Jochen Noth

Umfassende Liebe – totale Fassade

Zur Weiterentwicklung der »harmonischen Gesellschaft« in China

Auch während der Olympischen Spiele in Peking wurde die Metapher der »harmonischen Gesellschaft« im Westen gelegentlich zu interpretieren versucht. Aber jenseits von Parteipropaganda fiel den meisten dazu wenig ein. Doch der Begriff, so unser Autor, weist nicht nur geschichtliche Dimensionen auf, er hat auch mit real veränderten Gesichtspunkten in der chinesischen Politik und Gesellschaft zu tun. Die beschworene »Einheit« hat ihre besonderen Dimensionen. Und selbst die »Fassaden« sind zweideutig.

China habe am 12. Mai – dem Tag des großen Erdbebens in Sichuan – die Liebe entdeckt, erklärt der Mann mit der Designerbrille Anfang Juli in einer der vielen Talkshows des chinesischen Fernsehens. Die Liebe nicht nur zu den Einzelnen, zu den Opfern, sondern die Liebe zu allen Menschen, die universelle Liebe. Ein amerikanischer Freund habe zu ihm gesagt: China habe am 12. Mai die gleiche Erfahrung gemacht wie Amerika am 11. September. Einerseits sei das richtig. Denn das amerikanische Volk habe nach dem 11. September die Erfahrung einer großen, die ganze Nation erfassenden Solidarität gemacht. Aber die andere Seite dieser Solidarität sei Hass gewesen. Das sei der Unterschied. China habe die Liebe, die Liebe zu allen Menschen gefunden, ohne Hass.

Der Mann ist kein Pfarrer. Er ist Wissenschaftler an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, einem Braintrust der Kommunistischen Partei Chinas. Er erläutert, wie nach dem Erdbeben in Sichuan und der darauf folgenden in China unerhörten Welle der Solidarität mit den Opfern das Konzept der harmonischen Gesellschaft weiter entwickelt wird, das die KP-Führung unter Hu Jintao zur Richtschnur ihrer Politik gemacht hat.

Es handelt sich trotz der ähnlichen Terminologie nicht um eine Übernahme christlicher Motive. Die Idee von der universellen Liebe als Regulativ der Beziehungen in der Gesellschaft und zwischen Staaten findet sich bei dem klassischen chinesischen Philosophen Mozi und der auf diesen zurückgehenden philosophischen Schule der Mohisten. Konfuzius erwartet soziale Stabilität vor allem von der Beachtung der Hierarchien und der Befolgung der Riten. Im Unterschied dazu sieht Mozi in der vernünftigen, auf materielle Wohlfahrt ausgerichteten Verwaltung des Herrschers einerseits und der Verpflichtung der Untertanen, dem Nachbarn und dem Staat Gutes zu tun, andererseits die Basis für die Wohlfahrt des Landes. Gewalt in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Staaten ist unvernünftig und Verschwendung. Die Denkfigur der universellen Liebe steht sowohl für die vernünftige Politik der Herrschenden nach innen und außen wie für die friedliche Unterordnung des Bürgers unter die Herrschaft und in die Gesellschaft.

Seine Quellen machte der Akademiker in der Fernsehdiskussion nicht kenntlich, genauso wenig wie Hu Jintao den Begriff der harmonischen Gesellschaft aus der konfuzianischen Tradition ableitet. Es handelt sich in der Selbstdarstellung der KP Chinas um die Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus, der Mao-Zedong-Ideen und der Theorie Deng Xiaopings unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen. Gebildeten Chinesen sind die Konnotationen eines Begriffes wie universelle Liebe vertraut. Es kommt aber gar nicht auf die Quellen und irgendwelche Orthodoxien an. Die synkretistische Rhetorik von der harmonischen Gesellschaft greift im kulturellen (Unter-)Bewusstsein der Chinesen liegende Vorstellungen auf, um den zersetzenden und sozial spaltenden Folgen der Modernisierung entgegenzuwirken und um die Rolle der Kommunistischen Partei als Garantin der nationalen Einheit und Größe zu sichern.

