Michael Ackermann

Editorial

Im Aufbau eines staatsmonopolistischen Kapitalismus sind die Vereinigten Staaten von Amerika ein erhebliches Stück vorangekommen. Wie zügig die Behörden der Finanzkrise schließlich mit Verboten gewisser Praktiken der Spekulation beizukommen suchten, brachte viele in Europa ins Staunen. Denn hier fehlt ja ein Zentrum, das derart massiv durchgreifen könnte. Wie erfolgreich die größte Verstaatlichungsaktion in der Geschichte der USA und die Unterbindung von Zockerei letztlich verlaufen werden, vermag trotzdem niemand zu prophezeien. Ebenso wenig, wie viele Hunderte von Milliarden Dollar gebraucht werden, um den Finanzkapitalismus zu stabilisieren und Hunderttausende von Hausbesitzern vor dem Ruin zu bewahren. Die Ära der alten Wall Street und der Investmentbanken ist jedoch jetzt schon Geschichte. Die Ideologen eines freien Marktes wirken nun wie Fossile eines Zeitalters, als »Regulierung« noch für das Elixier eines etatistischen Teufels gehalten wurde.

Das »Volksvorurteil«, dass die Gewinne privatisiert, die Verluste dagegen sozialisiert werden, hat sich erneut bewahrheitet. Leider werden die ungeheuren Summen dieser Sozialisierung bei der Finanzierung von Bildung fehlen. Dabei hätten die USA diese bitter nötig. Jenseits der Elite-Universitäten sind sie zu einem bildungspolitischen Schwellenland herabgesunken. Gerhard Georg Paulus pointiert in einer Analyse: »Bei seiner Kernaufgabe, der Ausbildung des qualifizierten Nachwuchses, versagt das amerikanische Schul- und Universitätssystem dramatisch« (FAZ, 4.9.08). Richard Sennett spricht gar von einer »effektiven Analphabeten-Quote von 28 Prozent« und einer Unfähigkeit der Unternehmen, ihre Mitarbeiter weiterzubilden. Gleichzeitig sinke die Quote der Vollbeschäftigten stetig und sei die Arbeitslosenrate höher als angenommen – wenn man die »beinahe 1,5 Millionen Menschen in den Gefängnissen« einbeziehe (SZ, 13./14.9.08).

Bevor man sich durch Richard Sennetts Szenario vom »Niedergang Amerikas« zur Häme hinreißen lässt, sollte man sich lieber den eigenen Hausaufgaben widmen. Sie bestehen beispielsweise darin, den Kampf gegen ein Bildungswesen zu forcieren, welches soziale Spaltung und Chancentod produziert (siehe Seite 44). Die europaweit einmalig kurzen Studienzeiten für Master und Bachelor, die Einführung des »Turboabiturs« im Rahmen von G 8 ohne die Verbesserung und Ausweitung der Rahmenbedingungen, das weitere Beharren auf Zwangssortierung durch Mehrfachgliederung und Abschottung mittels verschiedener Schultypen, die selten produktive föderale Konkurrenz und die Ausweitung einer Privatschulkultur sind nur einige Hinweise auf die Asymmetrien im Bildungsbereich. In Teilen läuft das auf eine »Schule der Verantwortungslosigkeit« hinaus, in der erneut die Defizite sozialisiert werden.

Dazulernen müssten also vor allem diejenigen, die glauben, ihre Erfolge und die ihrer Kinder lägen nur in eigenen Verdiensten begründet und seien keineswegs von jenen Strukturen abhängig, für die sie alleine gar nicht sorgen können, aber keine Sorge tragen wollen. Genau diese Haltung kommt teuer zu stehen. Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Baumert betont, wie wichtig die Sorge für »Abschlussgerechtigkeit« ist. Damit könne man sich nämlich die horrenden Ausgaben für spätere soziale Hilfen sparen. »Wie Langzeitstudien aus den USA … gezeigt haben, bekommt die öffentliche Hand für jeden Dollar, den sie für kleine Kinder aus sozial schwachen Familien investiert, das bis zu Siebenfache zurück. Diese Kinder haben später bessere Schulabschlüsse, leben seltener von Sozialhilfe und werden weniger häufig kriminell« (Die Zeit, 18.9.08).

Im Wesentlichen können Innovation und Bildung Deutschland als wirtschaftliche Mittelmacht absehbar in der Weltmarktkonkurrenz bestehen lassen. Diese Faktoren werden im Verhältnis zur Senkung aller Arten von Produktionskosten auf dem Rücken der Lohnabhängigen jedoch weithin unterschätzt. Man braucht die Segnungen einer Nachfragepolitik nicht überschätzen, um erkennen zu können, dass das Setzen auf massive Lohnsenkungen als Produktionsfaktor fehlgeht. Die Lohnstückkosten sind in Deutschland von 1995 bis 2007 um mehr als 20 Prozent gesunken! Mit dieser Entwicklung setzt die größte Volkswirtschaft Europas ihre Nachbarn erheblich unter Druck. In Brüssel gibt es eine starke Fraktion, die von Deutschland verlangt, mehr Lohnwachstum zuzulassen, damit die Produktivitäts-Unterschiede im Euroraum nicht zu groß werden.

Die »ökonomischen Spielräume« sind keineswegs mehr so eng wie oft behauptet. Die »politischen Spielräume« wiederum sind größer, als von Teilen der politischen Klasse ständig suggeriert wird. Selbst Großmeister der Wirtschaftswissenschaften signalisieren, dass die Politik entscheiden und gestalten müsse (siehe Seite 38). Die dramatische Aufführungspraxis der Sozialdemokratie förderte allerdings jüngst das Vertrauen in politische Praktiken nicht. Doch legen auch die medialen Schmähreden über die politische Sphäre und die Parteien im Allgemeinen einen Kernbereich der Freiheits- und Demokratieprobleme bloß. Auch hieraus speist sich das Paradox, dass Demokratieverdrossenheit und ehrenamtliches Engagement gleichermaßen zunehmen. Die Tabuisierung bestimmter Koalitionsvarianten trägt dazu gewiss noch bei.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2008