Benno Ennker

Russlands Büchse der Pandora

Der kaukasische Regionalkonflikt und eine Außenpolitik ohne Strategie

Nur in der ersten Eskalationsphase wäre es ein regionaler Konflikt gewesen. Aber Russland zog die Schraube weiter an und konnte mit einem gespaltenen Westen rechnen. Diese Vorgehensweise mag in das neue außenpolitische Konzept Putins und Co. passen, das freilich weit mehr rückwärtsgewandt wirkt und auf imperiale Abschreckung und Einschüchterung ausgerichtet ist, insbesondere gegenüber dem »nahen Ausland«. Zugleich, so bemerken auch russische Kritiker, enthält es vor allem starke Elemente einer »splendid isolation«. Als Strategie für weltpolitisch verantwortungsvolles Handeln ist es untauglich.

Zchinwali auf der Weltbühne – schnelle Eskalation

Die Stadt Zchinwali in Südossetien, Hauptstadt der selbst deklarierten und von Russland protegierten Republik, dürfte bis zum 8. August 2008 nur den wenigsten Politikern der westlichen Welt bekannt gewesen sein. Seither geriet sie auf tragische Weise ins Zentrum der Weltöffentlichkeit. Der georgische Präsident Micheil Saakaschwili suchte mit militärischer Gewalt, die vom georgischen Staatsverband abgefallene Region wieder einzugliedern, »die verfassungsmäßige Ordnung wieder herzustellen«, wie er verlauten ließ. Der Versuch misslang und führte zum Kaukasus-Krieg mit Russland. Dessen Truppen marschierten bis tief ins Kernland Georgiens. Dieses Eingreifen Russlands und sein Vormarsch auf Tiflis zogen schärfste Reaktionen der USA und der NATO sowie der EU nach sich. Der derzeitige EU-Ratspräsident Nicolas Sarkorzy handelte in zwei Vermittlungsmissionen Waffenstillstands- und Rückzugsvereinbarungen sowie spätere Konferenzen zur Konfliktregulierung für die Krisenregion mit Russland aus. Die friedlichen Feuerwehr-Aktionen der EU-Führung kontrastierten mit der amerikanischen außenpolitischen Unbeweglichkeit, die von der früheren Außenministerin unter Clinton, Madeleine Albright, deutlich kritisiert wurde.(1) Die Handlungsunfähigkeit wurde durch Schmähreden gegen den russischen »Imperialismus« und seinen »Expansionismus« kompensiert, in denen die »Aggression« allein auf Seiten Moskaus verortet wurde, ohne auch nur ein Wort der Kritik am Vorgehen Georgiens fallen zu lassen. In der Konsequenz wurde die Kooperation im NATO-Russland-Rat ausgesetzt, die USA nahmen von der Verabschiedung eines lange ausgehandelten Vertrags über die Zusammenarbeit im zivilen Nuklear-Bereich Abstand, und die EU setzte die in Aussicht genommenen Verhandlungen mit Russland über ein erneuertes Partnerschaftsabkommen aus. Das gesamte Gebäude der Ost-West-Beziehungen seit Ende des Kalten Krieges wurde in Frage gestellt.

Beide Seiten beriefen sich auf das Völkerrecht und beschuldigten sich gegenseitig des »Genozids«. Selbst mehr als einen Monat nach Beginn des Kaukasus-Krieges ist die Zahl der Todesopfer nicht objektiv ermittelt. Sicher ist, dass der Krieg Flüchtlingsströme von bis zu 150.000 Menschen verursacht hat.(2) »Human Rights Watch« interpretierte auf Satellitenbildern von UNOSAT dokumentierte brennende Gebäude in mehreren bislang von Georgiern bewohnten Dörfern als ethnische Säuberungen.(3)

In einer Anhörung amerikanischer Parlamentarier ließ die Bush-Administration verlauten: Wahrscheinlich sei Saakaschwili in eine Falle getappt, als er sich durch eine Massierung russischer Truppen in Nord-Ossetien habe zu seinem Vorgehen provozieren lassen. Die US-Verantwortlichen vor Ort hätten nichts von den georgischen Absichten gewusst.(4)

