Jürgen Gottschlich

Die vielen Gesichter der Türkei

Zwischen kemalistischem Staatskapitalismus und islamischem Neoliberalismus

Ohne die historische Entwicklung der modernen Türkei ist die Entwicklung des Landes kaum zu verstehen. Geprägt ist diese Entwicklung von den Kontrasten zwischen den einzelnen Landesteilen, von dem Widerspruch zwischen laizistischer Verfassung, oktroyierten kemalistischen Reformen und dem Aufstieg einer islamisch grundierten neuen Partei. Ohne die spezifische Rolle des Militärs, den Militärputsch von 1980, die ökonomischen und sozialen Veränderungen mit Landflucht und Urbanisierung sind der Aufstieg der AKP, der Kulturkampf zwischen Frommen und Säkularen sowie die Abwesenheit einer linken Alternative wiederum nicht zu verstehen. Und inmitten dieses Problembündels droht die Kurdenfrage weiterhin das Land zu zerreißen. Der »taz«-Korrespondent in Istanbul verschafft Überblick und Einblick.

Das herausragende Merkmal der modernen Türkei ist die Ungleichzeitigkeit ihrer Entwicklung und die damit einhergehenden, geradezu unglaublichen Unterschiede sowohl an individuellem Reichtum als auch an Bildung und politischer und kultureller Teilhabe. Um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen reicht es, das Land von West nach Ost zu durchqueren. Eine Fahrt in einem der üblichen Überlandbusse von Istanbul nach Van, der letzten größeren Stadt vor der iranischen Grenze, dauert nicht nur gut 30 Stunden, sondern gleicht auch einer Zeitreise. Wenn man an der Ostgrenze ankommt, hat man das Gefühl, nicht ein, sondern drei Länder durchquert zu haben, so groß sind die Unterschiede. Der Westen bis Ankara sowie die gesamte Ägäisküste rangieren in puncto Modernität und Wohlstand weit über dem Niveau des Balkans, aber auch vieler anderer Regionen Osteuropas.

Wenn man allerdings von Ankara aus weiter nach Osten fährt, ändert sich das schon nach wenigen Kilometern spürbar. Die moderne, von Istanbul kommende Autobahn endet hier. Ab jetzt gibt es zwar immer wieder Schnellstraßenversatzstücke, aber die Qualität der Infrastruktur nimmt kurz hinter Ankara deutlich ab. Das gilt auch für die industrielle Erschließung des Landes. Östlich der Hauptstadt kommt nicht mehr viel, abgesehen von den großen Städten an der Mittelmeerküste wie Adana, Mersin und Iskenderun. Ausnahmen sind Kayseri und Gaziantep, zwei Boomtowns der so genannten islamischen Tiger, Zentren einer neuen, islamisch geprägten Bourgeoisie, auf die der türkische Staat für die weitere ökonomische Entwicklung des Landes große Hoffnungen setzt.

In Kayseri, der Stadt der islamischen Calvinisten, wie sie seit dem Erscheinen einer Aufsehen erregenden Studie vor einigen Jahren häufig genannt wird, sorgen große Textil- und Möbelfabriken für Wohlstand und Auskommen. Modernste Maschinen und eine geradezu unglaubliche Arbeitsmoral, so einer der Autoren der Studie, sind das Fundament des Aufschwungs. Gaziantep, nicht allzu weit von der syrischen Grenze entfernt, ist das Zentrum der verarbeitenden Agrarindustrie für eine große Region und hat in den letzten Jahren von der politischen Normalisierung zwischen der Türkei und Syrien profitiert. Die Stadt ist zum Zentrum des Handels mit den arabischen Nachbarn geworden. Abgesehen von diesen Städten aber ist die anatolische Hochebene östlich von Ankara bereits ein anderes Land als die westliche Türkei. Hier trifft man auf ein klassisches Agrarland, arm, rückständig, traditionell und ziemlich dünn besiedelt. Hierher verirrt sich so gut wie nie ein ausländischer Tourist, und auch im Land selbst genießt die anatolische Hochebene die mit Abstand geringste Aufmerksamkeit. Wenn aus dieser Hochebene dann die ersten größeren Berge herausragen, beginnt der eigentliche wilde Osten des Landes.

Drei Missverständnisse über die Türkei

Das erste Missverständnis ist, dass der Osten der Türkei oft für das Ganze genommen wird. Das liegt daran, dass bei der Berichterstattung über die Türkei meist die Probleme des Ostens im Mittelpunkt stehen und auch die bekannten Mythen und Legenden des Landes von dort stammen. Dieser wilde Osten, der im Süden an Irak und Syrien grenzt, im Osten an Iran und Armenien und im Nordosten an Georgien, fast so groß wie die frühere Bundesrepublik, ist der Schauplatz der Dramen, die noch heute das Bild der Türkei bestimmen. Hier fanden die Deportationen und Massaker an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges statt, hier hat die türkische Republik schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren große kurdische Aufstände blutig niedergeschlagen, hier kämpft die kurdische Arbeiterpartei PKK seit 1984 für einen eigenen Staat.

Während der Südosten überwiegend kurdisch mit einigen arabischen Einsprengseln ist, findet sich im Nordosten ein Gemisch aus Türken, Lasen und Kurden mit einigen wenigen Erinnerungen an die Armenier, die von hier während des Ersten Weltkrieges vertrieben wurden. Der Osten ist nicht nur arm, sondern bis heute die politische und gesellschaftliche Konfliktzone des Landes. Hier gibt es nicht nur die ethnische Auseinandersetzung zwischen Kurden und Türken, hier ist auch die Hochburg der Patriarchen. Es dominieren nach wie vor große Clans, die nicht nur aus westeuropäischer, sondern auch aus westtürkischer Sicht völlig archaisch vor sich hin leben. Patriarchalisches Denken und religiöser Fanatismus gehen gerade in dieser unterentwickelten Region oft eine unheilvolle Symbiose ein. Die extreme Unterdrückung der Frau bis hin zum Mord in der Familie, wenn ein weibliches Mitglied angeblich die Ehre des Hauses verletzt hat, ist ein Phänomen hauptsächlich dieser Region.

