Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Wandel in Zentralasien

Kasachstan, ein Land so groß wie Westeuropa, boomt. Jeder möchte von den weltweit größten Ölfunden seit dreißig Jahren profitieren. Doch die Spielregeln haben sich verändert. Wenn die italienische Holding ENI die Produktion auf dem Ölfeld Kashagan wieder verzögert, zitiert der Economist (15.8.) die Drohung des Premiers Massimow, würde man »eine mögliche Neubesetzung des Betreibers nicht mehr ausschließen«. Der Deutschlandfunk berichtet (19.8.) über die veränderte Lage: »Die Verträge mit den heutigen Anteilseignern an den kasachischen Ölfeldern – neben ENI haben Exxon Mobil, Shell, Total oder Chevron Mehrheitsanteile – fielen nicht immer zu Gunsten Kasachstans aus. Dass das wirtschaftlich erstarkte Kasachstan jetzt Selbstbewusstsein zeigt, sei deshalb verständlich.«

Ähnliches in Turkmenistan. Dieses Land soll, so Elke Windisch in ihrem Buch Zentralasien. Politische Reisereportagen (Dagyeli Verlag, 2007), die weltgrößten Gasmengen besitzen, zudem reich an noch abzubauenden Bergschätzen – Mineralien, Edelmetalle, Kohle und Gold – sein.

Der Reichtum war schon immer da, doch heute, befindet Credit Suisse in seinem Online-Magazin (http://emagazine.credit-suisse.com/) zeige Investitionskapital angesichts der günstigen Gewinnmargen weit höhere Risikobereitschaft, geht in unsichere »Frontier«-Staaten, ziehe Kapital mit für den Aufbau einer Infrastruktur. Trotz der Probleme mit den unsicheren Transportwegen, dem geringen »Humankapital« in den wenig bevölkerten Ländern, den klandestinen Verhältnissen in der Bürokratie. Credit Suisse hütet sich freilich, politische Aussagen zu treffen. Seine Kernaussage: »Die Weltwirtschaft befindet sich zurzeit noch in den Anfängen des Rohstoff-Superzyklus, der im Jahr 2000 begann. Der Zyklus ist auf die enormen Infrastrukturinvestitionen in China, Indien und anderen Schwellenländer zurückzuführen. ... Zuvor hat die Welt nur zwei vergleichbare Rohstoff-Superzyklen erlebt: den ersten im Zug der Industrialisierung in den USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts, den zweiten beim Wiederaufbau in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Beide Zyklen erstreckten sich über einen Zeitraum von 15 Jahren.«

Dreitausend Kilometer weiter, in der Nähe des Dreiländerecks Russland-Mongolei-China, kommt Andrzej Stasiuk in die Grenzstadt Zabaikalsk. Auf einer Anhöhe mit weiter Aussicht bleibt der Fahrer stehen: »Dicht hinter der Grenze wuchs eine Stadt in die Höhe. Sie stieg einfach plötzlich aus der Steppe auf. Hochhäuser schossen aus dem grünen Nichts in den Himmel, eine chinesische Abart von Wolkenkratzern mit glänzenden Kuppeln und Dachtürmchen. ... Die Stadt hieß Manjur. Richtiger wäre Fata Morgana. Die wichtigste Botschaft von Manjur lautete: ›Russland, du hast keine Chance.‹« (FAZ, 13.9.)

Vorurteile eines Polen? Aber das knüpft an jenen Gouverneur der Pazifikregion an, der vor vier Jahren schon mitgeteilt hat, dass noch östlicher, in Wladiwostok, nichts mehr geht, dass Jahr für Jahr Zigtausende die Provinz verlassen: »Uns bleibt nur die gelbe Hoffnung«, sagt Wiktor Gortschakow (Zeit, 17.6.04). Denn Russland steht, so Florian Willershausen von der Wirtschaftswoche (26.8.), nur auf einem Bein, da »das Wachstum der russischen Ökonomie völlig vom Rohstoffhandel abhängt«. Wenig Innovation, hohe Verschuldung, wachsende Armut. Seine Volkswirtschaft liegt hinter der Italiens, Frankreichs oder Großbritanniens: »Objektiv gesehen, ist Russland neben Amerika, China und Europa natürlich ein Hänfling.« Und kommt trotz ehrgeiziger Pläne nicht wirklich auf die Sprünge: China investiert lieber in den ehemaligen Hinterhof als in Russland selbst.

Das Ende der Sowjetunion brachte die unabhängigen Republiken auf die Weltbühne, die inzwischen »selbstbewusste Subjekte« geworden sind und nicht mehr nur Gegenstand strategischer Interessen. Jede Politik, die diese Eigenständigkeit unterschätzt, müsse letztlich scheitern, schreibt Michael-W. Keil, während der Clinton-Administration US-Botschafter in Turkmenistan, in der Caucasus Review of International Affairs (2/08).

