Günter Franzen

Hessisch Uganda

Ein ethnoanalytischer Selbstversuch oder Szenen aus der Welt der Exklusionen und Abstürze

Dass die soziale Stufenleiter glitschiger geworden ist und der Absturz von überall möglich erscheint, ist die Kernerfahrung, die unser Autor in etwa 2000 menschlichen Begegnungen in einer psychosozialen Einrichtung im Rhein-Main-Gebiet gemacht hat. Demnach sind das »kleine Elend« und der »Ausschluss« mehr als sozialpolitische Komponenten eines Kritikseminars über den entfesselten Kapitalismus. Ein Blick aus der gesellschaftskritischen Vogelperspektive verkennt das alltägliche Drama der komplexen Konfliktbearbeitung des Alltags. Ist das »Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft« nicht schon längst erreicht? Bleibt da nur noch die Praxis des reflektierenden Mitleids?

Mit brillanter Lakonie führt der am Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Soziologe Heinz Bude in seiner im Frühjahr erschienenen Studie Die Ausgeschlossenen(1) den Leser in die Randbezirke der Republik, von ökonomischer Marginalisierung, zivilem Verfall und räumlicher Abschottung gezeichnete Areale, die nicht selten nur einen Steinwurf weit entfernt sind von den pulsierenden, dem kollektiven Selbstbild schmeichelnden urbanen Zentren der Initiative, Innovation und Prosperität. Ob Metropole oder Provinzstadt: Nach zwanzig Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln habe man die gesellschaftliche Mitte hinter sich gelassen und lande in Zonen mit hoher Arbeitslosigkeit oder massiver Unterbeschäftigung, wo die Straßen dreckig, die Haltestellen demoliert, die Häuser mit Graffiti übersät und die Schulen marode seien. »Die Menschen, die man in den Billigmärkten für Lebensmittel trifft, wirken abgekämpft vom täglichen Leben, ohne Kraft, sich füreinander zu interessieren oder aufeinander zu achten, und lassen gleichwohl keine Anzeichen von Beschwerdeführung oder Aufbegehren erkennen. Die Jugendlichen hängen herum und warten darauf, dass etwas passiert, die Männer mittleren Alters haben sich ins Innere der Häuserblocks zurückgezogen, und die Frauen mit kleinen Kindern sehen mit Mitte zwanzig schon so aus, als hätten sie vom Leben nichts mehr zu erwarten.«

Budes Essay, nach Bekunden des Autors ein Stück öffentlicher Soziologie, die sich nicht an ein Fachpublikum wendet, sondern an Bürgerinnen und Bürger, denen die öffentlichen Angelegenheiten am Herzen liegen, wehrt sich gegen eine Vereinnahmung durch Parteien, die sich die Systemüberwindung auf die Fahnen geschrieben haben und hält Distanz zu sozialwissenschaftlichen Forschungen im Dienst eines politischen Auftrags. Es gehe, so Heinz Bude, zunächst nicht um Vorschläge, wie man es besser machen könne, sondern erst einmal ganz einfach um die nüchterne Darstellung dessen, was Sache ist.

Der Vorteil dieser Betrachtungsweise besteht darin, dass sie einen davor bewahrt, sich am Geländer gängiger Kapitalismuskritik durch die gesellschaftliche Wirklichkeit zu hangeln, und dazu ermutigt, den Blick unbefangen auf die Ausschnitte der gesellschaftlichen Realität zu richten, die einem zugänglich sind und in denen man lebt und arbeitet.

Ein mir täglich zugängliches Wirklichkeitssegment, die von Wiesbaden über Frankfurt nach Hanau führende S 9, ist ein betagtes Transportmittel des öffentlichen Personennahverkehrs, das sich im 15-Minuten-Takt scheppernd und kreischend durch den rechtsmainigen Untergrund wühlt, seit Inbetriebnahme der Strecke keine Waschstraßse gesehen hat und dessen regelmäßige Verspätung und häufiger Totalausfall der Deutschen Bahn als Betreiber keine Lautsprecherdurchsage wert ist. In den überquellenden Abfallbehältern findet sich neben den einschlägigen semipornografischen Druckerzeugnissen wie Praline, Super-Illu und Blitz-Tipp die gesamte Palette der Upper und Downer des Niedrig- und Nulllohnsektors, Markennamen, die den Konsumenten lautmalerisch auf den Leib geschrieben scheinen: Red Bull, Mezzo-Mix, Alter Kanzler, Jägermeister, Kümmerling, Kleiner Feigling. Im Winter beglücken die Heizaggregate den durchfroren hereinstolpernden Fahrgast mit der im untergegangenen Ostblock üblichen Einheitstemperatur von 40 Grad Celsius, und wenn im Hochsommer der Geruch ranziger Transpirationsrückstände mit dem Duft herbfrischer Discounter-Deos eine atemberaubende Verbindung eingeht, sehnt der Berufspendler die baldige Ankunft im Zielbahnhof herbei: Brüder-Grimm-Stadt Hanau, nach dem Autokennzeichen HU im Volksmund auch Hessisch Uganda genannt.

Zwischen Alis Kebap-House, vor dem sich die christlichen Zecher beim frühen Dosenbier lauthals Mut für den Besuch der nahe gelegenen Filiale der Bundesarbeitsagentur antrinken, und dem Service Point der örtlichen Verkehrsbetriebe erhebt sich auf einer grob geschotterten, von Unkraut gesäumten Brachfläche ein garagenähnlicher Flachbau, der das Hanauer Nachtleben beherbergt und mit der lädierten Neonaufschrift Mister X um die männliche Laufkundschaft wirbt. Zu der Vorstellung, dass schon die 1957 verblichene Rosemarie Nitribitt in dieser verwitterten Produktionsstätte flüchtiger Lust ihre Lehr- und Wanderjahre absolviert und ihre Haut zu Markte getragen haben könnte, gesellt sich im Verlauf der anschließenden Busfahrt durch das Zentrum der bleibende Eindruck, dass es nicht nur diese geschundene, von zahllosen gleichartigen architektonischen Relikten entstellte Stadt ist, die sich von der Einebnung durch alliierte Bomberverbände am 19. März 1945 nie so recht erholt hat, sondern dass es erhebliche Teile der Einwohnerschaft selbst sind, die ins Mahlwerk einer entgleisten Zeitmaschine geraten zu sein scheinen, in der Nachkriegsdepression, soziale Desintegration, Überalterung und unterschichtspezifische Verarmung nahtlos ineinander übergehen und ein Klima stumpfer Gleichgültigkeit verbreiten.

