalbán oder Andreu Martín vom hard-boiled-Krimi und der düsteren Sphäre der »Schwarzen Serie« beeinflusst. Und natürlich stehen die jüngeren »Geschichten-Erzähler« wie Quim Monzó (geb. 1952) und Sergi Pàmies (geb. 1960) in der Tradition einer verknappten Short-Story, wie Raymond Carver sie zur Meisterschaft entwickelt hat. Der große Roman über Barcelona (Frankfurter Verlagsanstalt, 1999) löst sich bei Pàmies in einen ironisch gefärbten Erzählkranz mit Barcelona-Colorit auf. Und wenn Monzó hierzulande nun mit seinem kompletten Erzählwerk, also 100 Geschichten, präsentiert wird, kann man vollends seine Verwandtschaft mit spanischer Groteske und spanischem Surrealismus erkennen. Lebende tote Brüder gibt es hier ebenso wie sprechende Räume, karrierebewusste Gedankenleser und eine schier unendliche Variation von scheiternden Beziehungen.

Während bei Monzó die fantasievollen Vignetten und Zinnchen, Muster und Girlanden wie die Umwandlung des katalanischen Jugendstils eines Antoni Gaudí in literarischer Form erscheinen, widmet sich Jordi Puntí (geb. 1967) in Erhöhte Temperatur mit gezügeltem Temperament dem Bewusstseinsstrom in kippenden Partnerschaften. Wann und warum schlagen Leidenschaft in Langeweile und Überdruss um, und warum steht schon immer die oder der Nächste bereit, gerne auch im direkten Umfeld der Ehen und Beziehungen? Hier herrscht, ähnlich wie bei Monzó und Pàmies, jedoch ein Stück weit lakonischer, eine Unverbindlichkeit der Gefühle vor. Unter der Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit der Beziehungswechsel rumort die Angst vor dem totalen Gefühlsverlust, dem Chaos und der Einsamkeit. Auch dafür gibt es noch einen Beitrag jüngeren Jahrgangs: die Erzählungen von Josan Hatero (geb. 1970). In Dein Anteil daran (Wagenbach, 2005) fallen sie, den amerikanischen Traditionen entsprechend, kürzer aus. Der Museumswärter von Josep M. Fonalleras (geb. 1959) hat das finale Stadium der Einsamkeit und der Ängste schon durch. August & Gustau erzählt in notwendiger Knappheit vom Vertrag mit einem gedungenen Mörderpaar und Hinleben auf den Tag des erwünschten Todes. Dass der Ermordete seine Ermordung dann noch selbst reflektieren kann, gehört zu den besonders raffinierten Bizarrheiten einer haltlos gewordenen Existenz. Hervorstechend katalanisch wirkt das nicht. Vielmehr sehr zeitgenössisch und weltläufig.

Diese Weltläufigkeit liegt den Katalanen näher als ein Spanien der »Reconcista« und ein kastilisches Erbe, das den »Kreuzzug« für eine hehre Tugend hält. Juan Goytisolo (geb. 1931), hat das in seinen frühen Romanen (wie Identitätszeichen oder Johann ohne Land, Suhrkamp 1978, 1981) immer wieder betont. Schon in seinem 1969 zuerst auf Deutsch (!) veröffentlichten Buch Spanien und die Spanier fragt er: »Wäre es nicht besser, statt von Spanien über ›die Spanien‹ zu sprechen?« Und hebt damit sogleich auf die Vielfältigkeit der kultur-geschichtlichen Einflüsse auf der iberischen Halbinsel ab. Das »arabische Erbe« ist ihm wichtiger als kastilische Einigkeit und Stärke, die auch Franco zusammen mit einem eisernen Kriegerkult in den Mittelpunkt seiner Herrschaft stellte. Die »andere Seite« des Mittelmeers, der Maghreb, interessiert Goytisolo mehr. Die »andere Seite« ist später auch der Verbindungspunkt zu den dramatischen Konflikten in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts: die Verteidigung Sarajevos, die Anklage gegen die russische Tschetschenien-Politik, die Kritik der Verachtung »des Islam« und seiner Kulturen. Der Sohn einer großbürgerlichen Familie – seine Mutter stirbt im Bombenhagel der Francisten über Barcelona – geht den Weg des Kosmopoliten. Alles, was eine der besten literarischen Stimmen katalanischer Geburt schreibt, schreibt sie auf Spanisch. Reiches Katalonien!

Besprochene Neuerscheinungen:

Sören Brinkmann: Katalonien und der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte und Erinnerung, Berlin (edition tranvía, Verlag Walter Frey) 2007 (160 S., 17,80 €)

Jaume Cabré: Die Stimmen des Flusses. Roman. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt, Frankfurt am Main (Insel Verlag) 2007 (670 S., 22,80 €)

Josep M. Fonalleras: August & Gustau. Roman. Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke, München (A 1 Verlag) 2007 (116 S., 14,80 €)

Arthur Lehning: Spanisches Tagebuch & Anmerkungen zur Revolution in Spanien, Berlin (edition tranvía, Verlag Walter Frey) 2007 (196 S., 17,80 €)

Juan Marsé: Liebesweisen in Lolitas Club. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz, Berlin (Wagenbach Verlag) 2007 (256 S., 19,90 €)

Quim Monzó: Barcelona und andere Erzählungen. Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke, Berlin (Berliner Taschenbuch Verlag) 2007 (157 S., 8,90 €)

Quim Monzó: Hundert Geschichten. Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke, Frankfurt am Main (Frankfurter Verlagsanstalt) 2007 (800 S., 25,00 €)

Carles Porta: Tor. Das verfluchte Dorf. Aus dem Katalanischen von Charlotte Frei, Berlin (Berlin Verlag) 2007 (366 S., 22,00 €)

Jordi Puntí: Erhöhte Temperatur. Aus dem Katalanischen von Theres Moser, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2007 (208 S., 18,90 €)

Merce Rodoreda: Weil Krieg ist. Roman. Aus dem Katalanischen von Angelika Maass, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 2007 (175 S., 18,80 €)

Josep Maria de Sagarra: Privatsachen. Roman. Aus dem Katalanischen von Felice Balletta, Berlin (Elfenbein Verlag) 2007 (500 S., 25,00 €)

Literatur:

»Und lass als Pfand, mein Liebling, Dir das Meer« und vierzehn weitere Erzählungen aus dem Katalanischen. Ausgewählt und übertragen von Angelika Maass, Frankfurt am Main (Vervuert Verlag) 1988

Katalanische Erzähler. Aus dem Katalanischen übersetzt von Johannes Hösle, Zürich (Manesse Verlag) 1978

David Ginard i Féron: Mallorca während der Franco-Diktatur. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1939-1975, Berlin (edition tranvía) 2001

Norman Lewis: Die Stimmen des alten Meeres, Frankfurt am Main (Insel Verlag) 1997

© Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2007