Erhard Stölting

Georgische Konflikte

Über die transkaukasische Geschichte und ihre Asymmetrien

Es geht um Erdöl, um Geostrategie, um Einflussregionen und um den Aufbau militärischer Drohpotenziale. Nur die großen Einkünfte aus seinen Energieressourcen ermöglichen Russland, einen Machtstatus, der seiner schieren Größe einigermaßen entspricht, zu halten. Folge des Konflikts um Georgien ist eine grundsätzliche Neuordnung des Verhältnisses Russlands zu seiner südlichen Peripherie. Hier hatte Georgien seit dem 19. Jahrhundert eine Sonderstellung. Im Konflikt von 2008 wird erkennbar, wie geschichtliche Spuren wirksam sind und zugleich endgültig zerstört werden.

Das orientalische und das russische Georgien

Das Christentum war nicht von Anfang an westlich und Georgien zunächst in jeder Hinsicht orientalisch. Es war nach Armenien eines der ersten Länder, dessen Führungsschicht nach vierhundert Jahren der Zugehörigkeit zum Römischen Reich im Jahre 337 das Christentum zur exklusiven Herrschaftsreligion machte.

Das kleine, partiell sehr fruchtbare Land war aber auch weiterhin mit der Begehrlichkeit mächtiger Nachbarn konfrontiert. Immer wenn diese schwach wurden oder zerfielen, konnten die georgischen Fürsten gegeneinander Krieg führen und einander erobern. Zuweilen gab es auch Friedenszeiten; ansonsten fielen die georgischen Herrschaftsgebilde immer wieder konkurrierenden Nachbarn zu – den christlichen Byzantinern oder den persischen Zoroastriern, den muslimisch-türkischen Seldschuken oder den Mongolen und ihren Nachfolgestaaten, den Osmanen und immer wieder den dann muslimischen Persern. Nach einer kurzen Unabhängigkeit und Blüte im 12. und 13. Jahrhundert unterlag Georgien 1225 dem Ansturm der Mongolen, und 1386 bis 1401 erneut, diesmal dem Mongolenherrscher Timur Lenk. Russland lag weit entfernt im Norden, getrennt durch den hohen Kaukasus mit seinen wilden Bergvölkern, die niemand dauerhaft unterwerfen konnte und die immer wieder raubend in die tieferen Regionen nördlich und südlich ihres Gebirges vordrangen. Für die Georgier waren immer auch die Osseten ein Problem, obwohl auch diese christlich geworden waren und unter den sich allmählich islamisierenden Völkern des Hochgebirges eine Sonderstellung einnahmen.

Die georgische Kirche war und blieb innerhalb der christlichen Welt des Orients autokephal; sie hielt an der eigenen Schrift und der eigenen Sprache fest. Jahrhundertelang blieb sie kulturell von der lateinischen Welt weit abgeschieden. Den griechischen und slawischen Orthodoxien stand sie näher, ohne in ihnen aufzugehen. Ihre Position war damit jener der armenischen Kirche vergleichbar.

Die Sozialstruktur Georgiens unterschied sich aber von der armenischen. Jenseits der armenischen Kernlande in Ost- und Südanatolien lebte eine sozial weit gefächerte armenische Diaspora, die das ganze soziale Spektrum von reichen und einflussreichen Kaufleuten bis zu armen Handwerkern und Tagelöhnern umfasste. Diese Diaspora erstreckte sich über das Persische, das Osmanische und schließlich auch das Russische Reich. Die Mehrheit der Georgier hingegen bestand aus regional gebundenen Bauern mit einer umfangreichen, hierarchisch gegliederten Aristokratie. Wie in Großreichen üblich, war die Bevölkerung ethnisch gemischt. Zum Zeitpunkt der russischen Annektion bestand die Bevölkerung von Tiflis überwiegend aus Armeniern und die Eriwans überwiegend aus Muslimen.

Als Russland zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Transkaukasien ausgriff, veränderte sich dessen geopolitische Situation grundsätzlich. Schritt für Schritt wurden die georgischen Fürstentümer durch Russland annektiert: 1801 das damalige Königreich Georgien, 1803 Mingrelien, 1804 Imeretien und Gurien, 1810 das südliche Abchasien, 1829 das nördliche Abchasien.

