Michael Jäger

Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie

Teil I: Die Grundlagenkrise des Neuen Testaments

Die großen Geschichtserzählungen der Moderne – ob die wachstums- und fortschrittsorientierten der westlichen Zivilisation, ob die marxistische Teleologie – gehen hervor aus der theologischen Vorstellung von Heilsgeschichte. Haben sie sich davon je gelöst? Die Annahme, schwarze Zeiten seien Vergangenheit und Säkularisierung eine Tatsache, hält unser Autor für falsch. Der 11. September 2001 war dafür ein Zeichen. In der Auseinandersetzung mit der Geschichtstheologie kann die neutestamentarische als Ereignisgeschichte gelesen werden, die uns nicht fremd ist. Sie führt über den Weg der Kirche, über Nihilismus und »Endzeit«, über Rom. Unser Autor liest sie als Abwendung vom »strafenden Gott«,als Möglichkeit zur Aufkündigung der Heilsgeschichte. (Teil 1)
Geschichtsunterbrechung ist also möglich, aber nicht als »Ende der Geschichte« oder als »Finale«, wie im vertrauten marxistischen Geschichtsbild. Abkehr von Erlösung und Unendlichkeit, das Annehmen der Krise, Einsicht in den Tod, wären die Voraussetzung, den Fluchtversuch des Forschreitens mit Todesangst und Verelendungsangst zu unterbrechen. Die Kirche, so Michael Jäger, hätte die Chance, jene Seite ihrer Geschichte zu beleben, die sich auf die Seite der Elenden stellt. Dazu müsste sie den Kapitalismus kritisieren, den Hochmut des »unendlichen Gottes« und die Übersteigerung des Endes ablegen und zu einem Kommunikationsprozess mit ungewissem Verlauf in der Lage sein. (Teil 2)
Der zweite Teil des Essays folgt in der nächsten Ausgabe.

 

Geschichtsbilder

In einem kürzlich erschienenen Aufsatz mit dem Titel Geschichtsbilder: Zeitdeutung und Zukunftsperspektive(1) wird ein Problem benannt, das vielen Menschen seit dem 11. September 2001 bewusst geworden ist: Sie wissen nicht mehr, in welcher Geschichte sie gelebt haben werden. Keineswegs lässt sich das Problem mit dem Hinweis diskreditieren, es sei nur Ausdruck vormoderner Sinnsuche, könne daher von aufgeklärten Menschen ignoriert werden; ein solcher Hinweis widerspricht sich selbst, da er seinerseits nicht umhin kann, sich in Geschichtsbildern zu artikulieren, dem der "Moderne" und dem der "Aufklärung". Das Wort "Sinnsuche" mag zwar als diskursiver Totschläger funktionieren, ähnlich wie man sich nicht gescheut hat, gegen sogenannte "Bedenkenträger" zu polemisieren. Aber das sind Dummheiten, die kaum der Widerlegung bedürfen. Wer schlechthin gegen Bedenken wäre, wäre ja potentiell ein Mörder, und wer keinen Sinn suchte, obwohl er Sätze spricht und hört, die immer einen haben, wäre geistesgestört. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte ist gar nicht zu umgehen, schon weil jeder und jede sich, um nicht zu verzweifeln, ein Bild vom eigenen Lebenslauf zurechtlegen muss. Niemand kann das in der Illusion tun, sich total unter Kontrolle zu haben, denn ein Leben gelingt oder scheitert nur vor dem Hintergrund des Historischen, in das es sich jedenfalls unkontrolliert einzufügen hat. Es muss daher die Fähigkeit für alle erwünscht sein, sich von diesem Hintergrund ein Bild zu machen.(2)

Ein naheliegender, wenn auch gern verdrängter Gedanke sagt mir, dass ich in einer Geschichte bin, in der es Überlebende gibt, und dass ich zu ihnen gehöre. Jeden Tag sterben 26.000 Menschen an den Folgen von Hunger, während ich, weit entfernt, hungrig zu sein, eher noch an den Folgen von Übergewicht erkranken könnte. Ich esse zum Beispiel Rindfleisch. Für solche wie mich wurde das "Imperium der Rinder" geschaffen, in dem weltweit auf zwei Menschen ein Rind kommt, was viele schlimme Folgen hat, darunter die, dass auf riesigen Ackerflächen der armen Erdteile das Getreide nicht als Nahrungsmittel für Menschen genutzt wird, sondern als Rinderfutter. Wenn Jeremy Rifkin hier "eine neue Seite des Bösen" aufgeschlagen sieht, "das in dieser Form vielleicht schwerwiegendere und langfristigere Folgen haben wird als alle Gewalt, die in der Vergangenheit von Menschen gegen Menschen ausgeübt worden ist",(3) hat er damit nicht ein Geschichtsbild artikuliert? Geschichte, könnten wir verallgemeinern, ist Gewalt gegen Menschen, bei der es jederzeit Stärkere und Schwächere gibt, die sich aber insofern verändert, als die Formen ihrer Ausübung raffinierter werden. Aber das wäre der nackte Sozialdarwinismus - ein solches Geschichtsverständnis zu erwerben oder auch nur zu implizieren würde bedeuten, dass wir uns, eingestanden oder nicht, in Nazis zurückverwandelten.