Es handelt sich nicht nur um Rhetorik. Die Veränderungen der chinesischen Politik werden bewusst unauffällig vollzogen – ja, wie man unter anderen 1989 gesehen hat, jede »laute« Veränderung wird gewaltsam verhindert –, sie sind aber radikal. Man kann sie nur deshalb nicht als revolutionär bezeichnen, weil der Apparat und das Personal, die die Veränderungen durchführen, und ihre Sprache – Marxismus-Leninismus, Mao-Zedong-Ideen ... – die gleichen bleiben oder sich nur so verändern, dass das herrschende Personal die Kontrolle behält.

Wenn Premierminister Wen Jiabao innerhalb weniger Stunden nach dem Erdbeben vom 12. Mai in das betroffene Gebiet reist und dort erklärt, die Rettung von Menschenleben sei das Wichtigste, ist das im wörtlichen Sinne unerhört. Man vergleiche das mit der blutrünstigen Rhetorik Mao Zedongs, der den Atomkrieg mit der Begründung rechtfertigte, ein paar Millionen Chinesen mehr als beim Feind blieben allemal übrig. Auch die auf das Erdbeben folgende und von Partei und Regierung angeleitete und geförderte Welle der Solidarität und der nationalen Einheit in der Unterstützung der Opfer ist ein unerhörtes Ereignis. Die große Mehrheit der Chinesen überwand für einen Augenblick die tiefen Spaltungen und Risse, die das Land teilen, zwischen Stadt und Land, West und Ost, Reformgewinnern und -verlierern. Sie fanden zum ersten Mal seit langem, wenn nicht überhaupt, zu einer nationalen Einheit, die sich nicht gegen einen äußeren Feind richtete.

Feindesliebe

Seit Jahrzehnten gelten die USA und vor allem Japan als diese Feinde, die China demütigen und es klein halten wollen. Japan war immer wieder Gegenstand von Hasskampagnen im Internet und hässlichen, hetzerischen Demonstrationen.

Anfang Mai, also kurz vor dem Sichuaner Erdbeben, hat Hu Jintao Japan besucht. Beide Länder schlossen umfangreiche Abkommen über gut nachbarliche, ja freundschaftliche Beziehungen und betonten insbesondere ihre gemeinsame Verpflichtung, zur friedlichen Entwicklung in der Region und in der Welt beizutragen.

Dieser Besuch ist der vorläufige Abschluss einer Wende in der Außenpolitik der VR China, die seit dem Amtsantritt von Hu als Staatspräsident 2003 immer deutlicher geworden ist: Zum einen Aussöhnung und enge Zusammenarbeit mit allen Nachbarn und friedliche Lösung aller potenziellen Konflikte mit ihnen. Das gilt für die Großmächte und ehemaligen Feinde Indien, Russland und jetzt auch Japan, das gilt aber auch für die kleineren und Mittelmächte, wie Vietnam und die anderen ASEAN-Staaten, mit denen vielfache Grenz- und andere historische Streitigkeiten bestehen.

Zum anderen nimmt China immer deutlicher Verantwortung bei der Lösung globaler Konflikte wahr. Es füllt mehr und mehr die Rolle eines ständigen Mitglieds des UN-Sicherheitsrates und die Rolle einer Weltmacht aus, die zu sein es schon lange beansprucht. Das zeigt sich nicht nur in der konstruktiven Rolle bei den Streitigkeiten um die atomare Aufrüstung des Iran und Nordkoreas, bei denen es eine Schlüsselrolle hat. Das zeigt sich vor allem auch darin, dass China das insgesamt größte Kontingent an Friedens- und Polizeitruppen der UNO stellt.

Ein wichtiges Motiv für das stärkere internationale Engagement Chinas ist der riesige Bedarf an Energie und Rohstoffen seiner rasch wachsenden Volkswirtschaft. Da dringt es dreist in die abgesteckten Reviere der alten imperialistischen Mächte ein und erntet empörtes Geschrei. Aber es ist nicht erstaunlich, dass China sein Geld und seine preiswerten Konsum- und Rüstungsgüter einsetzt, um Rohstoffquellen und Einflusssphären zu sichern. Da macht es nur, was alle machen. Erstaunlich ist, wie schnell China gelernt hat, sein außenpolitisches Instrumentarium zu verfeinern und die Wahrung der eigenen Interessen mit den Instrumenten der internationalen Konfliktmoderation und des Menschenrechtsdiskurses zu verbinden. Die Zeiten, in denen China machtlos, aber umso lauter den bewaffneten Export der Revolution propagierte, sind schon lange vorbei. Aber auch das Mantra von der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten auf jede Kritik an Drittweltdiktatoren ist weniger zu hören. Längst beteiligt sich China aktiv an den Friedensbemühungen, zum Beispiel im Darfur, und verteidigt dabei diplomatisch geschickt seine eigenen Interessen und die seiner Verbündeten in der sudanesischen Regierung.