Georgien war seither fast ununterbrochen ein zwiespältiger Teil des russischen Reiches. Denn die russischen Herrscher und die russische Kirche unterschätzten immer wieder, wie wichtig den Georgiern ihre sprachliche und religiöse Individualität war. Immer wieder gab es an hartnäckigem Widerstand scheiternde Versuche, Georgien zu russifizieren. Der letzte scheiterte in den frühen Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts, kurz vor Gorbatschows Perestrojka. In diesem Sinne ist die Geschichte Georgiens seit seiner russischen Eroberung auch eine Geschichte des gelungenen Beharrens auf Eigenständigkeit.

Aber es gab auch eine andere georgisch-russische Geschichte. Seit dem 19. Jahrhundert stand die soziale und kulturelle Entwicklung Georgiens unter beständigem russischem Einfluss. Die Verwestlichung des Landes, die partielle Entorientalisierung, verdankt sich daher Russland. Dort studierten Georgier und nahmen an den kulturellen Auseinandersetzungen in Moskau und St. Petersburg teil. Die Gleichstellung mit dem russischen Adel eröffnete dem georgischen Adel Karrieren im russischen Staatsdienst und in der russischen Armee. Die wirtschaftliche Modernisierung der bis zur Annektion agrarisch dominierten Feudalgesellschaft geschah ebenfalls in Reaktion auf russische Entwicklungen.

Viele Georgier russifizierten sich in Russland, und die russischen inneren Auseinandersetzungen beeinflussten die georgischen. Georgier spielten in der Entwicklung der modernen Kultur und Politik Russlands eine prägende Rolle. Wie in Russland entstand auch in Georgien eine Zivilgesellschaft, von der im Februar 1917 die Revolution getragen wurde, die den Zaren stürzte und Georgien einen verschlungenen Weg in die kurze staatliche Unabhängigkeit ermöglichte. Unter den Führern der russischen Sozialdemokratie vor und während dieser Revolutionszeit finden sich besonders viele Georgier. In Georgien selbst hingegen übernahmen schließlich – anders als in Russland – die Menschewiki die Macht. In vorrevolutionärer Zeit und bis zur russischen Rückeroberung des Landes im Jahre 1921 blieben die Bolschewiki in Georgien eine verschwindende Minderheit.

Aus russischer Perspektive war Georgien seit dem 19. Jahrhundert etwas Besonderes. Die Fruchtbarkeit der Böden und das günstige Klima machten es zu einem Sehnsuchtsort – vergleichbar der Bedeutung Italiens für die romantischen Deutschen. Hier wuchsen die wohlschmeckendsten Früchte, die besten Weine. Hier wurde auf den fröhlichsten und entspanntesten Festen der beste Cognac getrunken. Den georgischen Männern ging in Russland der Ruf besonderer erotischer Attraktivität voraus, was allerdings auch Eifersucht weckte. Und die Georgier waren den Russen gegenüber nicht feindselig gesonnen – zumindest solange sie keine Uniform trugen. Natürlich blieb das Verhältnis imperial asymmetrisch: Die Georgier lernten Russisch, die Russen kein Georgisch. In der russischen Literatur war Georgien seit dem 19. Jahrhundert präsent und in Georgien die russische Literatur.

Auch wirtschaftlich waren Georgien und Russland integriert. Georgien verkaufte seinen Wein, seinen Cognac, seine Süßigkeiten und – dank besserer Transportmöglichkeiten im 20. Jahrhundert – auch sein Obst in Russland. Russland selbst machte die georgischen Produkte zum Teil seines Luxus und seiner Festkultur.