Seit dem Beginn des Kaukasus-Krieges lassen sich mehrere Phasen der Eskalation zum internationalen Konflikt unterscheiden. Auf den Einmarsch der georgischen Truppen nach Zchinwali reagierten die westlichen Regierungen mit Appellen zur Einstellung der Kampfhandlungen, ohne das Vorgehen Georgiens zu verurteilen. Es handelte sich nicht um eine einfache Polizeiaktion, die ihre Legitimität daraus bezog, die Verfassung auf dem eigenen Staatsterritorium durchzusetzen, wie es deklariert wurde. Russische demokratische Politiker wie Grigori Jawlinski und Publizisten sowie Menschenrechtsgruppen sahen sich bei dem georgischen Vorgehen ziemlich exakt an den kriegerischen Überfall der russischen Armee auf Tschetschenien und an die Bombardierung Groznys im Jahr 1999 erinnert: in beiden Fällen der Krieg eines Staates gegen Teile des eigenen Staatsvolkes.(5)

In dieser Phase des Konflikts traten sofort die bekanntesten Meinungsmacher des Kreml an die Öffentlichkeit und schlugen Alarm ob des neu-russischen »Patriotismus«: Wenn Russland diese »Aggression« nicht zurückschlage, verliere es seine Stellung als »Ordnungsmacht im Kaukasus«.(6) Präsident Dimitri Medwedew fiel sogleich auf die Linie ein, die Ministerpräsident Wladimir Putin aus dem fernen Beijing als Linie für die russische Reaktion vorgab: Georgien müsse angemessen »bestraft« werden.(7) Russische Truppen vertrieben die georgischen Soldaten nicht nur aus Zchinwali und Südossetien, sondern drangen bis tief in das georgische Kerngebiet vor, um unter anderen auch die Stadt Gori (33 km von Zchinwali und 76 km von Tiflis entfernt) einzunehmen. Zudem gingen abchasische und russische Truppen gegen die an der Demarkationslinie zu Abchasien stationierten georgischen Einheiten im Nordwesten des Landes vor, und der georgische Schwarzmeerhafen von Poti wurde eingenommen.

Mit dem Überschreiten der innergeorgischen Grenze Südossetiens durch das russische Militär erreichte der Krieg bereits zum Abend des ersten Kriegstages seine nächste Eskalationsstufe. Georgien mit einer politischen Führung, die sich seit Jahren an die USA anlehnt und protegiert durch die Bush-Administration die Mitgliedschaft in der NATO anstrebt, war einer Invasion durch Russland ausgesetzt. Eine solche Konfrontation zwischen Russland und einem »Vorposten« der USA hatte es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht gegeben. Die Mechanismen der internationalen Konfliktregulierung, der UNO-Sicherheitsrat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie der NATO-Russland-Rat waren durch die Unvereinbarkeit der amerikanischen und der russischen Standpunkte gelähmt. Die USA waren nicht bereit, die Verantwortung Georgiens für den Kriegsbeginn anzuerkennen, obwohl diese durch interne Berichte der OSZE-Militär-Beobachter aus der Krisen-Region belegt wurde.(8)

Russland wollte seine einmal in Marsch gesetzten Truppen nicht an der Grenze zurückhalten, sondern setzte darauf, so viel wie möglich Terrain einzunehmen und die militärische wie zivile Infrastruktur Georgiens zu zerstören. Dies war die von Ministerpräsident Putin von Anfang an geforderte Vergeltung, die weit darüber hinausging, »Kampfpositionen zu zerstören, von denen aus zuvor auf russische Soldaten und auf die ossetische Zivilbevölkerung geschossen wurde«. So lautete seine nachträgliche Rechtfertigung.(9)

Immerhin bleibt festzuhalten, dass der amerikanische Botschafter John Beyrle in einem Interview der russischen Seite ausdrücklich bescheinigte, »den Angriff auf die Friedenstruppen der Russischen Föderation in Südossetien mit guten Gründen beantwortet« zu haben. Allerdings werde durch Überschreiten der Demarkationslinie die territoriale Integrität Georgiens bedroht.(10)