Auf dem »Freiheitsplatz«, der als ein Spielball konkurrierender wirtschaftlicher Interessen seit der Währungsreform vergebens auf seine Rückverwandlung in eine bürgerliche Flaniermeile wartet, ergehen sich gegelte und tiefgebräunte Halbwüchsige unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die noch vor Überwindung der ersten Hürde basaler Kulturtechniken die Schul- mit der Sonnenbank vertauscht haben und in den Frontscheiben der Internet-Cafés, Telefon-Shops, Spielhallen und Fast-Food-Filialen so hingebungsvoll den perfekten Sitz der unter tätowierten Steißgeweihen platzierten Strassgürtel und den Faltenwurf der schneeweißen Kapuzensweater überprüfen, als sei jederzeit mit einem Stellungsbefehl von Dieter Bohlen zu rechnen: Deutschland sucht den Superstar. Die Jungen sehen alle ein bisschen aus wie Kevin Kuranyi oder Mark Metlock und die Mädchen wie die auf Schlampe gestylten Opfer von Germany’s Next Top Model. Kinderseelen in Frauenkörpern, denen bereits in der Vorrunde die Verachtung der Juroren und die geifernde Häme der Studiogäste sicher sind.

Der zerbrechliche pubertäre Narzissmus und die gestanzte Gleichförmigkeit eines kulturindustriell vorgefertigten kollektiven Körperideals bewahren diese in ihrer virtuellen Spiegelwelt eingeschlossenen Heranwachsenden vor der bitteren Einsicht, dass es womöglich lediglich eines Verhütungsunfalls oder des mehrmaligen unbedachten Griffs ins Alkopop-Regal bedarf, um das Verfallsdatum der süßen Haut zu erreichen und sich in das erbarmungswürdig graugesichtige Heer der Ausgeschlossenen eingereiht zu sehen, das nicht nur den Hanauer »Freiheitsplatz«, sondern all die toten Winkel unserer Städte bevölkert, in die sich kein Kamerateam verirrt: »Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner und was sie fühlen, kümmert keinen.«

Nun wird sich nicht nur der auf die Imagepflege bedachte sozialdemokratische Oberbürgermeister Hanaus fragen, welcher Teufel den bei ihm als psychologischer Berater in Brot und Arbeit stehenden Autor geritten haben mag, sich zu einer solch düsteren Einschätzung der ihn umgebenden sozialen Zustände hinreißen zu lassen. Auch der an der ethisch und wissenschaftlich bewährten Methode der teilnehmenden Beobachtung orientierte Angehörige der psychosozialen Berufe wird den Verdacht äußern, dass die Wahrnehmung des Verfassers einer erheblichen, der Vogelperspektive geschuldeten Verzerrung unterliegt. Luftaufnahmen aus großer Höhe: oben das kalt registrierende Auge des Betrachters, unten das ameisenhafte Gewimmel der einsamen Masse. Kurz und deutlich: Das Gegenteil ist der Fall.

Von dem gesellschaftlichen Teilbereich eines sozialen Brennpunkts, in den es mich im letzten Jahrzehnt meines psychotherapeutischen Berufslebens verschlagen hat und den ich mit Hilfe der von Heinz Bude formulierten Grundannahmen zu begreifen suche, lässt sich dreierlei sagen: In ihm kommen die Menschen nicht gut weg. In ihm kommen wir alle nicht gut weg. In ihm komme auch ich demzufolge nicht gut weg. Weniger pathetisch spricht Bude von dem »kleinen Elend«, das in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Feldern nistet. Er nennt den ewigen, zur unerreichbaren Ordinarienherrlichkeit emporstarrenden Oberarzt, die verbitterte, akademisch vorgebildete Schreibkraft, den auf der Vorortstrecke hängen gebliebenen Zugbegleiter, die vom »Weiblichkeitswahn« zermürbte Hausfrau und Mutter mit Universitätsabschluss. Ein mehr oder minder normales Unglück, das allen davon kündet, dass »die soziale Stufenleiter glitschiger geworden ist und der Absturz von überall möglich scheint«.

Der Glauben dass mich nichts so leicht aus der Bahn werfen könne, kam mir im Verlauf der Jahre 2000 bis 2002 abhanden. Nach circa zwanzig Berufsjahren in verschiedenen Bereichen des akademischen Mittelbaus erhielt ich zusammen mit allen nicht verbeamteten Kollegen des Medizinpsychologischen Instituts des Uniklinikums Frankfurt auf Empfehlung einer externen Organisationsberatungsfirma nach dem Tod des Lehrstuhlinhabers die Entlassungspapiere, weil das überholte Qualifikationsprofil der verbliebenen Mitarbeiter mit dem fortschrittlichen Marktprofil des Klinikums nicht kompatibel war. Die durch die Freisetzung ausgelöste Beunruhigung hielt sich zunächst in Grenzen, da mich eine auf positiven Erfahrungen gründende Blauäugigkeit zu der Annahme verführte, dass sich in absehbarer Zeit etwas Neues ergeben und alles irgendwie ins Lot kommen würde. Es ergab sich nichts, und zwölf Monate und zehn Bewerbungen später teilte mir der zuständige Fallmanager mit, dass ich unvermittelbar sei; ein Befund, an dem auch durch die Aufnahme in das Seniorenprogramm 50 plus, eine Lohnsubventionierung aus Mitteln der Arbeitsförderung, nicht zu rütteln war. Nach zwei Jahren, kurz vor der Herunterstufung in die Arbeitslosenhilfe, konnte ich von Glück sagen, dass ich in der Psychologischen Beratungsstelle des Diakonischen Werks Hanau auf einen Arbeitgeber und auf Kollegen stieß, denen ich nicht zu alt, nicht zu teuer und nicht zu verbittert war.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen.« Selbst wenn diese elegischen Zeilen aus Rainer Maria Rilkes Herbstgedicht, die auf ihre Weise die Erfahrung der transzendentalen Obdachlosigkeit des auf die eigene Biografie zurückgeworfenen Einzelnen thematisieren, den literarischen Straftatbestand des Kitsches erfüllen sollten, scheint es unabweisbar, dass keine gesellschaftlichen Milieus mehr existieren, die ihre Angehörigen vor dem allgegenwärtigen Gefühl des Driftens bewahren könnten. Es beherrscht die Unterprivilegierten und die Industriefacharbeiter, die psychosozialen Dienstleister der Sozialarbeiter, Ärzte, Therapeuten und Lehrer nicht weniger als die bildungsbürgerlichen Professoren, Pfarrer und Rechtsanwälte; es sitzt den Managern und Bankern genauso im Nacken wie den Besitzbürgern und es schärft in jedem Milieu die Witterung für die überall lauernde Gefahr, durch eine einzige falsche, sei es überstürzte, verzögerte oder unterlassene Bewegung ins Abseits zu geraten.