»Meister Mo Ti sagte: ›Wenn man andere Staaten wie den eigenen betrachtet und andere Familien wie die eigene und andere Menschen wie sich selbst, dann werden die Feudalfürsten einander lieben und keinen Krieg miteinander führen, und die Familienvorstände werden untereinander Freundschaft pflegen und nicht aufeinander übergreifen, und die Menschen werden einander lieben und nicht schädigen. … und Elend, Übergriffe, Unzufriedenheiten und Hass werden in der ganzen Welt nicht mehr aufkommen können. Dies hat seinen Grund in der gegenseitigen Liebe.‹« (Helwig Schmidt-Glintzer (Hrsg.): Mo Ti: Gegen den Krieg. Diederichs, Düsseldorf/Köln 1975, hier zit. nach http://de.wikipedia.org/wiki/Mozi, dl 080913)

Nur noch autoritärer Staat?

Auch im Innern wirkt sich die Partei- und Regierungspolitik der harmonischen Gesellschaft in vieler Hinsicht positiv aus. Das gilt sowohl für Bemühungen, die Folgen der wirtschaftlichen Turboentwicklung für deren Opfer abzumildern, etwa durch Abschaffung der Landwirtschaftssteuer, verbesserten Arbeitsschutz oder schärfere Umweltschutzgesetze, auch wenn diese Bemühungen insgesamt noch nicht sehr erfolgreich sind. Das gilt auch für das soziale Klima. Dafür ist die Solidarität nach dem Erdbeben in Sichuan, die breite Organisation materieller Hilfe in der ganzen Gesellschaft und die nicht ganz unterdrückte Diskussion über die Gründe für die hohen Opferzahlen in den eingestürzten Schulen ein Beispiel.

Die Solidaritätskampagnen wurden massiv staatlich gesteuert und propagandistisch auf den Lobpreis der Partei umgelenkt. Es ist aber ein Unterschied, ob die Partei für die Vernichtung politischer Gegner mobilisiert oder ob ein Parteiführer erklärt, die Rettung von Menschenleben sei das Wichtigste. Die immer noch überhaupt nicht demokratische KP Chinas hat mit dieser Wendung zur Mitmenschlichkeit ihre Legitimität gefestigt.

In der politischen Wissenschaft wird die politische Entwicklung Chinas vielfach als Transformation von einem totalitären System in einen autoritären Staat beschrieben. Während in einem totalitären System der Bürger so gut wie keine Rechte hat und der Staat jederzeit in die persönlichen, sozialen und beruflichen Verhältnisse jedes Einzelnen eingreift, habe sich der chinesische Staat seit dem Beginn der Reformpolitik aus der Regelung der persönlichen Lebensverhältnisse zurückgezogen. Ein neues Rechtssystem sei entstanden, das dem Bürger, wenn auch noch unvollkommen, Schutz vor staatlicher und krimineller Willkür biete. Es gebe erste Ansätze politischer Mitbestimmung. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Umwelt-NGOs oder landsmannschaftliche Verbände hätten einen nachweisbaren Einfluss auf lokale und nationale Politik. Wenn man die Tabuthemen Separatismus (darunter Tibet und Taiwan) und die Herrschaft der KP nicht berühre, herrsche sogar weitgehende Meinungsfreiheit. Die zivilgesellschaftlichen Kräfte und Tendenzen müssten gestärkt, die Bestrebungen zum Aufbau des Rechtsstaats müssten unterstützt, die leider immer noch nicht recht erkennbaren Bestrebungen zum Umbau der Institutionen und zur politischen Reform müssten gefördert werden, dann bestehe die Chance zu einer weitergehenden Transformation zum demokratischen Rechtsstaat.

