Israel – im Banne des Konfliktes

Else Lasker-Schüler, deutsche Kultur und Palästina

Uri Avnery

Else Lasker-Schüler war eine der letzten Blüten der deutsch-jüdischen Symbiose, ein Phänomen, das beinahe einzigartig in der Geschichte ist. – Man spricht über dieses Phänomen so oft, dass man kaum daran denkt, wie merkwürdig es eigentlich war. Denn gerade Deutschland hat gegen die Juden gesündigt, wie wohl kaum ein anderes Land in der Welt. Deutsche Teilnehmer am 1. Kreuzzug haben auf dem Weg zum Heiligen Land unglaubliche Gräueltaten an Juden im Rheinland vollbracht. Zwei Jahrhunderte später fanden in Deutschland die schrecklichen Pogrome gegen die Juden statt, denen man die Schuld am "Schwarzen Tod" zuschob. Am Ende kam der Holocaust, der Versuch, ein ganzes Volk planmäßig auszurotten. Es gibt Historiker, die diesen Völkermord auf die antisemitische Hetze Martin Luthers und vieler anderer deutscher Dichter und Denker beziehen.

Im Mittelalter haben sich Juden massenhaft aus Deutschland nach Polen gerettet. Polen war damals das Paradies der Juden, eine leuchtende, liberale Insel im dunklen Europa. Aber zu einer Symbiose zwischen Juden und Polen ist es nie gekommen. Die Juden fuhren fort, auch in Polen Jiddisch zu sprechen, ein mittelalterliches Deutsch mit hebräischen und slawischen Wörtern vermischt. Sie wollten von der Sprache und Kultur ihrer Gastgeber nichts wissen. Sie sonderten sich ab und betrachteten sich als ein besonderes Volk, und wurden auch von den Polen als solches anerkannt. Auch im heutigen Israel besteht noch ein abgrundtiefer Hass auf Polen, aber kaum auf Deutschland.

Was gab es in der deutschen Kultur, das die jüdische Seele so ansprach? Warum waren die Juden in Frankreich, dem Mutterland der Judenemanzipation, oder im demokratischen England bei weitem nicht so in der Kultur des Heimatlandes verankert wie in Deutschland?

Ich habe keine Antwort darauf. Ich weiß nur, dass Else Lasker-Schüler, diese zarte Blüte am deutsch-jüdischen Ast, ohne diese Symbiose nicht denkbar gewesen wäre.

Eines hatten Deutsche und Juden gemeinsam. Wie mir einmal Professor Jeschayahu Leibowitz sagte, haben die Deutschen und die Juden beinahe alle ihre Kulturgüter geschaffen, als sie noch keinen Staat hatten. Die Juden waren ein Diaspora-Volk, Deutschland war in Dutzende von Fürstentümer zerstückelt; und Weimar gehörte zum Beispiel zu einem der kleinsten.

Else Lasker-Schüler wurde zwei Jahre vor dem deutschen Kaiserreich geboren. Der militaristische Nationalismus, der sich im 2. Reich entfaltete, war der Vorläufer einer neuen Welt, in der ein ungebändigter Nationalismus zur allgemeinen Verrohung führte – die "Verrohung der Welt", die Else Lasker-Schüler im Gedicht "Mein blaues Klavier" beweinte.

Der überspitzte Nationalismus beschäftigte auch Theodor Herzl, ein Zeitgenosse der Dichterin. Er wurde neun Jahre vor Else Lasker-Schüler geboren. Er war ebenso in der deutschen Kultur verwurzelt wie sie, sein großer Ehrgeiz war, ein herausragender deutscher Schriftsteller zu werden. Erst als er sich eingestehen musste, dass er dazu nicht genügend Talent hatte, wandte er sich der Judenfrage zu und gründete die moderne zionistische Bewegung. Das Programm schrieb er unter dem Eindruck von Richard Wagners Musik, die heute in Israel verboten ist. Herzl war ein Bewunderer des deutschen Reiches und des deutschen Kaisers, der ihn ein paar hundert Meter von hier vor der Mauer Jerusalems empfing.

Der Zionismus ist die jüdische Reaktion auf die nationalen Bewegungen, die am Ende des 19. Jahrhunderts überall in Europa mächtig wurden und die alle mehr oder weniger – meistens mehr – antisemitisch angehaucht waren. Da für die Juden in diesen modernen Nationen kein Platz war, beschloss ein Teil der Juden, sich selbst als eine Nation zu statuieren. Der Zionismus war eine der letzten europäischen Nationalbewegungen, und viele Faktoren – die Religion, die Verfolgungen, der Holocaust, der andauernde Kampf hier im Lande – führten dazu, dass er zu einer der extremsten Nationalbewegungen wurde.