Heinz Bude, der sich nicht im lyrisch überhöhten Pessimismus verliert, hat im Rahmen seines Essays aus einer 2006 von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Untersuchung »Gesellschaft im Reformprozess«, bei der 3000 wahlberechtigte Deutsche befragt wurden, Typen des politischen Urteils und der sozialmoralischen Orientierung destilliert, in denen sich dank der drastischen Zeichnung der Steckbriefe jeder Leser mühelos wiedererkennen kann. Ganz oben verortet sich der »selbstgerechte Leistungsindividualist«.Er fährt grundsätzlich auf der Überholspur, liebt den Markt, hasst den Staat und verachtet den Wohlfahrtsempfänger, der ausgehungert gehört und dem nur durch die Peitsche des Mangels beizukommen ist. Ihm folgt der aus der Vollerwerbsmitte stammende »zufriedene Aufsteiger«, der zwar glaubt, dass jeder seines Glückes Schmied ist, aber nicht ausschließen mag, dass man selbst dann unter die Räder kommen kann, wenn man immer ein Eisen im Feuer hat. Im weiten Abstand zu diesen Stützen der Gesellschaft bewegt sich der »selbstgenügsame Traditionalist« als geringfügig Beschäftigter oder Kleinrentner durch das untere Viertel der Gesellschaft. Ein überzeugter Nullsummenspieler, der davon ausgeht, dass »die da oben« das verprassen, was eigentlich ihm zusteht. Vorwiegend im deutschen Osten ist der »autoritätsorientierte Geringqualifizierte« beheimatet. Er sehnt sich nach dem starken Staat, pendelt im Wahlverhalten konsequent zwischen der gewendeten SED und der NPD hin und her und sieht im Fremden – sei es in Gestalt des Ausländers oder des Westdeutschen – den Feind, der ihm das Wenige streitig macht, was ihm geblieben ist. Dieses Tableau politischer Typen wird ergänzt vom Angehörigen des »engagierten Bürgertums«, dem ich mich weitläufig verwandt fühle und der von Bude mit einer gewissen Süffisanz »der Kerngruppe der moralischen Empfindsamkeit« zugeordnet wird. In dieser linksliberalen Gruppe, auf die die Botschaft der sozialen Spaltung besonders alarmierend wirkt, sind Lehrer, Ärzte und Therapeuten überdurchschnittlich vertreten. »Ihre persönliche Sensibilität«, so Bude, »hängt mit den beruflichen Interessen zusammen: Die Angehörigen der psychosozialen Dienstklasse können sich mit den Erkenntnissen über den sozialen Ausschluss deshalb nicht abfinden, weil die Ausgeschlossenen vermehrt in ihre Praxen und Dienstzimmer drängen.«

Im Verlauf der zurückliegenden knapp sieben Jahre haben unter Einbeziehung von Partnern und Angehörigen circa 2000 Menschen an die Tür meines Beratungszimmers geklopft und mir Einblick in ihre soziale und seelische Lage gewährt. Es ist mir nicht möglich, seriöse Angaben über den Anteil der Exkludierten zu machen, aber ich kann die Vermutung verantworten, dass sich der Prozentsatz der von gesellschaftlichem Ausschluss bedrohten Klienten in diesem Zeitraum von 10 auf 30 von Hundert erhöht hat und dass die mittlerweile nahezu durchgehende Verschränkung psychischer, sozialer und ökonomischer Konfliktlagen in ihrer Komplexität hohe, nur mit Mühe und Not erfüllbare Anforderungen an die fachliche Kompetenz und mentale Kondition der Therapeuten stellt. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, hat für diejenigen seiner Schüler, die nach dem Kollaps der Weltwirtschaft den Platz hinter der Couch räumten und sich ins Zentrum der damaligen sozialen Brandherde begaben, ermutigende Worte gefunden:

»Die Möglichkeit der analytischen Beeinflussung beruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, die man als ›analytische Situation‹ bezeichnen kann. Sie erfordert die Ausbildung gewisser psychischer Strukturen, eine besondere Einstellung zum Analytiker. Wo diese fehlt ... muss man etwas anderes machen als Analyse, was dann in der Absicht wieder mit ihr zusammentrifft.«(2)

Zu der Behauptung, dass das vage umschriebene »Andere«, auf das ich mich im Umgang mit den mir anvertrauten Menschen eingelassen habe, nicht nur in der guten Absicht, sondern auch in der Wirklichkeit der nachfolgend vorgestellten Fälle(3) am Ende über die Wahrung eines psychodynamischen Grundverständnisses hinaus mit der Analyse wieder zusammengetroffen ist, möchte ich mich allerdings nicht versteigen. Um der von Stadt und Landkreis als Geld- und Auftraggeber vertraglich festgelegten Verpflichtung nachzukommen, mindestens zwei Drittel der Bruttoarbeitszeit im unmittelbaren Klientenkontakt einzusetzen, sehe ich mich als zu Abstinenz und methodischer Sorgfalt verpflichteter Gruppenanalytiker zunehmend in die Rolle eines im Akkordtempo arbeitenden Durchlauferhitzers gedrängt, der mit dem Zorn des Dompteurs und dem Eifer des Gesetzeshüters in einer Art von Triage die Spreu vom Weizen zu trennen hat. Die vorübergehend ins Straucheln geratenen Motivierten, Schwingungsfähigen, Mobilen und Flexiblen werden auf die Beine gestellt. Die abgestürzten Fremdgeleiteten, Unbeweglichen, Ängstlichen und Engstirnigen müssen sehen, wo sie bleiben.