Diese Entwicklungen sind unbestreitbar. Dennoch ist die Anwendung der aus der Anschauung der europäischen Geschichte abstrahierten Entwicklungslinie vom totalitären über den autoritären Staat zum demokratischen Rechtsstaat auf China nicht stimmig. Man braucht gar nicht vom System der Administrativhaft oder von der durch das geschriebene Recht kaum verhüllten mafiosen Verfilzung von wirtschaftlichen und politischen Interessen auf regionaler und lokaler Ebene zu sprechen. Man schaue auf die Umwandlung der Stadt Peking in der Vorbereitung der olympischen Spiele.

In der ganzen Stadt gab es keine einzige von einer Straße aus zu sehende Fassade, die nicht neu verputzt worden wäre. Das graue Peking präsentiert sich auf einmal pink, lindgrün und violett. Jede der sich an den Straßen entlang ziehenden kleinen Läden oder Imbissbuden hat einen neuen, in der jeweiligen Straße einheitlichen Putz mit vereinheitlichten und sprachlich korrigierten Schildern bekommen. Nicht anpassbare oder nicht registrierte Buden wurden abgerissen. Die Kosten für dieses Programm einer orwellschen Stadtverschönerung trug nicht die öffentliche Hand. Die griff nur durch, um es durchzusetzen. Die Wohnungen Hunderttausender Pekinger mussten dem Olympic Green weichen. Hunderte von Unternehmen mussten die Produktion einstellen, um schönes Wetter zu machen. Alle Baustellen wurden stillgelegt. Millionen von Wanderarbeitern wurden ausgewiesen und nach Hause geschickt, meist durch Schließung ihrer Unterkünfte und Arbeitsstellen. Die gesamte Einwohnerschaft wurde neu und zum Teil mehrfach registriert und von tatsächlich oder vermeintlich nicht ordentlich Gemeldeten gesäubert. Das öffentliche Leben wurde von engmaschigen bürokratischen Regelungen überzogen – vom Einüben des Schlangestehens an Haltestellen über das Verbot bestimmter Waren bis zur Festlegung überhöhter Preise für im Übrigen meist leer stehende Hotelzimmer.

Das sind Eingriffe in die persönlichen und wirtschaftlichen Rechte der Einwohnerschaft, angesichts derer die Bezeichnung des eingreifenden Staates als autoritär ein Euphemismus ist. Vom Widerstand gegen all diese Maßnahmen war nicht viel zu hören? Ein großer Teil der Pekinger hat die Anstrengungen zur Vorbereitung der Olympischen Spiele begeistert unterstützt. Ganz abgesehen davon, dass die Begeisterung schon im Juli spürbar abgekühlt war, die Zustimmung von großen Teilen der Bevölkerung zu einem Regime sagt nicht viel über seinen Charakter aus.

Die teleologische Reihung totalitärer Staat, autoritärer Staat, demokratischer Rechtsstaat lässt sich so nicht auf das heutige China anwenden. Ihr liegt die Idee von der Trennung von Staat und Gesellschaft zugrunde, eine der wichtigsten Errungenschaften der westlichen Gesellschaften seit der Aufklärung. Danach haben sich die zivilen Gesellschaften aus der totalen Durchdringung durch traditionelle Autoritäten gelöst, in langen Kämpfen ihre Souveränität in die staatlichen Konstitutionen umgesetzt und schließlich die Errichtung des demokratischen Rechtsstaats erreicht.

Einheit von Volk, Staat und Partei

Im allgemeinen Bewusstsein in der VR China steht dagegen die Identität von Staat und Gesellschaft außer Frage. Für Land und Staat gibt es im Chinesischen nur ein Wort, guojia, sie sind begrifflich nicht getrennt. Die zentrale Legitimation der KP Chinas ist, dass sie diese Einheit als führender Organismus verkörpert. Das »Neue China« ist die Einheit von Land/Staat und Partei. Das berechtigt die Partei, jeden, der diese Einheit in Frage stellt, mit aller Gewalt zu bekämpfen, etwa Separatisten. Das verpflichtet sie aber auch, für die Einheit zu sorgen, indem sie drohenden Spaltungen durch extreme Unterschiede im Lebensniveau, durch Umweltkatastrophen und so weiter, versucht zu überwinden. Die von der KP Chinas unter Hu Jintao ausgerufene »harmonische Gesellschaft« ist zwar nicht wirklich eine Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus, sie ist aber eine konsequente Schlussfolgerung aus der Rolle, in der sich die KP von Anfang an als Erbin der untergegangenen Herrschaftsformen gesehen hat, nachdem die offen diktatorischen und gewaltsamen Formen der Herrschaft (»Klassenkampf«) gedroht hatten, das Land zu zersprengen.