Paradoxerweise hat der gewaltsame Kampf der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die als ursprünglich linke Organisation nicht nur für ein unabhängiges Kurdistan kämpft, sondern auch die Befreiung der Frau auf ihre Fahnen geschrieben hatte, bis jetzt erheblich dazu beigetragen, dass die Unterentwicklung festgeschrieben wurde.

Zwanzig Jahre Krieg und Ausnahmezustand in den kurdisch besiedelten Gebieten haben dazu geführt, dass ganze Landstriche entvölkert sind, die traditionelle Viehwirtschaft praktisch nicht mehr existiert und die Menschen stattdessen in den Slums der wenigen größeren Städte der Region leben, die meisten ohne Job und unter elenden Bedingungen. Staatliche Entwicklungsprojekte kamen unter den Bedingungen des Krieges nicht voran, und private Investoren machen bis heute einen großen Bogen um die Region. Auch wohlhabende Kurden legen ihr Geld fast nie in ihrer Heimatregion, sondern immer im Westen oder Süden des Landes an.

Das zweite Missverständnis in der deutschen Wahrnehmung ist es, die Türkei als ein muslimisches Land anzusehen. Im Unterschied zu den arabischen Ländern ist die Türkei jedoch kein islamischer Staat. Kurz nach der Gründung der Republik 1923 wurde das Kalifat abgeschafft und die Scharia als Quelle des Rechts durch eine moderne Gesetzgebung ersetzt. Statt des Islam wurde der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, zu einer der tragenden Säulen des neuen Staates. Die dominierende republikanische Volkspartei unter der Führung des ersten Präsidenten des Landes, Mustafa Kemal, dem späteren Übervater Atatürk, setzte in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts eine beispiellose Kulturrevolution durch. Nicht nur die Republik erhielt eine weltliche Basis, die Kemalisten schafften auch die arabische Schrift ab und führten stattdessen das lateinische Alphabet ein, eine Sprachkommission modernisierte die türkische Sprache und ersetzte viele der persischen und arabischen Lehnwörter, die unter den Osmanen in Gebrauch waren, durch neue türkische Wortschöpfungen.

Der Bruch mit dem Osmanischen Reich ging bis in den privatesten Alltag. Die traditionellen Kopfbedeckungen, der Fes (oder Fez) der Männer und der Schleier der Frauen, wurden 1926 verboten, die moderne Frau sollte ihr Haar zeigen, der moderne Mann einen europäischen Hut tragen. Die Rolle der Frau wurde revolutioniert. Türkische Frauen erhielten das allgemeine Wahlrecht – eher als etliche ihrer westeuropäischen Schwestern –, die moderne Frau sollte raus aus dem Haus und rein ins Erwerbsleben. Mustafa Kemals Adoptivtochter wurde die erste Pilotin des Landes, nach ihr heißt heute der zweite Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen. Doch die kemalistische Revolution hatte einen entscheidenden Geburtsfehler: Sie war eine Revolution von oben.

Im Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1923 hatte Mustafa Kemal die Massen Anatoliens zum Widerstand gegen die ungläubigen Besatzer aufgerufen. Danach, mit Ausrufung der Republik, wollten die Kemalisten die Religion abstreifen wie einen alten Schuh. Das ging nicht ohne heftige Gegenreaktionen. Die Aufstände im Osten waren zunächst weniger ethnisch als vielmehr religiös motiviert. Ihre Anführer waren Scheichs, die für das Kalifat und nicht für einen kurdischen Staat kämpften. Um die Religion in den Griff zu bekommen wurden alle religiösen Orden, die im Osmanischen Reich eine wichtige Rolle gespielt hatten, verboten, und die Ausübung des Glaubens wurde über eine staatliche Religionsbehörde reglementiert. So wurde die moderne Republik gegen breite Volksschichten oft unter Anwendung staatlicher Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Unter diesem Erbe leidet die Türkei noch heute.

Der Kulturkampf zwischen Frommen und Säkularen, zwischen islamischen und laizistischen Parteien, zwischen der seit 2002 amtierenden, islamisch grundierten Regierung und dem Militär ist Ausdruck dieses in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts begonnenen Kampfes. Der Streit um das Kopftuchverbot in Schulen, Universitäten und allen öffentlichen Institutionen wird in der Türkei deshalb so verbissen geführt, weil das Kopftuch diesen jahrzehntelangen Kampf am stärksten symbolisiert. Für den Betrachter von außen ergibt sich ein doppelt verwirrendes Bild.

Die vermeintlich islamische Türkei ist gar nicht islamisch, sondern laizistisch. Doch hier rebelliert nicht der freiheitliche, moderne Teil der Gesellschaft gegen die Anmaßungen der Religion, sondern den Part der Freiheitskämpfer beanspruchen die vermeintlich unterdrückten Frommen, weil der zunehmend erstarrte und dogmatische Kemalismus ihnen verbietet, an der Universität Kopftücher zu tragen und auch auf andere religiöse Bedürfnisse angeblich zu wenig Rücksicht nimmt. Seit 2002 erstmals in der Geschichte der Republik eine islamische Partei allein die Regierung stellte und es dieser Partei bei den Wahlen 2007 dann gelang, mit einem noch besseren Ergebnis ihre Macht zu festigen, beginnt sich aber auch dieses Bild wieder zu verändern. Zwar ist ein großer Teil der Bürokratie und des Militärs nach wie vor kemalistisch dominiert, doch die islamisch anti-kemalistische Regierung ist längst dabei, ihre Leute auf allen Ebenen des Staatsapparates zu platzieren. Aus Sicht vieler Kemalisten ist deshalb in der Türkei zurzeit eine stille Gegenrevolution im Gang, die die Errungenschaften der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts wieder rückgängig machen will. Gegen eine solche Entwicklung steht aus ihrer Sicht als letzte Barriere die Armee.