Russische imperiale Kalküle

Hinter der Eroberung Transkaukasiens seitens Russlands steckte ein großräumiges imperiales Konzept. Das Ausgreifen nach Transkaukasien, also in die heute selbstständigen und früher sowjetischen Republiken Georgien, Aserbaidschan und Armenien, sollte das Feld für ein mögliches weiteres Ausgreifen nach Süden, ins Persische Reich, und nach Westen in das Osmanische Reich sichern. Ein Schlüssel für die Stabilisierung der russischen Dominanz war Religion: Im Verhältnis zu seinen neuen Untertanen bevorzugte Russland gezielt die christlichen Völker, also vor allem die Armenier und die Georgier, in geringerem Maße auch die Osseten. Ein christlicher Riegel sollte geschaffen werden, und der konnte auch großmaßstäbliche Umsiedlungen begründen. Dafür sollten die Muslime so weit wie möglich sozial, rechtlich und territorial abgedrängt und die Christen in kompakten Siedlungsregionen eingewurzelt werden. Das ehemalige Chanat Eriwan wurde nicht zuletzt durch eine gezielt geförderte Zuwanderung von Armeniern aus dem Persischen Reich zu einem fast rein armenischen Territorium. Nach dem osmanischen Genozid von 1915/16 an den Armeniern wurde dieses Land zum eigentlichen Armenien. Die ursprünglichen Siedlungsgebiete hatten bis dahin in Anatolien gelegen und sollten nach russischem Wunsch dort auch bleiben.

Georgiens christliche Prägung war trotz der ethnischen Mischungen unbestritten. Immerhin lebten noch im 19. Jahrhundert in Tiflis neben Armeniern und Georgiern auch georgische Juden, Italiener, Griechen, Russen, Polen und Muslime. Tiflis war, wie andere große Städte Transkaukasiens eine kosmopolitische Stadt. Das veränderte sich in sowjetischer Zeit allmählich – nach dem Zerfall der Sowjetunion in teilweise katastrophischer Form.

Die Beherrschung Transkaukasiens setzte die Beherrschung des Hohen Kaukasus sowie seiner rebellischen Bevölkerungen voraus. Der wichtigste Verkehrsweg von Russland nach Transkaukasien war neben dem Schwarzen Meer die so genannte Georgische Heerstraße, die von Wladikawkas im heutigen Nordossetien, vorbei am Kasbek, dem höchsten Berg des Kaukasus, nach Tiflis führte. Wenn diese blockiert war, funktionierten weder Warenverkehr noch Truppenbewegungen. Die Bergvölker, allen voran die Tschetschenen, mussten also »befriedet« werden, wenn die russische Herrschaft in Transkaukasien stabilisiert werden sollte. Anders als die Vorgängerimperien strebte Russland nach einer endgültigen Herrschaft über die Völker des Hohen Kaukasus.

Der Krieg gegen sie begann 1816 und endete 1859 mit der Gefangennahme des legendären Anführers Schamil. Es kam zu Massenvertreibungen und Massenfluchten kaukasischer Bevölkerungen ins Osmanische Reich. Zu den Vertriebenen gehörten neben Tschetschenen und Tscherkessen auch eine sehr große Zahl von Abchasen. Der Krieg war umso erbitterter gewesen, als er für die Bergvölker auch ein Dschihad war. Eine Ausnahme machten die überwiegend christlichen Osseten, die sich enger an Russland anschlossen.

Abchasien und Südossetien

Die Abchasen, die eine mit dem Georgischen nicht verwandte kaukasische Sprache sprechen, wurden im 6. Jahrhundert zunächst durch Byzanz christianisiert. Bis zum Untergang des Byzantinischen Reiches blieben sie in dessen Einflussgebiet. In den Schwächezeiten der benachbarten Großreiche waren auch die abchasischen Fürsten unabhängig und führten Kriege gegen ihre Nachbarn. Zeitweilig eroberten sie ganz Westgeorgien. Im 16. und 17. Jahrhundert geriet Abchasien unter osmanische Herrschaft; die Bevölkerung konvertierte überwiegend zum Islam.