Über diese für das westliche Denken befremdliche Sicht herrscht in der chinesischen Gesellschaft Konsens. Sie wird auch von den allermeisten derjenigen geteilt, die Widerstand gegen Staats- und Parteivertreter leisten, sei es, dass sie gegen bürokratische Willkür, gegen Korruption oder gegen Rechtsbrüche kämpfen. Fast immer ist diese Opposition eine patriotische, sie stellt die Identität von Gesellschaft, Staat und Partei nicht in Frage. Den vielen, oft großen und gewaltsamen Protestbewegungen der vergangenen Jahre war der Appell an die Partei- und Staatsführung gemeinsam, die von den örtlichen Kadern gestörte Ordnung wieder herzustellen. Allenfalls wird bei größeren Katastrophen davon gemunkelt, und das wahrscheinlich auch vor allem in den Organen der Chinawatcher, dass das Mandat des Himmels verloren gehen könne. Das heißt aber, dass das Mandat besteht.

Das in den USA und Europa gültige Missverständnis über die chinesische Demokratiebewegung, Opposition, Samisdat-Bewegung, wie auch immer, zeigt die immer noch vorherrschende Wahrnehmung der modernen chinesischen Kunstszene. Als die ersten Gruppen nonkonformistischer Künstler in den Achtzigerjahren mit modernen Darstellungs- und Aktionsformen provozierten, wurden sie in der Tat scheel angesehen und gelegentlich auch verboten. Die Wenigsten verstanden ihre Kunst aber als politisch oder gar oppositionell. Die Künstler entdeckten rasch, dass das Etikett Dissident ihren Wert auf den ausländischen Märkten steigerte, und sie nutzten das. Inzwischen ist die zeitgenössische und formal fortgeschrittene Kunstszene ein Teil einer blühenden Kulturindustrie geworden, in die die Politik allenfalls noch mit Markt- und modernen administrativen Mitteln eingreift, etwa durch Erhöhung der Mieten oder die Umnutzung von Atelierflächen. Wenn tausendfach Maoköpfe gemalt werden, ist das keine Kritik des Maoismus, sondern Maos Vergötzung. Aber auch die originellen und innovativen Köpfe unter den chinesischen Künstlern stehen fest auf dem Boden des Systems, wenngleich mit zunftgemäßer Selbstironie.

»›Ich bin immer in der Mitte‹, sagte Ai [Weiwei] … auf die Frage, warum er als Regierungskritiker sich auf ein solch hochoffizielles Projekt wie den Flughafen überhaupt einlässt: ›Ich bin immer ein Kollaborateur. Ich bin immer ein Kritiker.‹« (Mark Siemons in der FAZ, 16.8.08)

Der ungenaue Blick vieler Chinaexperten auf China trägt zu den schrecklichen Vereinfachungen bei, die im Westen über das Land im Umlauf sind. Das Bild schwankt zwischen kritikloser Verherrlichung und Verteufelung. Diese Haltungen erkennen dem chinesischen Volk entweder das Recht oder die Fähigkeit ab, selbst seinen eigenen Weg zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu finden. Sie verstellen das Verständnis dafür, wie sich in einem politischen System ohne Gewaltenteilung Veränderungen durchsetzen können, die sowohl durch die wirtschaftliche Entwicklung und die Einbindung in die Weltwirtschaft wie durch Veränderung und häufig Verschärfung der inneren Widersprüche als Folge von Industrialisierung und Urbanisierung ausgelöst werden.