Das führt zum dritten, häufig gepflegten Missverständnis: die Türkei als vermeintlicher Militär- und Polizeistaat. Die Gründer der Republik waren Militärs und Ex-Militärs, erst in den 1950er-Jahren wurde eine echte parlamentarische Demokratie zugelassen, die das Militär jedoch alle zehn Jahre, zuletzt 1980, durch einen Putsch wieder aus den Angeln hob. Doch daraus resultierten nie anhaltend lange Militärdiktaturen. Die Generäle verstanden und verstehen sich heute noch als Hüter der kemalistischen Grundideen der Republik, die nach ihrem Verständnis nur dann in das politische Geschehen intervenieren, wenn die gewählten Politiker den Kernbestand der Republik angeblich in Frage stellen.

Das hat mit der Geschichte des Landes zu tun, mit den unsicheren Grenzen und mit der teilweise unrühmlichen Rolle, die die zivile Politik immer wieder gespielt hat. Angesichts der vielfachen Turbulenzen in den bald hundert Jahren Republikgeschichte, die nur selten von »Good Governance« geprägt war, versteht sich das Militär als letzter Garant für die Einheit und Unteilbarkeit des Landes und die Aufrechterhaltung der verfassungsrechtlich festgelegten Trennung von Staat und Religion beziehungsweise der staatlichen Kontrolle der Religion. Dieses Selbstverständnis der Offiziere korrespondiert mit der Erwartung und Wahrnehmung der Bevölkerung. Die Armee ist der Stabilitätsfaktor des Landes schlechthin. Bei allen Umfragen, in denen das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen des Landes abgefragt wurde, erreicht die Armee regelmäßig die höchsten Werte. Über 75 Prozent der Bevölkerung trauen der Armee und dem Generalstab und gehen implizit davon aus, dass, falls in der Politik alles schief läuft, die Armee immer noch bereitsteht.

Dass die türkische Armee seit der Einführung des Mehrparteiensystems 1950 bereits dreimal geputscht hat und sich auch 2007 noch massiv in den Präsidentschaftswahlkampf einmischte, ist deshalb nicht nur Ausdruck des Machtwillens der Generäle, sondern entspricht auch den Erwartungen eines großen Teils der Bevölkerung. Die Apologeten des türkischen Militärs weisen zu Recht darauf hin, dass es in dieser Armee keinen Hang zu einem Napoleon gibt und auch kein Franco oder Pinochet die Macht übernommen hat.

Der Putsch von 1980 hat dann allerdings die weitere demokratische Entwicklung um mindestens zehn Jahre zurückgeworfen. Um die Linke zurückzudrängen, schufen die Generäle damals die Basis für die Renaissance des politischen Islam in der Türkei. Religionsunterricht an den Schulen wurde zum Pflichtfach, und die Imam-Hatip-Schulen zur Ausbildung von Imamen erhielten massive Förderungen.

Die bis heute anhaltende Schwäche der Linken ist die eine verheerende Langzeitwirkung des Putsches. Die andere liegt im Erstarken des politischen Islam. Nach dem Motto: »Die Geister, die sie einst riefen, werden sie nun nicht mehr los«, wird der politische Einfluss des Militärs heute nicht von der Linken bekämpft, sondern von der islamistischen Rechten. Nicht eine breite demokratische linke Bewegung weist die Militärs in die Schranken, sondern die islamisch grundierte AKP von Ministerpräsident Erdogan. Das türkische Drama derzeit ist, dass die konservative islamische Rechte zwar stark genug ist, den autoritären Anspruch des Militärs und der alten kemalistischen Elite innerhalb der Bürokratie zurückzuweisen, die demokratische Linke aber viel zu schwach ist, um gleichzeitig echte individuelle Freiheitsrechte durchzusetzen. Die Hoffnung, dass diese Aufgabe auch die AKP übernehmen würde – und es sei auch nur, um für einen EU-Beitritt punkten zu können –, erweist sich immer mehr als trügerisch.

Zivilgesellschaft, Meinungsfreiheit, EU

Trotz dieser oft ungünstigen Umstände hat sich in der Türkei durchaus eine lebhafte demokratische, zivilgesellschaftliche Kultur entwickelt, die sich immer wieder zu Wort meldet. Trotz mächtiger Militärs, trotz einer unberechenbaren, oft brutalen Polizei, die in weiten Kreisen Folter immer noch für eine probate Ermittlungsmethode hält, ist das Land alles andere als ein bedrückender Polizeistaat. In zahlreichen Fernsehdebatten und in etlichen Zeitungskommentaren wird ordentlich gegen die Regierung ausgeteilt – das führt zwar oft zu Beleidigungsklagen, aber in der Regel muss niemand mehr als eine Geldstrafe fürchten.

Mit zwei großen Ausnahmen. Wer in der Türkei die Massaker an den Armeniern offen als Völkermord bezeichnet, bekommt unweigerlich Schwierigkeiten. Auch wenn der jetzt immer wieder kritisierte Strafrechtsparagraph, auf dessen Grundlage beispielsweise Orhan Pamuk für seine Stellungnahme zur Armenierfrage angeklagt wurde, auf Drängen der EU modifiziert wurde, wird sich daran zunächst kaum etwas ändern. Der Widerstand gegen womöglich sehr schmerzhafte Einsichten ist massiv, und jeder Türke, der in den Verdacht kommt, in irgendeiner Weise die armenische Position zu unterstützen, gilt fast automatisch als Verräter.