Keils Skizze lässt erahnen, wie schwierig es in diesem riesigen Raum für äußere Mächte ist, Fuß zu fassen oder gar eine ganze Region zu dominieren. In den »Kernländern« selbst existiert eine Vielfalt an Ethnien und Sprachen, an Differenzen in der Religion und in den Lebensformen, Differenzen auch in den Beziehungen zwischen den Ländern selbst, die sich, obwohl mit Russland und China in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zusammengeschlossen, sehr unterschiedlich orientieren, nie jedoch nur nach einer Seite. Dazu kommt, dass sie umgeben sind von mächtigen Anrainerstaaten. Gleich vier Mächte besitzen Atomwaffen: Russland, China, Indien und Pakistan, eine fünfte, Iran, strebt danach. Alle diese Staaten sind einflussreiche Player in der Region. Ein näherer Nachbar ist die Türkei, durch deren verstärkte Präsenz sich Widersprüche vertiefen, die sich unmittelbar nach dem Kaukasus-Krieg ausgewirkt haben, als Russland feindselige Maßnahmen gegen den türkischen Transferhandel ergriff. Umgekehrt existieren nationalistische Träume einer Union der Turkvölker bis zum Tien Shan unter der Führung der Türkei. In der Praxis bleibt es bei friedlicher Warenkonkurrenz.

Unter den Staaten gibt es strittige Grenzfragen. Der usbekische Politologe Guli Yuldasheva (CRIA 3/08) verweist auf die willkürlichen Grenzziehungen in Zentralasien während der Stalin-Ära, die für die heutigen Staatsgebilde verantwortlich sind, typische postkoloniale Probleme. Ein zentraler Fall ist die Aufteilung des öl- und gasreichen Kaspischen Meers sowie dessen rechtliche Stellung. Umstritten sind auch die Transportwege für Energie. Hier hat sich die ursprüngliche Rivalität zwischen Russland und USA insofern abgeschwächt, weil neue Konkurrenten ins Spiel gekommen sind, Privatinvestoren und Staatskonzerne aus China, Indien, Japan, Iran, Türkei und Europa. Ausgleichende Gerechtigkeit, gegenseitige Abhängigkeit: Für Zentralasien (und Europa) ist die Nabucco-Pipeline von Baku ans türkische Mittelmeer wichtig, für Moskau die Ostsee-Pipeline. Schwierig gestalten sich die Beziehungen mit dem Iran, wobei Religion eine eher geringe Rolle spielt. Vorwiegend handelt es sich um ökonomische Konkurrenz; der Iran versucht in die zentralasiatischen Märkte zu kommen, kann aber oft mit technologisch überlegeneren Konkurrenten nicht mithalten. Überhaupt kommt in dieser Aufschwungphase der Wirtschaft ein enormer Stellenwert zu.

Doch gibt es hier Unterschiede, die letztlich politisch sind. Seit langem schon haben sich die USA im Nahen und Mittleren Osten festgesetzt. Eine Reihe von US-Strategen – der bekannteste ist Zbigniew Brzezinski – vertreten die Auffassung, dass die USA ihren Supermacht-Status nur bewahren können, wenn sie in der entscheidenden Weltregion »Eurasien« entsprechend präsent sind. Die Flanken der beiden Großmächte Russland und China sind das »geografische Gelenk der Geschichte« (Sir Halford J. Mackinder, 1904), in das schon das glücklose britische Empire hineinschneiden wollte, woran die Sowjetunion gescheitert ist, und was den chinesischen Politologen Xuewu Gu zur Warnung veranlasst, diese Region unbedingt als »weiche Pufferzone« zwischen Russland und China zu betrachten (»China und die Großmächte: Gegenseitige Wahrnehmungen am Beginn des 21. Jahrhunderts«). Die Bush-Administration hatte im Zuge ihrer »grand strategy« geplant, in Zentralasien weit stärker Einfluss zu nehmen (siehe dazu auch Rajan Menon in Kommune 2/04), um der Shanghai-Organisation das Wasser abzugraben und sie zusehends durch eine eigene »Great Central Asia«-Organisation zu ersetzen. Im Internetportal www.caucaz.com schildert Renaud Francois das Scheitern dieser Strategie mit Verweis auf die Beijinger Volkzeitung: »Aufgrund von historischen und kulturellen Gründen bedeuten den zentral- und südasiatischen Ländern Begriffe wie gemeinsame Identität nichts, und sie haben keinerlei Erfahrung mit intensiver Zusammenarbeit. Das gegenseitige Vertrauen zwischen Indien und Pakistan ist nicht groß genug, um grenzüberschreitende infrastrukturelle Projekte in großem Maßstab zu verwirklichen. Afghanistan ist die umstrittenste, ja verletzlichste ›Schachfigur‹ im amerikanischen Kalkül. ›Great Central Asia‹ betrachtet dieses Land als hauptsächliches Durchgangsterritorium für Transport und Pipelines ...«

Yu Bin empfiehlt in der Asia Times (8.9.) den USA, in Bündnisfragen ihre Freund-Feind-Einteilung aufzugeben und verweist auf die SCO, die Interessen ihrer Mitglieder zu bündeln, ohne die speziellen Einzelinteressen einzuschränken. Und als Übung für ein »multipolares Weltkonzept« wurde Iran, Pakistan und Indien der Beobachterstatus eingeräumt.