Die Hand, die mir Frau Demirkan, eine zierliche und ansprechend gekleidete Frau, zur Begrüßung reicht, ist schrundig und fühlt sich an wie raues Leder. Ihr Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, und weil sie den Augenkontakt scheut, bringe ich meinen Stuhl in eine abgewandte Position, die es ihr ermöglicht, meinem Blick auszuweichen. Nach ihrer Verheiratung mit einem zwanzig Jahre älteren, in Deutschland als Bauhelfer tätigen entfernten Verwandten, siedelt sie 1979 mit 17 Jahren von Anatolien nach Hanau über und arbeitet seither mit drei kurzen schwangerschaftsbedingten Unterbrechungen in den bürgerlichen Wohnvierteln Wilhelmsbad und Hohe Tanne als Putzfrau. Da ihr Mann lediglich die Miete zum Lebensunterhalt beisteuert, ist sie gezwungen, bis zu acht Putzstellen wöchentlich anzunehmen, um die fünfköpfige Familie zu verköstigen und einzukleiden. Nach der Frühberentung des Mannes im Jahr 1998 weigert sich die Klientin, mit ihm und den beiden älteren Söhnen in die Türkei zurückzukehren, weil sie dort unter die Fuchtel der Schwiegermutter zu geraten droht und befürchtet, das Haus nicht mehr unbeaufsichtigt verlassen zu dürfen. Seither lebt sie mit dem jüngsten Sohn und dessen Pitbull- Terrier in einer beengten Zwei-Zimmer-Wohnung. Medeni,(4) 25, »ein guter Junge mit schlechten Freunden«, wird von dem despotischen, nach einem Arbeitsunfall physisch stark beeinträchtigten Vater mit harter Hand erzogen. Nach dessen Abreise verweigert er sich vollends den schulischen Anforderungen und verliert die Unterstützung der von den Sozialen Diensten eingesetzten studentischen Lernhelferin, die in dem von Frau Demirkan mitgeführten Schlussbericht ausführt, dass sie diese Betreuung nicht fortsetzen möchte, weil sie sich angesichts seiner Wutausbrüche und seiner Verschlossenheit ohnmächtig fühlt.

Nach dem vom Staatlichen Schulamt angeordneten »Ruhen der Schulpflicht« rücken Mutter und Sohn noch näher zusammen, und Medeni errichtet im Zusammenleben mit der Mutter sein tyrannisches Regime. Er plündert den von ihr stets wieder gefüllten Kühlschrank, verfüttert die Lebensmittel an den Kampfhund, trommelt die Mutter nach seinen nächtlichen Streifzügen durch die lokale Drogenszene aus dem Bett und nötigt ihr die Zubereitung warmer Mahlzeiten ab. Die gewaltförmige Entladung dieses oral gefärbten inzestuösen Dramas findet drei Tage vor meinem Gespräch mit Frau Demirkan statt. Nach der Sperrung seines Handys weigert sich die Mutter, die auf dreihundert Euro aufgelaufene Rechnung des Mobilfunkanbieters zu begleichen. Daraufhin rastet er aus, zertrümmert auf der Suche nach Bargeld die Kücheneinrichtung, beschimpft die Mutter unflätig und schlägt mit der Hundeleine auf sie ein. Frau Demirkan gibt zu erkennen, dass sie das Gespräch nur auf Druck einer ihrer Arbeitgeberinnen gesucht habe, einer mütterlichen Freundin, die ihr angedroht habe, sie zu entlassen, wenn sie sich weiterhin ungeschützt den Attacken ihres Sohnes aussetze und nichts für sich tue.

Am Ende des tonlos vorgetragenen Berichts schaut mich Frau Demirkan mit einem demütigen Blick an, unter dem – wie mir scheint – ein leiser Triumph durchschimmert: »Na, jetzt fällt Ihnen wohl auch nichts mehr ein.« Das trifft zu, und ich spüre, dass es dieser kleinen und zähen, von schwerer Arbeit, seelischer Not und materiellen Entbehrungen gezeichneten Frau gelingt, eine undurchdringliche Aura der Zerbrechlichkeit herzustellen, die es jedem professionellen Gegenüber verbietet, konfrontierende, geschweige denn aufdeckende Fragen zu stellen. Draußen schreit ein Kleinkind nach seiner Mama, das Kaffeegeschirr klappert, die Zeit verrinnt, die Geräusche verebben und ich sage auf gut Glück in die Stille hinein: »Sie schmeißen ihn raus, oder er wird sie totschlagen.« Und weil sie nicht antwortet, setze ich hinzu, dass ich ihn in der nächsten Woche in der Beratungsstelle erwarte – und zwar allein.

Der Junge kommt zwar Schlepptau seiner Mutter, aber er kommt, und sie sucht ihn unablässig redend dazu zu bewegen, den Kampfhund neben der Garage der Beratungsstelle an die Kette zu legen und dem Berater in den ersten Stock zu folgen. Medeni reicht mir zögernd sein schlaffes Patschhändchen, ein fünfundzwanzigjähriges orientalisches Riesenbaby in blütenweißem Nike-Outfit; die großen, von langen Wimpern gesäumten braunen Augen blicken mit reptilienhafter Trägheit durch mich hindurch. Einer von vielen Experten, die im Lauf des zurückliegenden Jahrzehnts an der Bastion seiner sukzessiv sich verhärtenden Abwehr zerschellt sind. Um dieses Schicksal abzuwenden und dem antizipierten Abbruch vorzubeugen, verwickle ich ihn in ein zäh verlaufendes Frage- und Antwortspiel, das um den fernen Vater, die großen Brüder, sein Verhältnis zur Arbeit und die Beziehung zu den Kumpeln kreist, mit denen er seine Tage und Nächte am Hanauer »Freiheitsplatz« verbringt.