Das andere Tabuthema ist ein möglicher kurdischer Staat. Bereits die Forderung nach Autonomie wird als Separatismus-Propaganda geahndet und führt meist ohne Weiteres zu einem Strafverfahren. Trotzdem ist hier die Tendenz eindeutig. Wurde vor fünfzehn Jahren offiziell noch die Existenz einer eigenständigen kurdischen Identität bestritten und die kurdische Sprache als Dialekt abgetan, geht es heute darum, welche politischen Konsequenzen man aus der Tatsache, dass ein Fünftel der Bevölkerung der Türkei Kurden sind, ziehen muss.

Zu diesem Prozess gesellschaftlichen Wandels hat die Annäherung der Türkei an die EU nicht unerheblich beigetragen. Die bis in die Neunzigerjahre ziemlich abgeschottete türkische Gesellschaft musste sich öffnen und sich auch immer stärker einer Kritik von außen stellen. Das geschieht nicht nur auf der institutionellen Ebene der »EU Fortschrittsberichte« oder den politischen Delegationen aus den verschiedenen Hauptstädten der EU, die sich mittlerweile in Ankara die Klinke in die Hand geben, sondern auch durch eine ständig wachsende Zahl westlicher Ausländer, die durch die Annäherung und Öffnung ins Land gekommen sind und nun zumeist mit großer Anteilnahme die innere Entwicklung der Türkei beobachten.

Ein Teil der Faszination, die die Türkei auf Beobachter aus Westeuropa ausübt, besteht ja gerade darin, dass hier tagtäglich weit existenziellere Konflikte verhandelt werden als im alten Europa. So ist die Armenienfrage ja nicht nur ein Problem der Vergangenheitsbewältigung, sondern gleichzeitig die Frage nach dem Umgang mit dem real existierenden Nachbarland Armenien. Der Kurdenkonflikt ist nicht nur ein Kampf um die Unteilbarkeit des Landes im, von Istanbul aus gesehen, fernen Südosten des Landes, sondern gleichzeitig eine gesellschaftliche Herausforderung für den zwischenmenschlichen Umgang von Türken und Kurden im Westen des Landes. Schließlich leben längst mehr Kurden über das ganze Land verstreut als in den angestammten kurdischen Siedlungsgebieten. Als wäre das nicht schon genug Konfliktstoff, befindet sich das Land in einer ganz grundsätzlichen Auseinandersetzung um das Erbe des Kemalismus: säkulare Republik kontra religiösen Aufbruch in Bildung und Lebensstil. Das alles schafft vor dem Hintergrund extremer materieller Ungleichheit natürlich Spannungen, die deutlich größer sind als in einer westeuropäischen Wohlstandsgesellschaft.

Gleichzeitig ist die Türkei aber ein europäisches Schwellenland, das versucht, seine großen Konflikte mit den klassischen Mitteln westeuropäischer Demokratien zu lösen. Seit das Land 1999 offiziell zu einem EU-Beitrittskandidaten erklärt wurde und seit 2005 die Beitrittsverhandlungen begonnen haben, ist die Türkei im Prinzip bereit, sich an den EU-Kriterien messen zu lassen. Hier müssen sich jedoch die Prinzipien einer parlamentarischen Demokratie – Gewaltenteilung, krisenfeste Institutionen, Achtung der Verfassung und des Rechtsstaates, Vorrang der Menschenrechte, Achtung von Minderheiten und religiöse Toleranz bei gleichzeitiger Trennung von Religion und Staat – unter weit härteren Bedingungen bewähren als in den alten EU-Staaten.

Landflucht und Urbanisierung

Eines der größten Probleme der Türkei ist die seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts massive Binnenmigration vom Land in die großen Städte. Das Bevölkerungswachstum einerseits und die zunehmende Mechanisierung in der Landwirtschaft andererseits führten dazu, dass immer mehr Menschen in ihren Dörfern keine Arbeit mehr fanden, beziehungsweise der Landbesitz der Familie nicht mehr ausreichte, um alle Kinder wiederum mit einem eigenen Anteil auszustatten. Die Folge davon war eine Landflucht in einem solchem Ausmaß, dass sie die Türkei völlig umkrempelte. Lebten 1970 noch 62 Prozent der türkischen Bevölkerung auf dem Land, sind es heute gerade noch einmal 35 Prozent. Bedenkt man, dass sich die Bevölkerungszahl in diesem Zeitraum praktisch verdoppelt hat, kann man ungefähr ermessen, welcher Zuwanderungsdruck in den letzten 40 Jahren auf den türkischen Städten lastete. Mit am stärksten betroffen von dieser Entwicklung war und ist Istanbul.

Mitte der 1960er-Jahre lag die Einwohnerzahl der alten Hauptstadt bei rund 1,5 Millionen. Jetzt, rund vierzig Jahre später, leben zehnmal so viele Menschen in der Bosporusmetropole. Der größte Teil dieser Millionen an Neuzugängen waren arme Bauernkinder, die auf dem Land keine Perspektive mehr hatten. Fast keiner dieser Einwanderer, die nach Istanbul kamen, hatte Geld, um sich in der Stadt eine Wohnung zu mieten oder sich gar etwas kaufen zu können. Stattdessen lebten sie in Hütten, die »über Nacht erbaut« (das ist die Übersetzung des türkischen Begriffs »Gecekondu«) wurden und sich in die illegalen Slumsiedlungen einreihten, die 1983 bereits mehr als die Hälfte aller Wohnbehausungen in Istanbul ausmachten. Das Mirakel der Stadt ist, dass es heute trotz anhaltender Binneneinwanderung nirgendwo mehr ausgedehnte Slumgebiete gibt und die Gecekondu-Kultur bereits Folklore geworden ist.

Bewältigt wurde dieses enorme Problem durch Flexibilität und paternalistische Fürsorge. Rein rechtlich waren alle diese Hütten, die da über Nacht erbaut wurden, illegal auf staatlichem Grund gebaut, und wäre es nur nach den Buchstaben der Gesetze gegangen, hätte jedes Mal der Bulldozer kommen müssen. Tatsächlich kamen die Bulldozer aber nur ganz selten, zumeist wurden die Slums erst einmal geduldet, um sich dann in wenigen Jahren in normale Stadtviertel umzuwandeln. Das geschah aber nicht wie in Deutschland durch sozialen Wohnungsbau – dazu wäre die Türkei viel zu arm gewesen –, sondern durch eine geschickte Mischung aus staatlicher Schenkung und privater Initiative.