Das Regime verarbeitet diese Veränderungen mit Strategien, die dem einen Zweck dienen, seine Macht zu erhalten, die es aber auch selbst verändern. Es zieht sich aus Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, etwa dem Privatleben, zurück, es verändert seine Interventionsformen und greift zu fiskalischen Maßnahmen statt zu Methoden der administrativen Verordnung in der Wirtschaftslenkung. Es fördert eine Ausbreitung moderner Informationstechnologien mit dem Ergebnis, dass es heute in China mehr Internetnutzer gibt als in den USA. Über 100 Millionen dieser Internetnutzer betreiben eigene Blogs. Es versucht die damit zugängliche Fülle an Information und Meinung nicht mehr nur mit Zensur zu kontrollieren, sondern durch Input von großen Mengen an eigener Information, die die mögliche Kritik oft schon vorwegnimmt und auch kritische andere Stimmen zulässt. (Wenn ein Thema nicht mehr genehm ist, wie z. B. die nationalistische Kritik an Japan, dann wird es in der Tat zensiert. Die Provider werden angewiesen, jede Äußerung zu dem Thema zu löschen. Aber diese Zensurversuche gelingen nie vollständig.)

Die Fassade als Stütze

Diese Politiken stützen sich auf einen breiten Konsens, ja auf die Identifikation der großen Mehrheit der Chinesen mit dem System. Diese Identifikation wird durch die Ideologie der harmonischen Gesellschaft und ihre neu-alte Weiterung um die universelle Liebe gefestigt. Diese Identifikation erlaubt dann auch das rücksichtslose Vorgehen gegen die Störer der nationalen Einheit, gegen die, die sich der umfassenden Liebe von Partei und Staat entziehen, wie die angeblichen tibetischen Separatisten.

Der von Partei und Regierung geschürte aggressiv-nationalistische Sturm, den die Ereignisse in Lhasa im März und die Reaktionen des Auslandes in China hervorriefen, war auch ein Zeichen dafür, dass die nationale Einheit immer noch zu großen Teilen auf der Furcht vor Demütigungen durch das Ausland beruht. Er zeigte, wie wenig sicher sich Partei und Staatsführung der Haltbarkeit der von ihnen beherrschten Strukturen sind. Die Propaganda der harmonischen Gesellschaft und der universellen Liebe sind Elemente in der Fassade der nationalen Einheit, die das nicht sehr stabile Gebäude von Staat und Gesellschaft stützen soll.

Diese Vorstellung von einer Fassade entspricht nicht dem im Westen herkömmlichen Verständnis von ihrer Aufgabe. In China arbeitende Architekten berichten, dass dort beim Bauen von der Fassade her gedacht wird. Nicht die Funktion und die Konstruktion bestimmen die Form, sondern die Fassade, das Gesicht eines Gebäudes ist entscheidend für seinen Wert. Das Ergebnis war lange Zeit und ist künftig noch eine katastrophale Bauqualität hinter den Fassaden. Inzwischen aber, so wird berichtet, gibt es mehr und mehr auch gute Architektur. Geplant wird immer noch vom äußeren Anschein her, aber die dahinter liegenden Räume sind besser nutzbar und haltbarer. Und oft wird dann auch die Fassade besser, ehrlicher gewissermaßen.

Die Olympischen Spiele von Peking kann man als ein schönes Beispiel politischer Fassadenarchitektur lesen. Aus Sorge, etwas falsch zu machen und vor der Welt das Gesicht zu verlieren, wurden die Spiele und mit ihnen die gastgebende Stadt fast zu Tode geplant. Es kam nur darauf an, dass die Spiele reibungslos verliefen und die Projektion eines modernen, weltoffenen, ja sogar fröhlichen Bildes von China nicht gestört wurde. Das hat geklappt. Es gab keine nennenswerten Störungen.

Was auf die Fassade projiziert und von ihr aus in das Land und in die Welt zurückgestrahlt wurde, war zweideutig. Einerseits wurde die Sicherheitsparanoia und damit die Gewaltsamkeit des Systems gerechtfertigt. Andererseits wurde die Botschaft von der einen Welt, von Internationalität und Ökologie verkündet. Das entspricht dem zweideutigen Bild, das die chinesische Führung insgesamt abgibt, wenn sie in ihre Selbstdarstellung und dann in ihr System selbst zunehmend systemfremde Bauteile aufnimmt, um das System zu sichern.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2008