Die dritte Konflikteskalation wurde erreicht, als Russland am 26.8.2008 die beiden abtrünnigen Regionen Georgiens, Abchasien und Südossetien, als »unabhängige« Staaten anerkannte. Dies wurde mit dem Hinweis auf den »Präzedenzfall« der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA und eine Reihe von EU-Ländern begründet, mit der auch die territoriale Integrität Serbiens verletzt worden sei. Um diese Analogie zum Fall Kosovo zu legitimieren, begleitete der Präsident Südossetiens Eduard Kokoity die militärische Intervention Russlands in dem Konflikt am 8.August sofort mit entsprechenden Vorwürfen gegen die georgischen Truppen, sich massiver ethnischer Vertreibungsakte gegen die Südosseten schuldig zu machen.(11) Denn das Völkerrecht erkennt ausnahmsweise in einem solchen Fall das Recht auf Austritt aus einem Staatsverband an. Zuletzt hat allerdings der russische Außenminister Sergej Lawrow den tiefen Eingriff in das Völkerrecht durch die Anerkennung der Separatisten auf Kosten der Hoheit des Staates Georgien mit dem Argument verteidigt: Dies sei »der einzig mögliche Ausweg aus der Situation (gewesen), die andernfalls eine Quelle der Instabilität für die gesamte Region geblieben wäre«.(12)

Russland: Allgemeine Verunsicherung der Nachbarn

Dieses allgemeine Argument enthält eine Generalklausel, die – hätte sie Geltung – es erlauben würde, von den Nachbarstaaten Russlands separatistische Regionen mit entsprechender »Instabilität« abzutrennen. Diese letzte Eskalation des Konflikts hat Russland auch gegenüber seinen nächsten Bündnispartnern innerhalb der GUS in Interessenkonflikte gebracht. Die politische Führung zeigt sich aber in einer stolzen Haltung der splendid isolation, wütend entschlossen, ihre einmal erreichte »Position der Stärke« auszubauen. Sie verbindet dies mit absichtsvoll vage gehaltenen Drohungen gegen andere Staaten des postsowjetischen Raumes.

So musste es jedenfalls empfunden werden, als Präsident Medwedew in einem Interview öffentlich darauf bestand, dass Russland »Regionen mit privilegiertem Interesse« beanspruche und zu diesen ausdrücklich die angrenzenden Länder zählte. Die baltischen Länder wie die Ukraine mussten sich von dieser neu benannten Einflusszone Russlands direkt betroffen fühlen. Das Gleiche gilt nach den Erfahrungen mit der russischen Intervention im Kaukasus-Krieg, die unter anderem mit dem Schutz der russischen Staatsbürger legitimiert wurde, auch für einen weiteren Punkt von Medwedews Erklärung: »Der Schutz von Leben und Würde unserer Mitbürger, wo immer sie sein mögen, hat selbstverständlich Priorität für unser Land.«(13) Zwar finden sich die Aussagen sowohl zum Anspruch auf Einflusssphären als auch zum »Schutz der Mitbürger« auch in früheren staatlichen Verlautbarungen.(14) Die Erfahrung und der Zusammenhang mit der Kaukasus-Konfrontation hat sie jedoch zur akuten Drohung gegen alle westlich orientierten Länder mit russischen Minderheiten gemacht: darunter Lettland mit fast 30 Prozent, Estland mit 28 Prozent, die Ukraine mit 17 Prozent Russen an der Gesamtbevölkerung. Auch andere postsowjetische Staaten haben große russische Minderheiten, die bis zu einem Bevölkerungsanteil von 30 Prozent (Kasachstan) reichen.

