Editorial

 

Es raschelte im Kollektiv. Herr Hohmann bemühte Tätervölker, Gottlose, Nazis und Juden. Vielstimmiger Aufschrei. Wie auch zum Fall Degussa beim Bau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Wie auch in der Auseinandersetzung um das Zentrum für Vertreibungen. Hervor treten immer ein paar ähnliche Muster, Formen ritualisierter Kritik, Kollektivbegriffe aus dem Denken des 19. Jahrhunderts.

In all den Problemkreisen, die den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch betreffen, fällt auf, dass hier zu Lande mit großer Gewissheit knallende Argumente aufgetischt werden. Man weiß sofort, was das Antisemitische an Hohmann ist, dass es in diesem Land zum Verzweifeln ist, wie niedrig die Toleranzschwellen sind, man weiß um die Meinungsfreiheit, die im Handumdrehen parteitaktischen Überlegungen weichen muss, weil die Christdemokraten in der neuen Republik auf dem Weg zu einer neuen Identität sind. Es tauchen wenige Fragen auf, aber viele Antworten. Das Eigenartige ist, dass beim nächsten »Fall« wieder ähnliche Formeln kredenzt werden. Und dieselben Begriffe von Volk und Nation, von Tätern und Opfern.

Spätestens 1968 wurde das Schweigen über ein schlimmes Kapitel deutscher Geschichte gebrochen. Vielleicht auch ein deutscher Mythos? Seither jedenfalls wurde, unsäglicher Begriff, Vergangenheitsbewältigung betrieben, landauf, landab. Wohl kein zweites Land hat schwierige Kapitel seiner Geschichte publizistisch ähnlich breit erfasst. Mit welchen Ergebnissen? Im jüngsten Fall hat zunächst niemand auf Hohmanns Rede reagiert: »Warum hat keiner dem Redner widersprochen? Weil Hohmann eben so ist.« So bringt es die FAZ auf den Punkt. Ein Historiker wiederum will aus der konservativen Traditionslinie der Stadt Fulda »deutsche Mentalitätsgeschichte« ableiten, sozusagen: günstiger Nährboden, es musste ja so kommen... Wie passt das aber damit zusammen, dass 1933 nicht einmal 15 Prozent der Fuldaer Hitler gewählt haben? – Auf der anderen Seite verkrallt man sich in das krude Vokabular dieses Pamphlets und jongliert den Begriff des »Tätervolks« heraus, Deutsche-Nazis, Juden-Bolschewiken, Gleichsetzung, ertappt. Nun ist es nicht schwierig, Hohmann in rechte und antisemitische Kontexte zu setzen; zudem ist seine Rede ein Grenzfall von Blödsinnigkeit, schon formallogisch passt kaum etwas zusammen, und letztlich ist ihr Angelpunkt nicht ihr Antisemitismus, sondern ihr Antijudaismus. Wieso aber stört sich zum Beispiel kaum jemand an diesen widersinnigen Begriff des »Tätervolks«?

Will man eine erneuerte Europäische Union, ein Europa mit Identitäten, die Menschen in Polen und Portugal verbinden, dann sollte man endlich einmal damit anfangen alte Barrieren abzubauen. Das, was das alte Europa so oft und so blutig getrennt hat, waren Nationen und Völker, die sich in unzähligen Kriegen gegenseitig die Schädel eingeschlagen haben. Bürgerindividuen sind gefragt, die sich ebenso in Rovaniemi wie in Rogaska Slatina als Bürger verstehen, nicht nationalistische, völkische Hinterwäldler, die irgendeinen idiotischen Ruf des Blutes oder einem im 19. Jahrhundert erfieberten Nationalcharakter folgen. Allein schon die Geschichte zeigt, dass Nationen Konstrukte sind, unter deren Hülsen Völker versammelt sind, deren Ethnizität unmöglich bestimmbar ist. Eine der dümmsten Erfindungen ist die Blutgruppe deutsch. Ohnehin haben »die Deutschen«, so das umfragewütige US-Institut AEI, nur eine geringe positive Bindung an ihre Nation und stehen weit hinten in der Patriotismus-Skala.

Das ist unter anderen so ein unerträglicher Punkt in der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen, wo es auch um die Rolle der Kriegsgeneration geht. Hier wird ja, auf jedem Fall, Geschichte wieder neu geschrieben werden. Das kann eine Chance sein. Das kann auch »revisionistisch« erfolgen. Wenn es nach dem Muster der Emnid-Umfrage erfolgt, die Richard Herzinger in der Zeit vom 13.11. zitiert, dann würde die Nazigeschichte völlig weichgezeichnet werden. Über die Haltung ihrer Eltern und Großeltern gaben die Befragten zu Protokoll: »26 Prozent der damals erwachsenen Bevölkerung haben aus der Sicht der Befragten Verfolgten geholfen, 13 Prozent waren im Widerstand aktiv, 17 Prozent haben immer den Mund aufgemacht, wenn es darum ging, Unrecht beim Namen zu nennen und Drangsalierte zu verteidigen.«

Ein derartiges Vergangenheitsbild lässt ahnen, warum die immer wieder wiederholten Gewissheiten so wenig greifen. Zwischen den von Historikern und Publizisten verkündeten Gewissheiten und diesem sich unter der Hand bildendem subjektiven Geschichtsbild klafft ein gewisser Abstand. Das wirft Fragen auf. Selbst die NZZ, wahrlich nicht das Blatt des linken Fortschritts, aber wenigstens mit dem Blick von außen, machte sich Sorgen, »wie wenig dieses Kapitel aufgearbeitet ist«.

Hohmanns Gottlosen-Geschwätz ist außerdem eine Beleidigung der christlichen Traditionen, die zu verteidigen er vorgibt. Wie man mit ihnen ganz anders und tiefschürfend umgehen kann, demonstriert in diesem Heft Michael Jäger, der die große Erzählung des Christentums und das darin angelegte Geschichtsbild und ihre Wechselwirkungen auf europäische Philosophien einer ungewöhnlichen Betrachtungsweise unterzieht.

Balduin Winter

 

Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 6/03, Dezember 2003.