Mit der russischen Eroberung erwies sich das als Nachteil. Die Abchasen beteiligten sich am Aufstand der Kaukasusvölker. Auch um den geopolitischen christlichen Riegel zu verstärken, wurden die Abchasen daher sowohl vertrieben als auch besonders schikaniert. Die überwiegende Mehrheit, fast eine halbe Million, emigrierte in die Türkei; etwa 100.000 blieben zurück. Sie hatten weniger Rechte als die Christen und durften nicht in der Nähe der Küste siedeln. Systematisch wurden nun in Abchasien Christen angesiedelt, vor allem Georgier, aber auch Russen und Ukrainer. So wurden die Abchasen zur Minderheit in ihrem Land. Auch in sowjetischer Zeit veränderte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung nicht zum Vorteil der Abchasen, obwohl sie nun als »Titularnation« des Landes galten. 1989, bei der letzten sowjetischen Volkszählung, bestand seine Bevölkerung zu 48 Prozent aus Georgiern und zu 18 Prozent aus Abchasen. Längst war das Land zu einer sowjetischen Riviera geworden. Hier waren Badestrände, hier wuchs der im sowjetischen Machtbereich legendäre »grusinische Tee«. Die Liebe zwischen Georgiern und Abchasen verstärkte sich nicht dadurch, dass Abchasien nach kurzer Selbständigkeit als autonome Republik zum Teil Georgiens und die Abchasen zum Objekt von Georgisierungsbemühungen wurden.

Der Konflikt um Südossetien hat andere Kontexte. Die überwiegend christlich-orthodoxen Osseten wohnen auf beiden Seiten des Kaukasuskammes. Sie sind ein Völkerrest der Alanen, die im frühen Mittelalter in Osteuropa ein großes Reich verloren und sich ins Hochgebirge retteten. Dort lebten sie wie die übrigen Bergvölker: teils als Viehzüchter, in tieferen Lagen als Landwirte und immer wieder einmal als Räuber. Der Gegensatz zu den muslimischen Bergvölkern führte die Osseten in eine engere Anlehnung an Russland, auch wenn das Land im 19. Jahrhundert verwaltungstechnisch aufgeteilt wurde. Der südlich des Kaukasus gelegene Teil des ossetischen Siedlungsgebietes kam an Georgien. Das ossetisch-georgische Verhältnis lässt sich am besten durch die in Georgien weit verbreitete Legende erläutern, Stalin sei in Wirklichkeit Ossete gewesen; das erkläre alles.

Der erst 1985 fertig gestellte Roki-Tunnel zwischen Nord- und Südossetien entspricht in seiner strategischen Bedeutung der alten georgischen Heerstraße. Für die nördliche und südliche ossetische Nationalbewegung macht erst der Tunnel den Wunsch nach einer politischen Einheit realistisch. Im jetzigen Krieg floh die südossetische Bevölkerung zu ihren Landsleuten im Norden durch den Tunnel. Durch den Tunnel kamen jetzt die russischen Truppen. Darüber hinaus ist der Tunnel eine wirtschaftliche Lebensader. Wein, Obst, Gemüse, Rauschgift und Holz finden durch ihn ihren Weg nach Norden. Waffen und andere Industriewaren kommen durch ihn in den Süden. Nur dank des Roki-Tunnels kann Südossetien russischer Brückenkopf in Transkaukasien sein. Aus militärischer Perspektive ist es daher verständlich, wenn die amerikanische und die georgische Regierung den Südausgang dieses Tunnels kontrollieren wollen.

Rein wirtschaftlich lebensfähig ist Südossetien nicht. Unter russischer Protektion wird die von Russland anerkannte Unabhängigkeit daher fiktiv bleiben.

Georgische Unabgängigkeit

Die sowjetische Rückeroberung des nach dem Ersten Weltkrieg zunächst als deutsches und dann britisches Protektorat unabhängig gewordene Georgien leitete 1921 der georgische Bolschewik Sergo Ordshonikidse. Er organisierte auch die Zerstörung der georgischen Menschewiki im Besonderen und der georgischen Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Sieht man von isolierten demokratischen Intellektuellenzirkeln ab, hat sie sich nach der Unabhängigkeit auch nicht wieder gebildet. Wie für andere Teile der untergegangenen Sowjetunion ist deshalb auch für Georgien die Diskrepanz zwischen einer demokratischen Fassade und ganz anders funktionierenden politischen Machtapparaten charakteristisch.