Russlands Intervention in Südossetien war eine jahrelange Praxis vorausgegangen, in der unter dem größten Teil der dortigen Einwohner russische Pässe ausgeteilt wurden. (Die Zahl ethnischer Russen erreichte nach früheren Zählungen nicht mehr als 2 %.). Damit war der formale Hebel geschaffen worden, der der russischen Armee als Legitimation für ihr Eingreifen zum »Schutz unserer Mitbürger« diente. Die Ukraine, deren Präsident ebenso wie der Georgiens die Mitgliedschaft in der NATO anstrebt, sieht sich besonders gefährdet: Die ihr gehörende Krim-Halbinsel ist zu 58 Prozent von Russen bewohnt, unter denen in der zurückliegenden Zeit eine unbekannte Zahl russischer Pässe verteilt wurden.(15) Zwar hat Russland in einem Vertrag von 1997 die Grenzen der Ukraine als »unverletzlich« garantiert. Außenminister Lawrow ließ jedoch wiederholt verlauten: Kiews Kurs auf möglichst schnellen NATO-Beitritt »widerspreche dem 1997 unterzeichneten Freundschafts-, Kooperations- und Partnerschaftsvertrag«.(16) Der Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, einer der seriösesten russischen Außenpolitik-Experten, Fedor Lukjanow, hat am 12. September in einem Radio-Interview folgendes Szenario in der nächsten Zukunft für möglich erklärt: Da die russische Führung einen NATO-Beitritt der Ukraine auf jeden Fall verhindern will, könnte sie jenen Vertrag von 1997 kündigen, um freie Hand zu haben, die Integrität der Ukraine von der Krim aus unter Berufung auf die dortige russische Bevölkerung und deren »Unruhen« in Frage zu stellen.(17)

Saakaschwili hat mit seinem Angriff auf Zchinwali eine prekäre Kräftekonstellation im Kaukasus aus dem Gleichgewicht gebracht. Das russische Militär war bestens darauf vorbereitet. Das gegenwärtige Hochgefühl in der politischen Elite Russlands wird durch den Erfolg genährt, den USA als der »einzig verbliebenen Supermacht«, verkörpert in ihrer Kaukasus-Bastion, eine demütigende Niederlage zugefügt zu haben. Dies hat allerdings zu einer »Arroganz der Macht« verleitet, die die russische Führung glauben lässt, dass sie sich eine Weltpolitik ohne Bündnispartner in splendid isolation leisten könnte. Die letzte Eskalationsstufe des Konflikts, die russische Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit der georgischen Separatisten-Regionen, hat Moskau keine Unterstützung von Seiten seiner östlichen Bündnis-Organisationen, der GUS, der Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit oder gar der auch China umfassenden Schanghai-Gruppe eingebracht, sondern eher Bedenken und zum Teil Distanzierung. Nicht wenige russische Kommentatoren fürchten sogar, dass diese Politik auf den Bestand des Vielvölkerstaates selbst zurückschlagen könne, nachdem auf diese Weise die »Büchse der Pandora« des ethnisch-nationalen Separatismus geöffnet wurde.(18)

Putin und Medwedew haben damit in der Tat eine 180-Grad-Wendung gegenüber der stets vertretenen Auffassung vollführt, nach der das Völkerrecht die »territoriale Integrität« von Staaten (die Mitglieder der UNO sind) über das Recht auf nationale Selbstbestimmung mit der Konsequenz der Lostrennung von Regionen stellt und es verbietet, diese als Staaten anzuerkennen. Dieser Standpunkt, der vor allem mit Blick auf Tschetschenien eingenommen wurde, wurde von Russland seit Jahren auch gegen die Bestrebungen des Kosovo angewandt, sich von Rest-Jugoslawien abzutrennen. Moskau konnte dafür gute völkerrechtliche Gründe anführen.(19)

Zunächst nur vage und dann – nachdem mit der Anerkennung des Kosovo durch die USA und eine Reihe europäischer Länder diese Verhinderungspolitik gescheitert war – immer deutlicher hatte Russland im Gegenzug die staatliche Anerkennung von Separatisten-Regionen wie Abchasien und Südossetien angedroht und faktisch vorbereitet. Mit der einseitigen Anerkennung des Kosovo, wie sie von den USA forciert und dann von anderen westlichen Staaten – darunter auch Deutschland – mitgetragen wurde, ist auf diplomatischer und völkerrechtlicher Ebene eines der zentralen Elemente in den Ost-West-Beziehungen zu Russland als der Schutzmacht Serbiens aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Es hat die Unterminierung dieser Beziehungen durch den Jugoslawien-Krieg (1999) sowie die Umgehung des UNO-Sicherheitsrates durch die USA und die NATO neu aktualisiert. Letzteres bedeutet für Russland als eines von fünf Mitgliedern mit Veto-Macht, von dem die Kompetenz des Gremiums zur internationalen Rechtssetzung stets unterstrichen wird, dass seine nach dem Zweiten Weltkrieg errungene Position als Weltmacht in Frage gestellt wird.