Das Geheimnis dieses Erfolges ist, dass den Bewohnern der Hütten, meistens im Zuge von Wahlkämpfen – schließlich haben auch arme Leute eine Stimme an den Urnen –, Besitztitel für das Land, auf dem sie anfangs illegal ihre Hütte gebaut hatten, übereignet wurden. Als Grundstücksbesitzer wurden die Slumbewohner dann plötzlich für die Baubranche interessant. Die Umwandlung eines Slums in ein Viertel mit einer normalen Wohnbebauung von Billigappartements, die von der Stadtverwaltung dann nach und nach auch mit der nötigen Infrastruktur versorgt wurden, geschah immer nach einem ähnlichen Muster: Ein lokaler Bauunternehmer bot den Hüttenbesitzern an, auf ihrem Grundstück statt der Hütte ein Haus mit ungefähr sechs Wohnungen zu errichten. Weil letztere das Grundstück einbrachten, bekamen sie nach Fertigstellung des Hauses zwei Wohnungen, die anderen vier Wohnungen waren der Gewinn des Unternehmers. Aus den bettelarmen Einwanderern vom Land waren so in relativ kurzer Zeit Wohnungsbesitzer geworden, die sogar eine Wohnung vermieten oder Verwandten aus dem Dorf, die ebenfalls in die Stadt kommen wollten, zur Verfügung stellen konnten. Diese Mischung aus Flexibilität und Paternalismus ist die Grundlage für die Organisation des türkischen Alltags.

Vom Staatskapitalismus zur Liberalisierung

Der Gründungsmythos der türkischen Republik ist der Unabhängigkeitskrieg gegen die Besatzungsmächte im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. Ein Hauptcredo der türkischen Politik war seitdem Unabhängigkeit – nicht nur als souveräner Staat, sondern möglichst auch auf wirtschaftlicher Basis. Die junge Republik entwickelte deshalb eine Art Staatskapitalismus, in dem alle Schlüsselindustrien staatlich waren und auch sonst fast alles strenger staatlicher Kontrolle unterlag. Jahrzehntelang blieb die türkische Ökonomie gegenüber dem Weltmarkt abgeschottet, die einheimische Währung Lira war nicht kompatibel, ausländische Konzerne wurden nur in wenigen Ausnahmefällen zugelassen.

Anfang der 1980er-Jahre riss der damalige Staatspräsident Turgut Özal dann das Steuer radikal herum, öffnete die Türkei für den Weltmarkt und machte die Lira zu einer konvertiblen Währung. Bis dahin durften Türken nur alle drei Jahre ins Ausland reisen und dann bei der Staatsbank ausländische Währung erwerben. Ausländer kamen vor dieser Zeit selten ins Land. Die Türkei als Urlaubsparadies für den Massentourismus aus Westeuropa entstand erst auf der Grundlage der Özal’schen Liberalisierung.

Diese Politik der Öffnung provozierte natürlich Reaktionen von Seiten der Verlierer. Große Staatsbetriebe wurden privatisiert und zerschlagen, die staatliche Bürokratie verlor an Einfluss, Quasi-Monopole sahen sich plötzlich scharfer Konkurrenz ausgesetzt. Die Gegenparole zu dieser Politik war der Vorwurf des »Ausverkaufs der Nation«. Die Diskussion ähnelt in einigen Punkten der in Osteuropa in der Nach-Sowjet-Ära, nur dass in der Türkei der ideologische Überbau »Kemalismus« offiziell nicht angetastet wurde und im Gegensatz zum Kommunismus in der Gesellschaft auch nicht diskreditiert ist. Nach den Wirren der Neunzigerjahre, die dem Tod Özals 1993 folgten, haben wir heute wieder eine mit der Özal-Ära vergleichbare Situation. Die seit 2002 regierende AKP (Partei für Fortschritt und Gerechtigkeit) mit Tayyip Erdogan an der Spitze betreibt eine radikal neoliberale Wirtschaftspolitik und setzt die unter Özal begonnene Privatisierung des Staatseigentums ungebremst fort. Außerdem kommt die AKP aus dem politischen Islam – sie ist deshalb im Kern nicht nur anti-etatistisch, sondern auch anti-kemalistisch. Die Gegenbewegung zur AKP beschwört deshalb das Andenken an den Übervater Atatürk und beklagt den Ausverkauf des Landes durch die AKP – an die EU, an die Amerikaner, an die Ausländer ganz allgemein. Oberflächlich gesehen bedeutet das Nationalismus versus Islamismus, doch da sich natürlich auch die Frommen in der Türkei als gute Patrioten verstehen, findet seit ein paar Jahren eine Art Wettbewerb im Fahnenschwenken statt. In Sachen »Vaterlandsliebe« (Vatan sever) will sich niemand von seinem politischen Konkurrenten übertreffen lassen. Die Folge ist eine penetrante Zurschaustellung nationaler Symbole und eine gewisse Unklarheit gegenüber dem Ausland und den Ausländern. Die AKP wirbt um ausländisches Kapital, ist im Prinzip dafür, dass Ausländer ohne Beschränkungen Immobilien erwerben können und will vermehrt den Zuzug ausländischen Fachpersonals erleichtern. Gleichzeitig will man sich aber nicht dem Vorwurf des »Ausverkaufs des Landes« aussetzen, so dass es dann in der Praxis für ausländische Firmen erhebliche Probleme geben kann oder Ausländer sich beim Erwerb von Immobilien mit schier unüberwindlichen Hürden konfrontiert sehen können.