Ordshonikidse war ein besonders enger Verbündeter eines anderen georgischen Bolschewiken – Soso alias Koba alias Stalin. Dessen letzter sowjetischer Geheimdienstchef Lawrentij Beria war ebenfalls Georgier. Stalin leugnete seine Herkunft nie, kümmerte sich um die georgische Literatur und trank georgischen Wein – aber Georgien nützte das wenig. Der Terror wütete hier genauso fürchterlich wie in anderen Teilen des Reiches. Er lässt sich nun nicht mehr nur dem Regime, sondern auch der russischen Nation zuschreiben. Es heißt heute, die Georgier verehrten Stalin noch immer, weil kein Mensch je so viele Russen umbringen ließ.

Schon zu Zeiten von Gorbatschows Perestrojka, also vor der Auflösung der Sowjetunion, waren die Unabhängigkeitsbestrebungen in Georgien sehr stark. Wie in anderen Sowjetrepubliken gab es auch hier zunächst drei Lager: Das der alten Sowjetkader, das der radikalen Verfechter der Unabhängigkeit und das der Anhänger eines eher schrittweisen und möglichst gewaltfreien Weges in die Unabhängigkeit. Zwischen diesen Lagern waren immer wieder Kompromisse möglich, auf deren Basis auch eine spezifische postsowjetische Korruption wuchern konnte. Sie bestand teilweise in konkurrierenden Netzwerken, die sich mit Ressourcen versorgten, Macht garantierten, aber auch Wahlen und Demonstrationen organisierten. Besonders schwach waren dabei die alten Kader. Sie fügten sich, solange sie noch etwas entscheiden konnten, jenen, die am heftigsten demonstrierten.

Die nationalistischen und demokratischen Bewegungen wurden überwiegend von jungen, meist geisteswissenschaftlichen Intellektuellen dominiert. Die Bevölkerung wurde vor allem punktuell durch Symbole und Massenversammlungen mobilisiert, die sich aber nicht in neuen zivilgesellschaftlichen Strukturen stabilisierten. Daher weckten die Massenmobilisierungen Euphorie und Opferbereitschaft, aber danach griffen immer wieder Resignation und Apathie um sich. Die wirkliche, regional stark zerteilte Macht übernahmen nichtöffentliche Netzwerke, in der sich alte und neue Eliten verbündeten und bekämpften. Kriminelle, wirtschaftliche und politische Cliquen waren nicht immer eindeutig zu unterscheiden. Für einige Jahre war es außerordentlich riskant, in Georgien zu leben.

Ohne diesen Hintergrund wäre der Anfangserfolg des ersten frei gewählten Präsidenten Georgiens, Swiad Gamsachurdia, nicht denkbar gewesen. Er war der Sohn des bedeutendsten georgischen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, Konstantin Gamsachurdia, und hatte sich in sowjetischen Zeiten schon sehr früh als Dissident bewährt. Nach dem Autounfall von Merab Kostawa, des Führers der radikalen Unabhängigkeitsbewegung, blieb Gamsachurdia 1989 zunächst eine einzigartige charismatische Führerfigur.

Gamsachurdia gab wesentliche Momente der Rhetorik vor, die sich bis heute vor allem in wirtschaftspolitischer Hinsicht verändert hat. Sein Bezugspunkt war nicht die bürgerlich-sozialdemokratische Republik vor 1921, sondern die glanzvollen Zeiten des mittelalterlichen Georgiens und damit auch die der georgischen Kirche. Feinde waren die russischen Eroberer und der Kommunismus und deren Agenten im Lande. Das politische Bild eines freien Georgiens entsprach dem europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der Minderheiten allenfalls tolerieren konnte. Die Minderheiten reagierten erwartungsgemäß mit verminderter Loyalität, was Maßnahmen gegen sie legitimieren konnte. Wie in anderen zerfallenden Reichen, etwa dem österreichisch-ungarischen, fürchteten die Minderheiten die neuen Nationalstaaten mehr als das alte Imperium.