Else Lasker-Schüler war nie Zionistin. Zwar ist sie hier in Jerusalem, auf dem Ölberg, begraben, aber das war reiner Zufall. Als sie sich aus Deutschland retten musste – eine deutsche Dichterin aus dem Land, das auch ihre Bücher verbrannte – flüchtete sie in die Schweiz. Nach Palästina kam sie nur zu Besuch und musste widerwillig hier bleiben, weil der Weltkrieg die Rückkehr unmöglich machte. Sie hat ihr Judentum nie verleugnet, aber ihre Beziehung zu diesem war eher eine romantische, wie beim anderen großen deutsch-jüdischen Dichter, Heinrich Heine.

Else Lasker-Schüler und Herzl gehörten zum selben Kulturkreis und zur selben Generation. Trotz der großen Gegensätze zwischen ihnen hatten sie doch vieles gemeinsam. Sie waren aufgeklärte, liberale, friedliebende Menschen, typische Repräsentanten der humanistischen jüdischen Elite in Europa vor dem Untergang. Herzl hat ihn vorausgeahnt, aber er ist schon 1904 gestorben; Else Lasker-Schüler erst im Januar 1945, als man hier im Lande schon das Ausmaß der Vernichtung erkannt hatte.

Heute, im Jerusalem des Jahres 2001, am Anfang des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, kommt man kaum umhin, sich zu fragen, wie hätten sich diese beiden Menschen jetzt und hier in Israel gefühlt?

Israel ist heute weit davon entfernt, ein humanistischer, pluralistischer, fortschrittlicher Staat zu sein. Unsere Gesellschaft ist ethnokratisch, weitgehend theokratisch, wir haben keine Trennung zwischen Religion und Staat und auch keine wirkliche Gleichheit zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern. Offiziell ist dieser Staat "jüdisch und demokratisch", aber das ist ein Widerspruch in sich, ein Oxymoron. Unsere arabischen Mitbürger, beinahe 20 Prozent der Staatsbürger, sind praktisch in jeder Hinsicht benachteiligt, wir unterdrücken 3 Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten, in denen wir schon seit 34 Jahren eine Kolonialherrschaft mit roher Gewalt aufrechterhalten.

Das hat natürlich historische Hintergründe. Die Bewegung, die Herzl und seine Zeitgenossen ins Leben gerufen haben, war ja keine "normale" nationale Bewegung, die einer bestehenden Gesellschaft ein nationales Gepräge geben wollte. Die zionistische Idee war, Massen von Juden aus aller Welt nach Palästina zu bringen, um hier den Judenstaat zu errichten. Die Parole war: "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land". Eine schöne Idee, aber leider war hier kein "Land ohne Volk". Hier war ein Volk, damals eine halbe Million stark, das gerade im Begriff war, an der Gründung einer arabischen nationalen Bewegung teilzunehmen, um die ottomanische Fremdherrschaft abzuschütteln.

Seit nun 120 Jahren steht dieses arme Land im Bann dieses Konfliktes, ein historischer Zusammenprall zwischen den zwei großen nationalen Bewegungen: der jüdisch-zionistischen und der palästinensisch-arabischen. Eine fünfte Generation ist schon auf beiden Seiten in diesen Konflikt hineingeboren, eine Generation, deren ganze Geisteswelt von diesem Konflikt gestaltet worden ist. Angst, Hass, Vorurteile und Stereotypen beherrschen unsere Welt. Die Narrativen beider Seiten schließen sich gegenseitig aus, man sieht die andere Seite nicht. Nicht nur die nationale Existenz der anderen Seite wird bestritten, sondern auch ihre Menschlichkeit.

Else Lasker-Schüler fühlte sich hier schon vor der Gründung des Staates Israel fremd. Heute würde sie sich hier noch bei weitem fremder fühlen. Ich frage mich oft, was Herzl denken würde, wenn er uns heute besuchen würde. Er schrieb vor 105 Jahren: "Wir werden daher theokratische Velleitäten (Anwandlungen, Red.) unserer Geistlichen gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden. Heer und Klerus … haben (in den Staat) nichts dreinzureden …" Heute haben wir in unserer neuen Regierung fünf Generäle und fünf Rabbiner (aber nur drei Frauen) – ein Zustand, der in jeder westlichen Demokratie undenkbar wäre.