Imperiale Exklusivrechte und die NATO-Frage

Mit der von den USA forcierten Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO drohte bereits im Frühjahr der letzte Stein aus dem nach dem Kalten Krieg mühsam errichteten Gebäude der Ost-West-Beziehungen zu brechen. Damit erreichte die schon immer von Russland befehdete Ost-Erweiterung der NATO das Territorium der GUS-Staaten, also aller postsowjetischen Staaten mit Ausnahme der baltischen. Russland betrachtete bereits seit den Neunzigerjahren diese Staaten unter dem Etikett des »nahen Auslands« als seine imperiale Einflusssphäre, die es durch ein Geflecht von Bündnissen und zweiseitigen »Freundschafts- und Kooperations-Abkommen« zu organisieren suchte. Eine politische oder wirtschaftliche Integration dieses Staatensystems gelang jedoch nicht. Auch konnten die imperialen Exklusivrechte, die Moskau für sich beanspruchte, nicht aufrechterhalten werden. Sie wurden sogar zum Teil frontal zurückgewiesen, wie dies durch die demokratischen Revolutionen in der Ukraine und Georgien geschah, die bald darauf den NATO-Beitritt suchten. Indem auf dem Bukarester NATO-Gipfel vom April 2008 diese Fragen – entgegen dem Drängen der Bush-Administration – offen gehalten und auf künftige Beschlüsse verschoben wurden, blieb dieser Konflikt zunächst in der Schwebe.

Im Westen, vor allem in den USA, wird die These vertreten, dass durch diese »unklare Haltung« Russland zu seinem militärischen Zugriff gegen Georgien ermutigt worden sei. Tatsächlich schien sich die russische Führung vor der Kaukasus-Krise in der NATO-Frage keineswegs für ein bestimmtes Vorgehen entschieden zu haben. Einerseits ließ sie ständig öffentlich erklären, den NATO-Beitritt der beiden Länder auf jeden Fall verhindern zu wollen, wie dies in der vom neuen Präsidenten unterzeichneten »Außenpolitischen Strategie der Russischen Föderation« vom Juli 2008 geschah.(20) Andererseits wurde in der außenpolitischen Elite, die auf der Jahrestagung des prominenten »Rates für Außen- und Sicherheitspolitik« versammelt war, die Auffassung vertreten, dass man diesen Schritt letztlich nicht mehr werde verhindern können. Von einem stellvertretenden Außenminister wurde gar das historische Stichwort »entschiedene Nicht-Einmischung« in die Öffentlichkeit lanciert.(21)

Der Kaukasus-Krieg vom August hat am »Schwebezustand« der NATO-Frage so viel geändert, dass Russland nun allen Beitrittsabsichten seiner Nachbarländer, vor allem Georgiens und der Ukraine, mit drohender Gewalt ablehnend gegenüber steht.

Bis hierher ist verfolgt werden, auf welche Weise der Konflikt um Südossetien solche internationalen Dimensionen annahm, dass die gesamten Ost-West-Beziehungen in Frage stehen. Warum sich solcher Sprengstoff angesammelt hat, hängt mit den außenpolitischen Interessen und Motiven Russlands zusammen.