Im Falle Abchasiens und Südossetiens führte dieser Mechanismus zu Sezessionsbestrebungen. Für die georgische Nationalbewegung waren sie der Beweis, dass das Vereinheitlichungsprogramm verstärkt werden musste. Die georgische Unabhängigkeitsbewegung betonte zwar immer wieder ihre Toleranz. Immer wieder aber knüpfte sie diese Toleranz an das Wohlverhalten der Tolerierten. Die waren schließlich nur Gäste auf der heiligen georgischen Erde – gleichgültig wie lange sie sich dort aufgehalten hatten.

Die abchasischen und südossetischen Sezessionsbestrebungen manifestierten sich entsprechend sofort, zumal im sowjetischen Kontext die staatsrechtliche Form der »Autonomen Republik« im Falle Abchasiens sowie des »Autonomen Gebiets« im Falle Südossetiens bereits vorgegeben war. Die georgische Führung unter Gamsachurdia reagierte mit einer Aufhebung der Autonomien – Georgien war überall mit gleichem Rechtsstatus. Die Kriege, die ab 1989 in Abchasien und Südossetien ausbrachen, waren nicht nur verheerend, sie mobilisierten auch die Emotionen auf allen Seiten. Gamsachurdia gelang es zunächst, den Aufstand in Abchasien mit Hilfe russischer Truppen niederzuschlagen. Aber der Krieg hörte nicht auf.

Der Weg nach Westen

Die entscheidende Wende brachte die wachsende antirussische Orientierung in Georgien und der Wunsch, sich dem Westen vollständig anzuschließen. Die russische Armee unterstützte nun die Aufständischen zunächst verhohlen, dann unverhohlen. Vor allem in Abchasien erschienen nun auch freiwillige muslimische Kämpfer – teilweise Angehörige der muslimischen Bergvölker, vor allem Tschetschenen, aber auch Abchasen aus der Türkei, die gegen die georgischen Milizen kämpften. Georgien verfügte noch nicht über seine moderne amerikanisch ausgerüstete und durch den Irakkrieg gestählte Armee, sondern stützte sich überwiegend auf bunt zusammengewürfelte, brutale, aber ineffiziente Milizen. So konnte die abchasische Minderheit den Krieg gewinnen und die Mehrheit der georgischen Bevölkerung, etwa 200.000 Personen, vertreiben.

Dabei sind die prorussischen Sympathien in Abchasien weitaus geringer als in Südossetien, das kulturell Russland besonders nahe steht. Es ist denkbar, dass sich die abchasische Führung Hoffnungen auf eine internationale Anerkennung und damit irgendwann auf eine wirkliche Unabhängigkeit macht. Das Land ist dank seiner Böden, seines freundlichen Klimas und seiner hinreißenden Landschaften tauglich für profitablen Massentourismus. Aber vorläufig wird der wirtschaftlich erwünschte Touristenstrom vor allem aus Russland kommen.

Georgien selbst hat sich seit seiner Unabhängigkeit tiefgreifend verändert. Unter Gamsachurdia blieb die Wirtschaft im Wesentlichen sozialistisch. Den Eindruck einer Diktatur weckte er vor allem durch seine Rhetorik, in der jeder seiner Gegner zu einem Agenten Moskaus wurde. Dabei ließ Gamsachurdia aber nur eine einzige Zeitung verbieten, die russischsprachige Molodëz Gruzii. Ansonsten blieben die georgischen Medien frei.

Immerhin gelang es Gamsachurdia, alle politischen Kräfte gegen sich zu einen. So wurde er 1992 in einem Militärputsch gestürzt. Er floh zunächst nach Suchumi in Abchasien, von dort in die tschetschenische Hauptstadt Grosny, Tschetschenien war gerade unabhängig geworden und der erste Tschetschenienkrieg hatte noch nicht eingesetzt. Von Grosny aus kehrte Gamsachurdia 1993 nach Georgien zurück und setzte sich vor allem in Westgeorgien, Mingrelien und Imeretien fest, um gegen die neue Regierung unter dem ehemaligen sowjetischen Außenminister Schewardnadse zu kämpfen. Diesen Bürgerkrieg verlor er – auch weil russische Truppen die georgischen unterstützten. Gamsachurdia starb im Dezember 1993 unter ungeklärten Umständen. 2007 ließ ihn Präsident Saakaschwili von Grosny nach Tiflis umbetten.