Die Rabbiner, die heute in vieler Hinsicht unser tägliches Leben beherrschen, predigen einen Glauben, der nichts mit der Religion zu tun hat, die Heine, Herzl und Lasker-Schüler gekannt haben. Die jüdische Religion hat in diesem Land in den letzten Generationen eine wahre Mutation durchgemacht. Sie ist nicht mehr universal und humanistisch, die Moral steht nicht mehr in ihrem Mittelpunkt. Es ist eine neopaganische Stammesreligion, mit einem ethnozentrischen Stammesgott, der nicht den himmlischen, sondern den irdischen Heerscharen im Krieg vorangeht. Die Rabbiner dieser Religion sind fremdenfeindlich, goyimfeindlich, fortschrittfeindlich, frauenfeindlich, viele von ihnen leben in den Siedlungen und führen den Kampf gegen die palästinensische Bevölkerung.

Viele Israelis, die sich als säkular definieren, haben Elemente dieser Religion verinnerlicht. Es ist kein Scherz, dass die meisten Israelis nicht an Gott glauben, aber glauben, dass Gott uns dieses Land versprochen hat.

Wenn man heute an Israel denkt, denkt man an den Krieg zwischen uns und den Palästinensern, der Krieg, der unser ganzes Leben bestimmt. Aber auch dieser Krieg ist nur eine Funktion der Auseinandersetzung, die innerhalb unseres Staates und unserer Gesellschaft stattfindet, der Kampf um Israel selbst.

Was ist Israel? Ein jüdischer Staat? Ein demokratischer Staat? Ein Staat, der den Juden der ganzen Welt gehört, wie eines unserer Gesetze besagt? Ein Staat der seinen Bürgen gehört, egal welchen Glaubens und welcher Nation?

Was sind wir? Israelis? Juden? Jüdische Israelis? Israelische Juden?

Das sind keine theoretischen Fragen, wie man denken könnte. Es sind praktische Fragen, die unser tägliches Leben berühren, die im Grund aller unserer Debatten liegen, ohne jemals offen gefragt zu werden.

Ein israelischer Staat muss prinzipiell pluralistisch und weltoffen sein, mit einer zivilen Gesellschaft, die die Gleichberechtigung der jüdischen und palästinensischen Staatsbürger garantiert, wie auch die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, jüdischen Aschkenasims und Orientalen, Juden, Christen und Muslimen. Eine Gesellschaft, die zwar stolz auf ihre Kultur und Traditionen ist, aber ebenso auf die universale Kultur, an der wir teilnehmen und zu der Juden und Araber so viel beigetragen haben. Eine Gesellschaft, die in die Zukunft schaut, die sich zum 21. Jahrhundert bekennt, in der Hightech und Ökologie und Feminismus wichtige Rollen spielen. Natürlich kann so ein Staat, so ein israelischer Staat, nicht ein anderes Volk beherrschen und unterdrücken.

Ein jüdischer Staat ist etwas ganz anderes. Er ist für die Juden, und eigentlich nur für die Juden, da. Geschichte ist für sie jüdische Geschichte, eine Geschichte, die hauptsächlich aus Judenverfolgungen, Inquisition und Holocaust besteht, denn die Welt ist gegen uns, war es immer und wird es immer sein. Der Blick ist auf die Vergangenheit gerichtet, auf unabänderliche Gesetze, die Gott vor 3500 Jahren auf dem Berg Sinai für alle Ewigkeit diktiert hat, auf mittelalterliche Traditionen, auf den Talmud und die Kabbala. Moderne Einflüsse sind in so einem Staat, einem jüdischen Staat, prinzipiell verderblich.

Der Kampf zwischen diesen gegensätzlichen Einstellungen, mit allen ihren Variationen und Schattierungen, ist der wirkliche Kampf um unsere Zukunft. Er wird den Ausgang aller anderen Auseinandersetzungen bestimmen. Er wird auch bestimmen, ob in fünfzig Jahren die zarte Stimme Else Lasker-Schülers in der Seele junger Israelis Widerhall findet, statt des Kampfgetöses, das heute alles übertönt.

Der Beitrag ist das Grußwort, das Urs Avnery, Autor, Publizist und Mitbegründer des Friedensblocks "Gush Shalom", zur Eröffnung des IX. Else-Lasker-Schüler Forums in Jerusalem hielt.