Er antwortet in kaum verständlichen, vernuschelten Drei-Wort-Sätzen, die mich gegen meinen ursprünglichen Impuls nötigen, ihm immer mehr auf den Pelz zu rücken. Gefangen im Duktus des wachsenden wechselseitigen Widerwillens gebe ich die verkrampfte Hab-Acht-Haltung nach einer halben Stunde auf, und als ich mit der Frage herausplatze, wie er sich unterstehen konnte, seine Mutter zu schlagen, stiert er mich mit einem spürbaren Anflug von Hass und Verzweiflung an und flüstert mehrmals: »Die macht mich fertig, die macht mich fertig«, um anschließend wieder in Apathie zu versinken. Dieses vorübergehende Aufglimmen einer gefühlsmäßigen Regung ermöglicht es mir, meine negative, von Resignation, Ekel und Geringschätzung diktierte Gegenübertragung zumindest ansatzweise für die Klärung der institutionellen, interpersonellen und intrapsychischen Konfliktdynamik verfügbar zu machen. Die mit der Chronifizierung der Delinquenz des Jugendlichen einhergehende Unfähigkeit der professionellen Helfer, Medeni zugleich als Täter und Opfer wahrzunehmen und ihn als ein eindimensionales, von primitiver Gier und Gewalt getriebenes Monster zu den Akten zu legen, verleugnet die Möglichkeit, dass das von ihnen von der Grundschule bis zur Lehrwerkstatt präferierte und von Medeni regelmäßig durchkreuzte Programm des grenzenlosen Verstehens den unbewussten Bestrebungen der Mutter kollusiv zuarbeitet. Das in immer neuen Anläufen präsentierte Warenangebot professioneller Hilfe stellt, so ist zu befürchten, eine rationalisierte Fortsetzung des mütterlichen Pamperns und Päppelns mit anderen Mitteln dar.

Da ich im Gespräch mit Mühe herausgehört habe, dass Medeni gerne den Führerschein machen würde, komme ich auf die Idee, ihn mit einem mir bekannten kroatischen Fahrlehrer zusammenzubringen, ein ruhiger und ausgeglichener, mit dem normativen Kodex des Balkans vertrauter Mann seines Alters, der das Zeug hat, den türkischen Irrläufer behutsam und entschlossen an die Straßenverkehrsordnung und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Regelwerk heranzuführen. Eine Stunde vor dem anberaumten Termin platzt meine therapeutische Männerfantasie. Frau Demirkan teilt mir mit, dass Medeni trotz ihrer Ermahnungen nicht aus dem Bett gefunden hat, eine Woche später leidet er unter einem grippalen Infekt, beim letzten Anruf versichert mir die Mutter, dass sich ihr Sohn bei ihr entschuldigt und versprochen habe, den Kontakt zu den »schlechten Menschen« seiner Clique abzubrechen: »Alles ist wieder gut.« Meine schriftliche, an Medeni gerichtete Einladung bleibt unbeantwortet. Der Junge gerät mir aus den Augen. Seine Spur verliert sich. Gemäß der für Beratungsstellen gültigen Datenschutzrichtlinien wird seine Akte nach sechs Monaten gelöscht.

Der große, wegen seiner tiefen Einsichten in die frühe Mutter-Kind-Beziehung gerühmte englische Analytiker D. W. Winnicott hat ein Konzept der »antisozialen Tendenz« entwickelt, die er als einen »Hinweis auf Hoffnung« sieht, insofern das Kind durch sein zerstörerisches Verhalten eindeutige Reaktionen provoziert, so, als suche es nach einem sich ständig erweiternden Rahmen, einem Kreis, dessen ursprüngliche Form die Arme der Mutter gewesen seien. »Man kann eine Reihe erkennen«, notiert Winnicott und zählt ausgehend vom Leib der Mutter auf: »... die Arme der Mutter, die elterliche Beziehung, das Elternhaus, die Familie einschließlich Vettern und anderer Verwandten, die Schule, der Wohnort mit der Polizeistation und schließlich das Land mit seinen Gesetzen.«(5) Nach meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass nicht nur Medeni, sondern eine besorgniserregend große Zahl seelisch missbrauchter männlicher Kinder in den Festungen einer malignen Symbiose verschwinden und weder die Chance haben, mit den Vorzügen eines sich ständig erweiternden gesellschaftlichen Bezugsrahmens in Berührung zu kommen, noch jemals »das Land mit seinen Gesetzen« zu erreichen.

Herr Hammerschmitt wird 1954, ein Jahr nach dem Tod Stalins, in Kasachstan geboren. Sein Vater kehrt 1953 nach zehnjährigem Aufenthalt aus dem Schweigelager Workuta zurück und stirbt 1955 an den Folgen der Haft. Drei Familienangehörige haben die 1941 erfolgte Deportation in ein an der Kolyma gelegenes Goldbergwerk nicht überlebt. Nachdem der Absolvent einer Militärakademie erfährt, dass er als Deutscher von der Pilotenausbildung ausgeschlossen ist, schließt er 1977 in der Fakultät für Verkehrssysteme der TU Irkutsk, wo er seiner späteren Frau begegnet, das Studium als Diplomingenieur ab und wird 1978 vom Luftfahrtministerium an den Flughafen Sotschi am Schwarzen Meer berufen. Hier steigt er in den folgenden Jahren zum stellvertretenden Leiter der Flugsicherung auf; eine Karriere, die 1990 mit der Selbstauflösung der Sowjetunion endet. Da er sich und seine Familie zunehmenden Repressalien und Schikanen durch die russische Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt sieht, kehrt er mit Frau, drei Kindern und den greisen Großeltern 1992 in das Land zurück, das seine Vorfahren, gläubige Mennoniten, zweihundert Jahre zuvor verlassen mussten, weil sie von der preußischen Regierung an der Religionsausübung gehindert wurden.