Eine Außenpolitik ohne Strategie

Die USA sind aus der Wende von 1989/90 mit der Selbstgewissheit hervorgegangen, die George Bush sen. in seiner Rede an die Nation 1992 in den Worten ausdrückte: »Mit Gottes Gnade hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen.«(22) Das Hochgefühl der politischen Elite Amerikas hat dazu verführt, eine Weltpolitik ohne System der Weltmächte, sondern nach der Logik des Supremats, der »einzig verbliebenen Supermacht«, zu führen. Die Integration Russlands in das Weltsystem wurde in den Neunzigerjahren verpasst, indem eine Polarisierung zwischen Russland und dem Militärbündnis der NATO zugelassen wurde. Seit der ersten Hälfte der Neunzigerjahre führte die angestrebte Osterweiterung des Bündnisses durch Ungarn, Tschechien und Polen, die 1999 erfolgte, zu dauernden Auseinandersetzungen mit Russland. Als Kompromiss wurde mit ihm 1997 die »Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit« und die Bildung des NATO-Russland-Rates vereinbart. Auf die NATO-Intervention im Kosovo-Konflikt und ihren 11-wöchigen Luftangriffen gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien antwortete Russland, indem es die Mitarbeit im NATO-Russland-Rat auf Eis legte.(23) Wladimir Putin strebte seit seiner Präsidentschaft nach einer Verbesserung des Verhältnisses Russlands zu den USA und Europa, nahm 2000 die Mitarbeit im NATO-Russland-Rat wieder auf und erklärte sich nach den Anschlägen des 11. September 2001 zu einer strategischen Kooperation mit den USA im »internationalen Krieg gegen den Terror« bereit. Der russische Präsident räumte dabei den USA und der NATO geostrategischen Zugang nach Mittelasien (Afghanistan) über einige Länder der GUS ein. Es war eine politische Wendung, die damals auf vernehmbaren Widerwillen des russischen Generalstabs stieß. Putins Hoffnung auf ein mit den USA geteiltes Duumvirat erfüllte sich nicht und wurde definitiv 2003 mit dem Irak-Krieg zerschlagen. Russland dachte nicht daran, die von George W. Bush deklarierte »unipolare« Weltordnung zu akzeptieren. In der Folge »experimentierte der Kreml mit der Multipolarität«, was zu erheblichen Schwankungen führte.(24) Begleitet wurde dieser neue Kurs durch eine veränderte Sicht auf den Westen, der nun feindlich und subversiv erschien. Dies kam in Putins Interpretation der Geiselnahme von Beslan im September 2004 zum Ausdruck: Russland sei von einer feindlichen Welt umgeben, die seine Zerschlagung anstrebe.(25) Ende 2004 scheiterte sein Versuch, die ukrainischen Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen, an der »Orangenen Revolution«, die nun als Manipulation der USA und Vordringen des Westens in den postsowjetischen Raum interpretiert wurde.(26) In der Folge entwickelten sich die ersten Konturen der aktuellen putinschen Außenpolitik. »2005 nahm das Verhältnis Russlands zum Westen die Form einer antagonistischen Partnerschaft an. Das bedeutet in einigen Bereichen Kooperation, in anderen Eindämmung.«(27)

2006 und 2007 wurde die Konfrontation umso schärfer, je länger sich die Unsicherheit der politischen Elite in der »Nachfolge-Frage« für Putin hinzog und je näher die Parlaments- und die Präsidentenwahlen rückten. In der russischen Öffentlichkeit – in den Druckmedien und mehr noch im staatlich kontrollierten Fernsehen – haben anti-westliche Stimmungsmacher einen hohen Stellenwert erhalten. Die USA und die NATO werden seit den letzten Jahren in Bevölkerungsumfragen eindeutig als »Feinde« Russlands verortet. Dieses von den Medien genährte Feindbild, in dem sich die Russen von westlicher Umkreisung bedroht sehen, ist sehr populär, kann an eine lange Tradition der Weltsicht anknüpfen und hat hohen Legitimationswert für die Herrschenden.