Der Aufstieg der AKP und Erdogans

Die derzeitige politische Landschaft ist nach wie vor beeinflusst von der letzten großen Zäsur in der türkischen Politik, dem Putsch am 12. September 1980. Durch den Staatsstreich wurde das bis dahin existierende Parteienspektrum zerschlagen. Die Linke wurde nachhaltig geschwächt. Vor allem die Gewerkschaftsbewegung leidet bis heute an den Folgen. Die türkische Parteienlandschaft wurde als Ergebnis des Putsches noch wesentlich zersplitterter, als es schon der Fall gewesen war. Wurde das konservativ-agrarische und das konservativ-bürgerliche Spektrum bis zum Putsch von der rechten Demokratischen Partei repräsentiert und die Linke von der republikanischen CHP, so gab es nach Rückkehr der Armee in die Kasernen zwei rechte, bürgerliche, und zwei linke, sozialdemokratische Parteien, die sich jeweils programmatisch wenig unterschieden, wegen der persönlichen Konkurrenzen ihrer Führungsfiguren aber nicht zusammenarbeiten konnten. Die Folge davon waren unstabile Koalitionsregierungen, die einer enormen Korruption in Politik und Bürokratie Vorschub leisteten. Die 1990er-Jahre gelten deshalb für Demokratie und Wirtschaft als verlorenes Jahrzehnt.

Der Dauerschaukampf zwischen den rechten bürgerlichen Parteien führte dazu, dass die Partei des politischen Islam immer stärker wurde und 1996 mit Necmettin Erbakan das erste Mal den Ministerpräsidenten stellte. Zwar blieb Erbakan nur wenige Monate im Amt, bis die Regierung – eine Koalition mit einer der beiden rechtsbürgerlichen Parteien – auf Druck des Militärs auseinander flog, doch war das keineswegs das Ende des politischen Islam in der Türkei. Trotz Parteienverbot und Gefängnisstrafen für Führungsfiguren der Bewegung wie dem heutigen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, der Ende der 1990er-Jahre für ein halbes Jahr wegen islamistischer Propaganda ins Gefängnis musste, häutete sich die islamische Partei mehrfach und wurde danach jedes Mal erfolgreicher. Ein Teil der Modernisierer innerhalb der islamischen Bewegung um Erdogan und den heutigen Präsidenten Abdullah Gül spaltete sich 1999 von der orthodoxen islamischen Partei Erbakans ab und gründete die moderate, moderne Variante des heutigen politischen Islam der Türkei, die AKP. 2002, bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung, gewann die AKP fast aus dem Stand heraus die Parlamentswahlen und schickte sich an, die beiden abgewirtschafteten rechtsbürgerlichen Parteien zu beerben. Dieses Ziel hat sie mit einer gemäßigten islamischen und aggressiv neoliberalen Politik zielstrebig weiter verfolgt und bei den Wahlen 2007 den Erfolg für ihre Politik eingestrichen. Die AKP schaffte knapp 48 Prozent und konnte über die religiösen Wähler hinaus die gesamte konservative bürgerliche Rechte hinter sich vereinen.

Möglich wurde dieser Erfolg, weil die AKP idealtypisch eine neue wachsende Schicht in der Türkei repräsentiert. Die AKP ist soziologisch die Partei der Vorstädte. Obwohl es in den letzten Jahren (wie oben beschrieben) weitgehend gelang, die ehemaligen Slums rund um alle großen westlichen Städte der Türkei in Appartement-Viertel umzuwandeln, sind die Bewohner dieser Viertel dennoch nicht zu urbanen Städtern geworden. Die Massenmigration vom Dorf in die Stadt hat vielmehr eine gesellschaftliche Gruppe geschaffen, die im Zwischenstadium von Dorf und Stadt lebt. Das hat zum einen damit zu tun, dass aufgrund der schieren Masse armer Anatolier, die nach Istanbul, Ankara oder Izmir drängten, eine Integration im Sinne von gesellschaftlicher Transformation gar nicht mehr möglich war, zum anderen aber, weil die westlich orientierten Städter mit den Anatoliern nichts zu tun haben wollten. Für diese Vorstädter wurde der Islam zum eigenen Identitätsmerkmal gegenüber den säkularen alteingesessenen Bürgern und die islamische Partei gleichzeitig ihre Organisation, die ihnen ganz praktisch in ihrem Alltag half. Tayyip Erdogan kommt genau aus einer solchen Vorstadtfamilie – sein Vater wanderte vom Schwarzen Meer in das Istanbuler Armenviertel Kasimpasa ein – und verkörpert die Rolle eines Aufsteigers aus den Vororten bis ins Zentrum der Macht perfekt.

Während die Vorläuferpartei der AKP, die Tugendpartei von Necmettin Erbakan, noch ernsthaft darauf setzte, das politische System der Türkei zu verändern und das Land nach Osten auszurichten, haben Erdogan und sein Partner Abdullah Gül Ende der Neunzigerjahre begriffen, dass sie damit in der Türkei keinen Staat machen können. Ihre neue Partei blieb zwar islamisch, doch statt das System zu überwinden ist ihr vorrangiges Ziel, dass die seit 40 Jahren ausgegrenzten und sozial deprivierten Vorstädter endlich auch ihren Teil vom Kuchen abbekommen. Die AKP wirkte deshalb wie ein Katalysator für die Entstehung einer neuen islamisch geprägten Bourgeoisie, aus der sich mittlerweile die Eigentümer eines Konzerns schon unter die zehn reichsten Familien der Türkei vorgekämpft habe.

Mit ihrem Profil repräsentiert deshalb die AKP sowohl die Massen der Vorstädte als auch die islamisch geprägten Konservativen der anatolischen Städte. Da auch in Städten wie Istanbul oder Ankara in den Vorstädten wesentlich mehr Menschen leben als in den Vierteln des säkularen Mittelstandes, hat die AKP bei den letzten Wahlen bis auf Izmir sowohl alle großen Städte gewonnen wie auch in der Provinz die meisten Bezirke für sich einnehmen können. Da sie überdies der kurdischen Bevölkerung signalisierte, ihr etwas mehr entgegenzukommen als die nationalistischen kemalistischen Parteien, gelang es ihr sogar, gegen die dortige kurdische Regionalpartei DTP auch im Osten die Mehrheit zu erobern.