Die Kehrseite des gelobten Landes lernt Herr Hammerschmitt in der Hanauer Schwarzenbergstraßse kennen. Weil im dortigen Übergangswohnheim für Spätaussiedler Drogendealer und jugendliche Gewalttäter ihr Unwesen treiben, bangt er um das Seelenheil seiner Kinder und entschließt sich, das unbezahlte, von einem Aeroflot-Piloten vermittelte Wiedereinstiegstraining im Sicherheitsbereich der Fraport AG abzubrechen, um das Familienleben in geordnete Bahnen zu lenken. Da die in der Grundschule von Wachenbuchen vakante Hausmeisterstelle mit der Zuweisung einer geräumigen Dienstwohnung verbunden ist, zieht er 1993 in das vor den Toren Hanaus gelegene Fachwerkstädtchen um. In dieser anscheinend heilen Welt lebt sich die Familie schnell ein. Die Kinder gedeihen, Frau Hammerschmidt verdingt sich als Seniorenbetreuerin, ihr Mann ist sich für nichts zu schade und erfreut sich als Mädchen für alles allgemeiner Beliebtheit. Jenseits seiner Hausmeistertätigkeit ist er überall anzutreffen, wo es in der Gemeinde etwas zu richten, zu organisieren oder zu reparieren gibt. Schulleiter und Ortsvorsteher versichern sich auch privat gern seiner kostenlosen Dienste und laden die Objekte gelungener Integration regelmäßig zum Essen ein.

Die glückliche Zeit der Hammerschmitts endet im Herbst 2004. Nach diffusen Beschwerden wird bei Frau Hammerschmitt ein Darmkarzinom im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Chemo- und Strahlentherapie schlagen nicht an, zwölf Monate später gilt die Patientin als austherapiert und wird nach Hause entlassen. Ihr Mann überwacht die Dosierung der Schmerzmittel, richtet das Frühstück für die in Frankfurt arbeitenden und studierenden Kinder und bereitet in der Mittagspause ein Essen zu, das seine Frau nicht bei sich behalten kann. Bis zum Zubettgehen bastelt er an seinen Flugzeugmodellen herum und liegt anschließend mit offenen Augen neben seiner Frau, die im Dämmerzustand leise und unablässig stöhnt. Auch in dieser Situation bewährt sich, was sein bisheriges Leben prägte: Haltung. Wer oder was aber hält ihn?

An einem Tag im Dezember des Jahres 2005 kommt es zwischen dem Hausmeister und der Schulsekretärin zu einer folgenschweren Annäherung. Die beiden sind beauftragt, den Weihnachtsbasar der Einrichtung vorzubereiten, die Aula zu schmücken, die Verkaufsstände aufzubauen und die Elternaktivitäten zu koordinieren. In der Mittagspause trinken sie zusammen ein Bier und kommen überein, sich zu duzen. Da Herr Hammerschmidt nach einer durchwachten Nacht keine festen Nahrungsmittel zu sich genommen hat, führt der Genuss des zweiten Bieres zu einem spontanen Kontrollverlust. Beflügelt vom trauten Du und vom Alkohol lässt er sich zu einer Zudringlichkeit hinreißen und küsst die Sekretärin gegen ihren Willen mehrmals auf den Mund. Nachdem sie sich seiner erwehrt hat, geht er nach Hause und betrinkt sich bis zum Umfallen. Dieser unangemessene Durchbruch unerfüllter Nähebedürfnisse zeitigt einen schweren Kater, massive Schamgefühle und die Vorladung durch den Schulleiter, dem bereits am Vormittag des nächsten Tages die schriftliche Beschwerde der Sekretärin vorliegt. Im Personalgespräch äußert der Vorgesetzte seine tiefe Abscheu, zeigt sich von dem begangenen Vertrauensbruch sehr betroffen, kündigt ihm die Freundschaft auf und macht die Weiterbeschäftigung von einem umfassenden Schuldbekenntnis sowie der eingehenden psychologischen Aufarbeitung des Vorfalls abhängig.

Ich lerne Herrn Hammerschmitt als einen antiquierten Menschen kennen, der mit zweihundertjähriger Verspätung in der deutschen Gegenwart angekommen ist. Ein akkurat gekleideter, gequält unter sich blickender, ins Wanken geratener Patriarch, der zur Rechtfertigung seiner Entgleisung weder die mir weidlich bekannte schlechte Kindheit noch den Schrecken der politischen Verfolgung bemüht, sondern sich in der ihm eigenen Schlichtheit zum Verstoß gegen ein göttliches Gebot bekennt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib. Im Verlauf der ersten Gespräche gewinne ich den Eindruck, dass dieser mit einem gusseisernen Über-Ich hinlänglich gestrafte Klient durch konfrontative Deutungen vollends in die Enge und damit in den Suizid getrieben würde, und beschränke mich darauf, ihm einen Raum für das Nachdenken über seinen Werdegang zur Verfügung zu stellen. Da Herr Hammerschmitt von seinem Vorgesetzten regelmäßig einbestellt wird, um über die erzielten Behandlungsfortschritte zu berichten, erfahre ich, dass der Schulleiter mit der von mir gewählten Beratungsstrategie höchst unzufrieden ist, und bitte ihn deshalb nach der Schweigepflichtentbindung durch den Klienten zur Klärung seiner Erwartungen in die Beratungsstelle.