Bei diesen dominiert unterdessen im außenpolitischen Denken eine Auffassung, nach der der refrainartig beschworene »Wiederaufstieg« Russlands, gespeist aus autoritärer Stabilisierung des Staates und boomender Energie-Wirtschaft, nicht mehr mit seiner zweitrangigen Weltposition zu vereinbaren sei.(28) Daher besteht man darauf, dass Russlands Veto-Macht im UNO-Sicherheitsrat von den USA nicht mehr durch Umgehung dieses Gremiums ausgeschaltet wird. Zudem sei das Eindringen der USA und der NATO in den Raum der GUS auf keinen Fall hinzunehmen. Die Auflösung der Sowjetunion, einst als »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« (Putin) bezeichnet, soll keine Fortsetzung in der Destabilisierung des eigenen imperialen Raumes finden. Dies dürfte der tiefste Grundkonsens in der Putin-Elite sein, der weit in die Bevölkerung reicht. Die seit Jahren gültige Ausrichtung der Außenpolitik ist nicht ohne Kritik geblieben. Kompetente russische Experten stellten sie zwar nicht grundsätzlich in Frage, doch mahnten sie, dass man mit dieser Politik weder stabile Bündnisse schaffe noch weltpolitische Verantwortung übernehme.29 Insofern fehlt dieser Politik eine strategische Dimension. Sie ergeht sich unter dem Etikett der »operativen Außenpolitik« in Schachzügen gegen den Westen, die USA, die NATO und die EU. Die Unfähigkeit zur Strategie schlägt sich auch in der russischen Politik nach dem jüngsten Kaukasus-Krieg nieder, mit der Russland auf dem besten Wege ist, in die diplomatische Isolation zu geraten.

Andererseits meldet die russische Führung unverhohlen Revisionsbedarf an den geopolitischen Ergebnissen an, die seit Beendigung des Kalten Krieges die internationale Ordnung prägen. Sie wurden zu einem Zeitpunkt konstituiert, als Russlands internationale Stellung durch äußere Schwäche und innere Labilität bestimmt war. Im Westen hat man sich daran gewöhnt, den Anspruch auf Sicherung der russischen Interessen zu ignorieren, als übertriebene »Rhetorik« abzutun oder nur als neue Ideologie zu interpretieren. Dennoch sind in Putins »Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz« (2007)(30) und mehr noch in der Rede Medwedews in Berlin (2008)(31) Angebote zu neuer strategischer Kooperation enthalten.(32) Sie laufen darauf hinaus, die Architektur der europäischen politischen Beziehungen mit Russland neu zu verhandeln. Wenn damit Gewaltverzicht, Sicherheitsgarantien, Minderheitsrechte und die Garantie bestehender Grenzen in einem kollektiven Sicherheitsvertrag verbunden werden können, sollte sich westliche Politik nicht länger taub stellen. Stattdessen scheint es an der Zeit darauf einzugehen, ehe durch neue NATO-Mitgliedschaftsprozesse für Staaten des postsowjetischen Raums weitere Konfrontationen möglich und wahrscheinlich werden, die die internationale Ordnung, wenn nicht den Weltfrieden, bedrohen würden.

1

»Ich wäre sofort nach Moskau geflogen, was Condoleeza Rice versäumt hat.« Interview im Spiegel Nr. 36 (1.9.08).

2

Angaben von UNHCR laut Amnesty International vom 19.8.08. http://www.amnesty.de/2008/8/20/bis-zu-150000-fluechtlinge-im-kaukasus

3

http://hrw.org/english/docs/2008/08/28/georgi19712.htm

4

Testimony of Daniel Fried. Assistant Secretary of State for European and Eurasian Affairs before the House Committee on Foreign Affairs. 9.9.2008. auf: . House Committee on Foreign Affairs. http://www.hcfa.house.gov/110/fri090908.pdf. U. S. Examined Beginning of War. http://www.kommersant.com/p1024013/South_Ossetia_hearings_in_Congress/

5

Statement from the Memorial International Society, 8.8.2008: http://www.memo.ru/2008/08/08/0808082.htm

6

Gleb Pavlovskij: »Saakaschwili versucht Südossetien zu spalten.« 7.8.08 (russ.). Korelov: »Eine Niederlage Russlands in Südossetien würde die schwersten politischen Folgen haben.« http://www.regnum.ru/news/1038127.html

7

Medvedev: »Russia Will Punish for Deaths of Compatriots.« (8.8.08) http://www.kommersant.com/p-13034/Medvedev_Putin_South_O

8

Der Spiegel, Nr. 36 v. 1.9.08, S. 22<|>f.