Dieser dynamischen Entwicklung auf der Rechten konnte die Linke nichts Entsprechendes entgegensetzen. Die gegenseitige Selbstzerfleischung endete zwar mit dem Tod von Bülent Ecevit, der jahrzehntelang die Führungsfigur der demokratischen Linken gewesen war und mit dessen Tod auch seine Partei unterging. Doch die übrig gebliebene Republikanische Volkspartei, die ehemalige Partei Atatürks, einst Motor für die Modernisierung und Verwestlichung des Landes, retardierte mehr und mehr zu einer rückwärts gewandten, sich immer nationalistischer gebärdenden Führerpartei, die glaubt, den Kemalismus durch einen Atatürk-Führerkult retten zu können.

Deshalb fehlt im türkischen Parlament eine linke oder auch nur linksliberale Opposition, die Auseinandersetzung spielt sich lediglich zwischen der konservativ-islamischen AKP, der kemalistisch-nationalistischen CHP und der rechtsradikalen MHP ab. Das Fehlen einer demokratischen Linken vom Zuschnitt einer Sozialdemokratie deutscher oder britischer Prägung wirkt sich verheerend aus. In der Kopftuchfrage gibt es im Parlament keine Partei, die den islamischen Wertvorstellungen der AKP ein modernes, aufgeklärtes Gesellschaftsbild entgegensetzt, in dem sich die liberale und bürgerliche urbane Schicht des Landes wiederfinden könnte. Statt über individuelle Selbstbestimmung, Bildung und Zukunftsvisionen zu diskutieren, setzen die säkularen Nationalisten ihr autoritäres Weltbild aus dem letzten Jahrhundert gegen die Forderungen der Islamisten. Da die Kemalisten durch die Armee gestützt werden, entsteht die paradoxe Situation, dass sich die mit großer Mehrheit regierende AKP immer noch in der Rolle des Opfers eines autoritären Staates gerieren kann, wenn sie beispielsweise für ihre Anhängerinnen die Freiheit fordert, ein Kopftuch zu tragen.

Tatsächlich versuchte ja eine Koalition aus CHP, Militär und Justiz in den letzten zwei Jahren vergeblich, den weiteren Aufstieg der AKP mit Putschdrohungen und juristischen Tricks noch zu stoppen. Ausgangspunkt dieser machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen alter und der im Entstehen begriffenen neuen Elite war die Wahl zum Präsidenten 2007. Das alte Establishment wollte unbedingt verhindern, dass die AKP neben dem Ministerpräsidenten mit ihrer Parlamentsmehrheit auch noch einen neuen Staatspräsidenten aus ihren Reihen wählt. Der bis April 2007 amtierende Staatspräsident Necmet Ahmet Sezer war ein strammer Kemalist und garantierte damit eine gewisse Machtbalance zwischen altem und neuem Zentrum. Um die Wahl des jetzigen Präsidenten Abdullah Güls, der damals Außenminister war, zu verhindern, drohte die Armee zu putschen, und die Justiz verhinderte im ersten Anlauf eine Wahl Güls.

Die AKP konterte mit vorgezogenen Neuwahlen, die sie im Juli 2007 dann haushoch gewann. Damit war die Wahl Güls zum Staatspräsidenten nicht mehr zu stoppen, und die AKP konnte sich daran machen, nun auch den Staatsapparat in ihrem Sinne personell umzukrempeln. Als sie dann noch mit Hilfe der rechtsradikalen MHP die Verfassung in dem Sinne änderte, dass das Kopftuchverbot an Universitäten und im öffentlichen Dienst aufgehoben wurde, versuchte es die Gegenseite mit ihrem vorerst letzten Trumpf. Der Generalstaatsanwalt beantragte beim Verfassungsgericht ein Verbot der AKP und ein politisches Berufsverbot für Tayyip Erdogan und 70 weitere Führungskader der AKP. Doch die letzte Trumpfkarte stach nicht. Nach monatelangen Debatten traute sich das Verfassungsgericht, obwohl mehrheitlich mit AKP-Gegnern besetzt, dann doch nicht, gegen den Willen der Mehrheit in der Bevölkerung einen »Justizputsch« durchzuziehen und das Land damit in unabsehbare politische und ökonomische Turbulenzen zu stürzen. Somit hat die alte Elite erst einmal eine heftige Niederlage erlitten, wonach die Regierung Erdogan für die kommenden vier Jahre wohl unangefochten regieren wird.

Dadurch ist aber auch der Kulturkampf zwischen einer Re-Islamisierung des türkischen Alltags versus einer liberalen, westlichen Lebensweise wieder in die gesellschaftliche Auseinandersetzung zurückgekehrt, wo er auch hingehört. Was in der Türkei jetzt fehlt, ist eine politische Vertretung für die wachsende Gruppe von TürkInnen, die sich weder durch die rückwärtsgewandten autoritären Kemalisten noch durch die moderaten Islamisten repräsentiert fühlen.

Kurdische Perspektive

Schlimmer noch als in der Kopftuchfrage wirkt sich das Fehlen einer linken, westlich orientierten Partei im Konflikt mit der kurdischen Minderheit aus. Es gab bis zur Wahl 2007 im türkischen Parlament keine politische Kraft, die für das Recht der Kurden auf eine eigene Kultur Verständnis hatte. Im Gegenteil, jede Regung kurdischen Selbstverständnisses wurde jahrzehntelang fast schon im Reflex als Angriff auf die Einheit der Nation verstanden und entsprechend brutal geahndet. Hinzu kommt, dass nach offizieller Doktrin zwar alle Einwohner des Landes sich glücklich schätzen können, Türken zu sein, doch im Alltag werden Kurden sehr wohl als Kurden identifiziert und als Menschen zweiter Klasse behandelt.