Schewardnadse machte eine umsichtige Außenpolitik, um das Land nicht zu gefährden. Im Inneren regierte die Korruption. In Privatisierungen nach russischem Muster wurde das staatliche Vermögen an Privatpersonen und interessierte Einflussnetze verschleudert. Auf regionaler und örtlicher Ebene wurde Georgien durch miteinander vernetzte Gruppierungen kontrolliert, die Bevölkerung war politisch demobilisiert und folgte in den Wahlen sowjetischen Reflexen: Sie wählte die wahrscheinlichen Sieger. Auf örtlicher Ebene gab es wie in Russland Methoden, die Menschen zur richtigen Stimmabgabe zu motivieren.

Die gegen Schewardnadse gerichtete so genannte Rosenrevolution von 2003 wurde von einer Gruppe junger, westlich ausgebildeter Personen angeführt, die Schewardnadse überwiegend noch selbst installiert hatte. Unter ihnen spielte sich Saakaschwili allmählich in den Vordergrund und führte das Land wirtschaftspolitisch und militärisch auf einen radikal westlichen Weg. Nach innen hin entsprach seine Politik eher jener Gamsachurdias. Es entstand eine gegen ihn gerichtete Opposition, die Wahlfälschungen und die zunehmende wirtschaftliche Verelendung der Bevölkerungsmehrheit bei steigendem Reichtum einer kleinen Führungsschicht beklagte. Dass diese Opposition zugleich eindeutig prowestlich und antirussisch eingestellt war, verschaffte ihr keine amerikanischen Sympathien.

Immerhin waren Saakaschwilis Veränderungen bemerkenswert. Er privatisierte die Wirtschaft energisch ohne sozialpolitischen Klimbim. Überhaupt war er ein Mann radikaler Entschlüsse. So löste er 2004 kurzerhand die Verkehrspolizei auf, die wie in den meisten postsowjetischen Staaten primär aus einem korrupten Haufen von Wegelagerern bestand. An ihrer Stelle baute er eine neue Polizei auf, die besser bezahlt und besser auf Rechtsstaatlichkeit hin kontrolliert war. In ähnlicher Weise reformierte er die Universitäten im Sinne des Bolognaprozesses. Westliche Hochschulreformer könnten von seiner radikalen Entlassungs- und Sanierungspraxis nur träumen. Bevorzugt eingestellt wurden junge Absolventen, die Abschlüsse an angelsächsischen Hochschulen erworben hatten; wirtschaftlich und politisch irrelevante Disziplinen wurden gestrichen.

Saakaschwili sandte 2000 Soldaten in den Irak – nach Großbritannien das drittgrößte Kontingent. Die Armee wurde vollständig auf westliches Kriegsgerät umgestellt, amerikanisch uniformiert und trainiert. Die fraglose und unbedingte Loyalität zur Regierung Bush und zu den durch Dick Cheney global vertretenen wirtschaftlichen Interessen garantierten Saakaschwili jenen Rückhalt, kraft dessen er auch seinen Versuch unternahm, Südossetien im Handstreich zurückzuholen. Im Falle Adschariens war ihm das 2004 ja auch auf Anhieb gelungen.

Mit Saakaschwilis Reformen, mit den russischen Wirtschaftsembargos gegen Georgien und mit dem Krieg vom August 2008 ist die alte asymmetrische georgisch-russische Symbiose unwiderruflich aufgelöst. Jüngere Georgier haben kein positives Verhältnis mehr zur russischen Kultur und zur russischen Sprache; sie lernen Englisch. Zu der Fremdwerdung hat auch die stupide russische Politik beigetragen – und zwar nicht nur durch den massiven Gegenschlag auf den georgischen Eroberungsversuch. Die russische Regierung hat den Bruch dadurch angeheizt, dass es die latenten rassistischen russischen Stimmungen gegen die Kaukasier nicht dämpfte, sondern anheizte und sie seit der Amtszeit Saakaschwilis zur Drangsalierung der in Russland lebenden Georgier nutzte. Auch auf diese Weise lassen sich alte Zusammenhänge löschen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2008