9

Interview mit Le Figaro, 13.9.08.

10

Interview mit Kommersant, 22.8.08, russ.

11

Tatsächlich wurde von den Menschenrechtsorganisationen Memorial und Human Rights Watch im Krisengebiet eine erhebliche Zahl ethnischer Vertreibungen von Georgiern durch südossetische Milizen konstatiert. Pressekonferenz: Ein Monat nach dem Krieg.11.9.2008 http://www.memo.ru/2008/09/11/1109081.htm

12

Sergej Lawrow: »Die Kaukasus-Krise und die Ukraine«, in: FAZ, 15.9.08.

13

Dimitri Medwedew, Interview mit den Fernsehstationen Rossija, Kanal 1 und NTV, 31.8.08 auf: http://kremlin.ru (russisch und englisch).

14

»The Foreign Policy Concept of the Russian Federation«, Juli 2008; engl. Fassung: www.kremlin.ru/eng/text/docs/2008/07/204750.shtml

15

Taras Kuzio: »Russian Passport as Moscow’s Geopolitical Tool«, in: Eurasia Daily Monitor, Vol. 5, Nr. 176 vom 15.9.08.

16

RIA Novosti: »Moskau wirft Kiew unfreundliche Politik vor«, 11.9.08 http//de.rian.ru/postsowjetischen/2080911/116703069.html.

17

Interviews (russisch) u. a. mit F. Lukjanov (12.9.08) http://echo.msk.ru/programs/politic/540021-echo/

18

K. Remtschukow: »Eine Büchse der Pandora für Russland«, (russ.); Nezavisimaja Gazeta, 5.9.08; V. Schejnis: »Nochmals zur Büchse der Pandora« (russ.); ebd., 12.9.08.

19

Am 12.6.08 teilte der UN-Generalsekretär dem Präsidenten Serbiens B. Tadic mit, dass die Vereinten Nationen nach wie vor die Resolution 1244 des Sicherheitsrates von 1999 für in Kraft befindlich betrachten. Darin wurde die Souveränität und territoriale Integrität Jugoslawiens garantiert.

20

»The Foreign Policy Concept of the Russian Federation«, a. a. O.

21

Das Außenministerium zitiert Tjutschew, (russ.), in: Gazeta (14.4.08) http://gzt.ru/politics/2008/04/14/063005.html

22

Zit. nach Adam Roberts: »Wer die nichtpolare Welt regiert«, in: Internationale Politik, Ausg. Juli/August 2008.

23

Adomeit/Kupferschmidt: »Russland und die NATO«, in: SWB-Studie S 10 (März 2008).

24

Lilia Shevtsova: »Russlands Wille zur Weltmacht. Autokratie, Energie, Ideologie«, in: Osteuropa 4/2007, S. 33–52.

25

Putins Fernsehansprache in deutscher Übersetzung. (4.9.04) http://russlandonline.ru/schuleossetien/morenews.php?iditem=167

26

»Revolution in Orange: Analyse, Hintergründe, Prognosen«, in: Osteuropa 1/2005, S. 3–90.

27

Shevtsova, a. a. O.

28

Dies und das Folgende zuletzt in »The Foreign Policy Concept of the Russian Federation«, Juli 2008; engl. Fassung: www.kremlin.ru/eng/text/docs/2008/07/204750.shtml

29

F. Lukjanov: »With its Foot in the Door, Russia needs to act« (19.12.07), http://globalaffairs.ru/

30

Putins Rede in München im vollständigen Wortlaut. 10.2.07. RIA Novosti: http://de.rian.ru/analysis/20070213/60672011.html

31

Deutsche Fassung, herunterzuladen auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: www.dgap.org/fi/strategische_regionen/russland

32

Hans-Henning Schröder: »Putin ante Portas. Konturen der neuen russischen Außenpolitik«, in: Swp-aktuell, Juni 2008, S. 4.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2008