Auf den Aufstand der PKK antwortete der türkische Staat ausschließlich militärisch. Die »Terrororganisation« PKK und ihre Anhänger sollten mit Gewalt beseitigt beziehungsweise zur Aufgabe gezwungen werden. Kein führender türkischer Politiker startete in den letzten zwanzig Jahren eine ernsthafte politische Initiative, um die Kämpfe zu beenden und die Lage der Kurden in der Türkei substanziell zu verbessern.

Die PKK selbst hat sich längst von einer ehemals marxistischen Organisation zu einer streng nationalistischen kurdischen Truppe gewandelt, die jede Kooperation mit der türkischen Linken ablehnt. Sie hat Versuche innerhalb der legalen kurdischen Parteien, mit anderen türkischen Organisationen zusammenzuarbeiten, sogar massiv bekämpft. Seit die PKK nach der Festnahme Öcalans 1999 überwiegend aus dem Nordirak heraus agiert, hat sie immer mal wieder versucht, sich als Organisation für die Befreiung aller Kurden darzustellen, also auch für die Kurden im Irak, Iran und Syrien.

Sowenig es in der türkischen Politik bisher gelungen ist, eine überzeugende zivile Antwort auf die Kurdenfrage zu finden, sowenig gelingt es den Kurden in der Türkei, eine Partei auf die Beine zu bringen, die sich von der PKK emanzipiert und als Verhandlungspartner für die türkische Regierung akzeptabel wäre.

Der wirtschaftliche Aufschwung der Türkei von 2001 bis 2006, die Demokratisierung und die Verbesserung der Menschenrechtslage sind in erster Linie darauf zurückzuführen, dass nach der Verhaftung Öcalans die Waffen in dieser Zeit schwiegen. Erst in zweiter Linie hat die Annäherung an die EU zur Verbesserung der Lage beigetragen. Entsprechend dramatisch verschlechterte sich die Situation in der Türkei auch wieder, als die PKK Ende 2005 erneut anfing zu bomben und sich mit Attentaten auf Polizei und Militär im Osten und Anschlägen in den Großstädten im Westen zurückmeldete. Diese neuerliche bewaffnete Offensive der kurdischen Separatisten hat mehrere Ursachen. Der wichtigste Grund ist, dass nach wie vor keine wirkliche politische Lösung des Konfliktes in Sicht ist. Trotz einiger Konzessionen, wie die Zulassung kurdischer Radioprogramme und kurdischer Musik und eine weitgehende Akzeptanz der kurdischen Sprache im Alltag, blieben die Reformen bislang Stückwerk. Schulunterricht in kurdischer Sprache ist nach wie vor verboten, lediglich private Sprachkurse als Freizeitvergnügen wurden erlaubt.

Am auffälligsten ist die Unzulänglichkeit der Reformen beim Thema kurdisches Fernsehen. Nach langem Hin und Her wurde beschlossen, dass das staatliche Fernsehen TRT fünf Stunden in der Woche ein Programm in kurdischer Sprache anbietet. In diesen Sendungen geht es dann hauptsächlich um Folklore und Heimatfilme. Aktuelle politische Fragen werden nicht behandelt. Das führt dazu, dass fast ausnahmslos alle Kurden in der Türkei das von einer PKK-nahen Organisation im europäischen Ausland zusammengestellte und via Satellit in die Türkei übertragene »Freiheitsprogramm« ROSH-TV anschauen. Selbst PKK-kritische Kurden schauen mangels Alternative dieses Programm, das zur Zeit von Dänemark aus gesendet wird. Erst vor wenigen Wochen wurde nun beschlossen, dass TRT ab 2009 auch ein kurdisches Vollprogramm auf die Beine stellen soll.

Inzwischen ist es allerdings fraglich geworden, ob die Konflikte noch mit kulturellen Zugeständnissen zu lösen sind oder nicht längst über echte politische Mitbestimmung geredet werden müsste. Eine Chance dazu böte seit den Wahlen im Sommer 2007 sogar das Parlament. Erstmals in der Geschichte der Republik gelang es im Juli 2007 der pro-kurdischen Partei DTP, genügend Abgeordnete in das nationale Parlament zu entsenden, um eine eigene Fraktion bilden zu können. Doch weil diese Fraktion es ablehnt, sich öffentlich und demonstrativ von der PKK zu distanzieren, wird sie von allen anderen Parteien geschnitten. Zwar wäre es tatsächlich wünschenswert, dass die DTP sich von der PKK emanzipierte und zu einer eigenständigen zivilen politischen Vertretung der Kurden würde, doch das bräuchte Zeit und einige politische Erfolge. Die ultimative Forderung, sich zuallererst vom »kurdischen Terror« zu distanzieren, verhindert bislang eine Politik der kleinen Schritte. Dabei entsteht mit dem kurdischen De-facto-Staat im Nordirak für die türkische Politik eine ganz neue Lage, die für den Zusammenhalt des Landes wesentlich bedrohlicher werden könnte, als es die PKK je war. Wenn die türkische Politik die kurdische Minderheit weiterhin vernachlässigt und als Menschen zweiter Klasse behandelt, werden diese ihre Hoffnungen an das autonome Kurdistan im Nordirak knüpfen. Was mit einer politisch eher wirren Guerilla begann, könnte dann zu einer echten Sezessionsbewegung werden.

Bei dem Artikel handelt es sich um eine von der Redaktion zusammengestellte und vom Autor bearbeitete Kompilation aus seinem gerade erscheinenden Buch: »Türkei – Ein Land jenseits der Klischees«, Berlin (Ch. Links Verlag, 216 S., 60 Abb.,1 Karte, 16,90 €)

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2008