Herr Homberger, ein sanfter, durch die Studenten- und Frauenbewegung geprägter Antipädagoge, steht spürbar unter Druck. Die Vertreterin der Schulaufsichtsbehörde hat ihm geraten, dem Hausmeister fristlos zu kündigen, weil bei einem »Mann seines Zuschnitts und seiner Herkunft« jederzeit mit einem Rückfall zu rechnen sei. Die bedrängte Sekretärin gibt ihm zu verstehen, dass ihr der Hausmeister Angst mache und sie sich weder auf seine Entschuldigung noch auf ein gemeinsames Gespräch einlassen könne, weil der Überfall die Erinnerung an einen im Kindesalter erlittenen sexuellen Missbrauch wachgerufen habe. Herr Hammerschmitt selbst bereue zwar seine Tat, nähre aber durch seine emotionale Verschlossenheit und die Einsilbigkeit seiner Mitteilungen den Verdacht, es bei einem oberflächlichen Bekenntnis belassen zu wollen. Mit meinem Vorschlag, darauf zu verzichten, einen wenig zuverlässigen Akt demonstrativer Zerknirschung zu erzwingen und stattdessen über eine Analyse der Psychodynamik der Paarbeziehung zu einer realitätsnahen Einschätzung des Vorfalls zu gelangen, finde ich kein Gehör und bestätige den Eindruck, eine offenkundige sexuelle Nötigung verharmlosen zu wollen. Da es mir nicht gelingt, Herrn Homberger zu verbergen, dass mir die strafrechtliche Kalibrierung des Ereignisses völlig unangemessen erscheint und ich mich überflüssigerweise dazu hinreißen lasse, ihm den Unterschied zwischen psychologischer Aufarbeitung und Teufelsaustreibung zu erklären, eskaliert der Konflikt, und der Schulleiter droht, sich bei der Dekanin des Kirchenkreises Hanau, deren Dienstaufsicht ich unterstehe, über diesen Fall von »frauenfeindlicher Männerkumpanei« zu beschweren. Nach dem Schlagabtausch macht sich zwischen den auf unterschiedliche Weise mit moralischer Empfindsamkeit geschlagenen Alt-68ern eine Ratlosigkeit breit, die über ein langes Schweigen in ein pragmatisches Stillhalteabkommen einmündet. Demzufolge behält Herr Hammerschmitt seinen Arbeitsplatz auf Bewährung und fügt sich dem vom Schulleiter angeordneten Annäherungsverbot. In Zukunft werden die dienstlichen Angelegenheiten zwischen Sekretärin und Hausmeister per E-Mail, Fax und Handy geregelt. Dieser laue Kompromiss zwängt die Akteure in ein Täter-Opfer-Schema und beraubt sie der Möglichkeit, ihre neurotischen Konfliktbearbeitungsmechanismen durchzuarbeiten und zu überwinden; die bürokratische Scheinlösung schürt das Unbewusste und bekommt auf lange Sicht weder dem Hausmeister noch der Sekretärin. Der unbeugsame Russlanddeutsche verkümmert nach dem Tod seiner Frau zusehends unter einer Larve serviler Ergebenheit und wird im Zustand depressiver Erstarrung unerreichbar für therapeutische Interventionen. Die in ihrer körperlichen Integrität verletzte Frau erfährt durch den Triumph, die Lage durch die jederzeit mögliche öffentliche Entlarvung des vermeintlichen Triebtäters zu kontrollieren, eine nur vorübergehende Genugtuung, weil ihr sexuelles Trauma und seine Reinszenierungen davon unberührt bleiben.

Der Ausgang der Geschichte hinterlässt einen faden Nachgeschmack und legt die Vermutung nahe, dass der bis zur Ächtung reichende soziale Ausschluss nicht immer auf die anonymen Kräfte des Marktes oder auf Nebenwirkungen der Globalisierung zurückzuführen ist. Die im psychosozialen Dienstleistungssektor weit verbreitete Neigung, die Komplexität zwischenmenschlicher Krisen und Konflikte mit Hilfe feministischer Ideologie zu reduzieren, hat für die involvierten Männer verheerende Folgen: Sie gelten durch ihre bloße Geschlechtszugehörigkeit – wie nicht nur die durchgehend matrikonforme Praxis der Sorgerechts- und Umgangsregelung im Scheidungsfall beweist – weniger als Teil eines Problems, sie sind das Problem, das wie in einem von Viren und Trojanern befallenen Betriebssystem nur durch Isolierung oder Löschung zu beseitigen ist.

Auf dem Weg in den ersten Stock gerät Frau Riedmüller in Atemnot, lehnt es aber ab, umzukehren und mit mir ein Zimmer im Erdgeschoss aufzusuchen. Nachdem ich sie mit dem erbetenen Mineralwasser und Papiertaschentüchern versorgt habe, nimmt sie schluchzend auf der Sesselkante Platz und redet mit schreckgeweiteten Augen und schwerer Zunge ziellos in den Raum hinein. Ihre Tochter habe sie zu mir geschickt, weil die bei mir schon mal in der Eheberatung gewesen sei. Alles für die Katz. Ihr Schwiegersohn, ein Grieche, sei und bleibe ein fauler Sprücheklopfer und Tagedieb. Ihr Mann würde die Zahnpaste mit der Rasiercreme verwechseln. Er sei an Prostatakrebs und Alzheimer erkrankt und hätte eben auf der Fahrt nach Hanau auf dem Zebrastreifen beinahe einen Mann mit Hund überfahren. Sie leide an Lungenfibrose, Altersarmut und einer Depression, gegen die ihr der Doktor Adumbran verschrieben habe, deshalb bleibe ihre Zunge manchmal am Gaumen kleben. Ich sage ihr, dass wir Zeit haben und dass das Wasser gut für den trockenen Mund ist. Sie nimmt mich zum ersten Mal wahr und antwortet: Die Depression wär’ nicht so schlimm, wenn nicht die Altersarmut wäre.