Russland gegen Amerika, so lautete fast schon traditionell die zentralasiatische Partie. Wenn nun die USA geschwächt sind, dann hat Russland an Macht gewonnen – oder? Aber in Zentralasien hat sich wirklich viel verändert. Beim jüngsten Gipfel der SCO in Duschanbe Anfang September erhoffte sich Medwedew Schützenhilfe für seine Kaukasus-Politik. Doch am 5.9. meldet RIA Novosti: »Nicht einmal Verbündete unterstützen Medwedew. Es ist Russland nicht gelungen, bei den Teilnehmern des am Vortag durchgeführten SCO-Gipfels in Duschanbe die Unterstützung seiner Handlungen im Kaukasus zu erreichen, schreibt die russische Zeitung Kommersant ... ›Alle SCO-Länder haben ihre problematischen Regionen. Wenn eines der Länder die Unabhängigkeit der kaukasischen Republiken anerkennt, werden sofort danach Ansprüche an sein eigenes Territorium gestellt‹, äußerte der Gesprächspartner von Kommersant aus der russischen Delegation betrübt. ›So wird sich China mit der Frage nach der Unabhängigkeit von Tibet und der autonomen Region Xinjiang konfrontiert sehen.‹«

Russland ist in der Shanghai-Organisation, Russland hat mit China eine »strategische Partnerschaft«, die Timothy Garton Ash in der Los Angeles Times unter Berufung auf Robert Kagan als »alternative Version des autoritären Kapitalismus« geißelte. Doch das Erstarken der zentralasiatischen Staaten, das intensivere Auftreten Chinas, vor allem in Turkmenistan und Kasachstan, der wechselhafte, aber zunehmende Einfluss der Türkei, das Auftreten Indien, und Japans sowie die neuen und nicht mehr imperial steuerbaren Bündnissysteme scheinen den Einfluss Moskaus in seinem ehemaligen Hinterhof einzufrieden.

Chinas Auftreten wird, wie Mark Leonard in der britischen Zeitschrift Prospect (März 2008: »China’s new intelligentsia«) schreibt, von »ruan quanli« getragen, das dem Softpower-Konzept von Joseph Nye nahe kommt: »Während amerikanische Diplomaten über Regimeänderung sprechen, zollen ihre chinesischen Pendants Respekt für die Souveränität von Staaten und die Verschiedenartigkeit von Zivilisationen. Während die US-Außenpolitik Sanktionen und Ächtung einsetzt, um politische Ziele zu erreichen, besteht das chinesische Angebot in Hilfsmitteln und Handel ohne Vorbedingungen. Während Amerika seine Präferenzen, sein nationales Interesse seinen widerstrebenden Verbündeten auferlegt, scheint China sich eine Tugend daraus zu machen, zumindest den anderen Ländern zuzuhören.« Und, nicht zu vergessen, mittlerweile massive Investitionen locker zu machen, für Erschließung, Infrastruktur und ein neues Pipeline-Netz, das an Sibirien vorbeiführt.

Klar ist, dass es in Zentralasien erst schwache zivilgesellschaftliche Ansätze gibt, dass diese Staaten allesamt noch weit von demokratischen Formen und Einhaltung menschenrechtlicher Grundsätze entfernt sind. Andererseits ist zu bemerken, dass eine Reihe asiatischer Bündnisse, ob ASEAN oder eben auch die SCO, in ihren Umgangsformen sich immer wieder auch an der Europäischen Union orientieren, die trotz »imperialer Schwäche« eine eher wachsende Strahlkraft besitzt. Im Schwinden sind, trotz der Bedeutung der Rohstoffe, die Zeiten einer hegemonialen Geopolitik. Vielleicht wäre eine ähnliche Organisation wie die SCO auch in der Kaukasus-Region sinnvoll. Bei allen Bruchlinien zwischen Russland, Georgien, Armenien, Aserbeidschan, Iran und Türkei könnte ein Regionalforum helfen, dass über gravierende Probleme überhaupt einmal gesprochen und ein Instrumentarium des zivilen Umgangs eingerichtet wird.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2008