Herr Riedmüller hat beim Reifenhersteller Dunlop 49 Jahre lang am Band gestanden und nebenbei als Mondscheinbauer in Nidderau einen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb unterhalten. Seine Frau hat die beiden Kinder groß gezogen, den Nutzgarten unterhalten und ohne Steuerkarte als Raum- und Altenpflegerin gearbeitet, um zur Tilgung der Hypothekenzinsen für den 1970 errichteten Neubau beizutragen. 1990 ist die Tochter nach einer gescheiterten Ehe mit ihrem zweiten Mann ins Elternhaus zurückgekehrt und zahlt seither für die 4-Zimmer-Wohnung inklusive Umlagen 500 Mark. Obwohl sich seither allein die Heizölkosten verfünffacht haben, macht der »saubere Herr Schwiegersohn« keine Anstalten, den Beitrag aus freien Stücken zu erhöhen. Weil Frau Riedmüller fürchtet, ihre Tochter zu verlieren, vermeidet sie es, das Thema direkt anzusprechen. Aufgrund der Lungenerkrankung entfällt seit zwei Jahren das von ihr erwirtschaftete Zubrot, die Rente ihres Mannes ist geringer ausgefallen als erwartet, sie sieht der nächsten Ölrechnung entgegen wie einem Gottesurteil.

Der von Frau Riedmüller strapazierte Begriff der »Altersarmut«, der aus ihrem Mund wie ein beim Fernsehen aufgeschnapptes Fremdwort klingt, erfüllt für die aufgelöste Klientin eine seelische Ankerfunktion. Er bindet die Panik, die von der 75-Jährigen Besitz ergriffen hat: ein lebenslängliches, sinnloses Gerackere, bei dem man am Ende noch nicht einmal der eigenen vier Wände sicher sein darf. Im Sog dieser Schlussbilanz läuft Frau Riedmüller Gefahr, alle gelungenen Momente ihrer Lebensgeschichte auf dem Weg der nachträglichen Abwertung auszulöschen. Indem ich ihren Redefluss immer dann unterbreche, wenn Personen, Ereignisse oder Vorstellungen in aggressiver Klagsamkeit zu verschwinden drohen, versuche ich mit wechselndem Erfolg, die zerstreuten Fragmente eines entbehrungsreichen Lebens zu sortieren und ihnen eine Fassung zu geben: Halten, durcharbeiten, entgiften.

Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft«: Trotz des differenzierten Dementis legt der Untertitel des Essays von Heinz Bude den Schluss nahe, die Exklusion einzelner Personen und ganzer Personengruppen aus dem Gemeinwesen einem allgemeinen Gerechtigkeitsdefizit der Gesellschaft anzulasten. Die hier ausgebreiteten exemplarischen Fallgeschichten lassen die Vermutung, dass das so genannte Böse in seinen verschiedenen Spielarten relativ sicher von außen über den Menschen kommt, allerdings zweifelhaft erscheinen. In der gegen Ende seines Lebens veröffentlichten Schrift Das Unbehagen in der Kultur verweist Freud darauf, dass uns das Leiden von mehreren Seiten bedroht. Die äußere Natur wütet mit ebenso unberechenbarer wie gleichgültiger Zerstörungskraft; unser Innenleben birgt ein Chaos sich ausschließender Bestrebungen; unsere körperliche Unversehrtheit wird von Schmerz, Krankheit, Verfall und Auflösung belagert; unsere Mitmenschen stehen im Verdacht, uns von klein auf mit Unverständnis und Lieblosigkeit zu peinigen. Freud erkannte in alldem die Zurückweisung dessen, was wir lebenslänglich suchen: die möglichst umstandslose Befriedigung der durch das Lustprinzip hervorgebrachten Bedürfnisse. Das Aufbegehren gegen diese kulturell und psychisch verhängte Beschränkung des Glücks hat bei mir und vielen meiner Altersgenossen in den späten Sechzigerjahren den Wunsch beflügelt, diesen Riegel durch die Abschaffung der Verhältnisse aufzubrechen, »unter denen«, wie Karl Marx es ausdrückte, »der Mensch ein erniedrigtes, gedemütigtes und verächtliches Wesen ist«. Da diese schöne Idee auf dem Weg ihrer praktischen Umsetzung in den diversen politischen Erlösungsbewegungen des 20. Jahrhunderts mitnichten zu einer Beseitigung, sondern vielmehr zum sprunghaften Anstieg der weltweiten Erniedrigtenrate geführt hat, ist es auch dem gläubigsten Linken kaum mehr möglich, der uns umgebenden Gesellschaft, ihren Institutionen und Repräsentanten trotz ihres scheinbar steuerungslosen Draufloswursteln die Anerkennung zu verweigern: Diese Gesellschaft setzt in ihrer ganzen Unvollkommenheit alles daran, die in und zwischen ihren Angehörigen bestehende Grausamkeit möglichst gering zu halten.

Frau Demirkan, Herr Hammerschmitt, Frau Riedmüller und die anderen. Nach meinen begrenzten Erfahrungen in einem südosthessischen Brennpunkt haben sich bei der Arbeit mit Ausgeschlossenen und von Ausschluss Bedrohten folgende Instrumente als untauglich erwiesen: großflächige Weltverbesserungstheorien, die Modulisierung in technokratischen Maßnahmenkatalogen, die Gießkanne konditionsloser evangelischer Menschenliebe und der als Abstinenz getarnte Rückzug ins psychoanalytische Hochgebirge. Weil das so ist, plädiere ich für eine Praxis des reflektierten Mitleids. Fall für Fall durchläuft man im Umgang mit dem Gegenüber das gesamte Spektrum möglicher Empfindungen. Abscheu, Ekel, Ohnmacht, Bewunderung, Zuneigung, Begehren und in Augenblicken besonderer Intensität ist es einem vergönnt, die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden aufzuheben und erstaunt zu erkennen: »Das alles bist du.«(6)

1

Heinz Bude: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München 2008.

2

Sigmund Freud: »Geleitwort«, in: August Aichhorn: Verwahrloste Jugend. Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung, Bern, Stuttgart, Toronto 1987, S. 8.

3

Aus Gründen der Anonymisierung und Diskretion wurden die Namen der Klienten geändert, biografische Daten verfremdet, auf die genaue Bezeichnung der mit ihnen befassten Institutionen verzichtet.

4

Im Türkischen bedeutet der Name Medeni 1. städtisch, zivilisiert, kultiviert, und 2. anständig, höflich.

5

D. W. Winnicott: Aggression – Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz, Stuttgart 1988.

6

Vgl. hierzu: Arthur Schopenhauer: Über das Mitleid, München 2005.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2008