Der eingangs erwähnte Aufsatz hält es stattdessen mit der Moderne und der Aufklärung und ruft die damit verbundenen Geschichtsbilder, die bis vor kurzem gängig waren oder es immer noch sind, in Erinnerung. Bilder des "Fortschritts". Man sieht leicht, dass sie nicht mehr weiterführen, auch wenn der Autor, Karl-Ernst Jeismann, es nicht wahrhaben will. Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte es die Futurologie gegeben, in der sich Fortschrittsglaube geradezu in Fortschrittswissenschaft meinte verwandeln zu können. Jeismann erwähnt nicht, dass zu diesem Zeitpunkt der Optimismus in Pessimismus umschlug - dass ein Futurologe wie Robert Jungk Ökologe wurde. Nach 1990 kam erst einmal das Geschichtsbild vom "Ende der Geschichte" auf. Jeismann arbeitet heraus, dass zutreffender von dem Versuch zu reden wäre, durch ein Geschichtsbild das Denken in Geschichtsbildern zu beenden.(4) Danach ist es zur Restauration der älteren Geschichtsbilder gekommen. So wird von den "Erben des Aufklärungs- und Fortschrittskonzepts" die "Geltung des Projekts der 'Moderne' als Vision einer besseren Welt" aufrechterhalten: "Die ökonomische und technische Globalisierung", sagen sie, "kann als ein mit Gefahren verbundener Schritt, aber doch als ein Fortschritt und ein Versprechen erscheinen, das auf die Humanisierung der sozialen Verhältnisse und die politische Emanzipation auf dem Erdball weist."(5)

Das klingt gut, wird aber durch den Umstand widerlegt, dass auch die Feinde der Aufklärung wie Mohammed Atta und seine Spießgesellen sich die "technische Globalisierung" zunutze machen können und dass ihre Mordtat in ungerechten Strukturen der "ökonomischen Globalisierung" einen Nährboden fand. Praktisch alle maßgeblichen Politiker des Westens haben es eingeräumt. Da scheint das Geschichtsbild vom "Kampf der Kulturen" schon realistischer, eben weil in ihm berücksichtigt ist, dass die Gegner der westlichen Zivilisation "sich unter Aneignung der wertneutralen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten des Westens [formieren]".(6) Damit wird aber auch das Problem deutlich, das in allen referierten Geschichtsbildern ungelöst bleibt. Was sie nämlich vom heutigen Stand der Geschichte wahrnehmen, lässt gerade nicht erkennen, dass diese "fortschreitet". Heutige Geschichtsbilder lassen sich nach dem Kriterium klassifizieren, bis zu welchem Grad von Offenheit sie das zugeben.(7)

Aber es gibt ein weiteres Geschichtsbild, das bei Jeismann fehlt, das marxistische. Natürlich kann man sagen, es sei seit 1990 überholt. Wir gehen aber dem Lied vom "Ende der Geschichte" auf den Leim, wenn uns das "Überholtsein des Marxismus" nicht zum Anlass der Frage wird, welche Erfahrung wir mit diesem gemacht haben. Springt es nicht in die Augen, dass das marxistische Geschichtsbild, so sehr es widerlegt wurde, den referierten heute gängigen Geschichtsbildern dennoch hoch überlegen ist? Aus dem einfachen Grund, dass es sie in sich enthält, aber sich von einigen Blindstellen, die sie offenkundig haben, nicht ins Bockshorn jagen lässt. Auch die Marxisten haben gewusst, dass historischer Fortschritt, wenn es ihn überhaupt gibt, sich nicht ohne den Blick auf die ökonomische und technische Entwicklung buchstabieren lässt. Sie sind sogar der Urheber dieses Gedankens. Nur haben sie sich nicht begnügt, die Herstellung des Weltmarkts vage als einen "mit Gefahren verbundenen Schritt" zu bezeichnen. Auch das marxistische Geschichtsbild ist gescheitert - aber ist es nicht immer noch das einzige, mit dem sich überhaupt eine Auseinandersetzung lohnt?

Nein. Denn ein noch tieferer Keller verbirgt eine noch wichtigere Leiche. Weder das bürgerliche noch das marxistische Geschichtsbild sind verständlich ohne ihren Hervorgang aus der theologischen Vorstellung von Heilsgeschichte. Wenn deren beide Abkömmlinge gescheitert sind, drängen sich Fragen auf wie die, ob sie sich etwa von ihrem Quell zu wenig radikal gelöst haben. Das theologische Geschichtsbild muss dann selbst noch einmal auf den Prüfstand. Hier stoßen wir aber auf eine kaum beachtete Ursache des mutlos machenden Scheins, das Denken in Geschichtsbildern führe ohnehin nicht mehr weiter. Will man nämlich schon mit dem Marxismus keine Erfahrung gemacht haben, die sich in Urteilssätzen formulieren ließe, dann erst recht nicht mit der als abseitig geltenden, zudem weithin unbekannten Geschichtstheologie. Wie jemand, der in eine Sackgasse gelaufen ist und nicht umkehren will, versperrt man sich zugleich mit dem Rückweg das Vorankommen. Doch eben weil Geschichtstheologie unbekannt ist, soll sie hier erörtert werden.

Es wird sich herausstellen, dass nicht "die Geschichtstheologie", sondern ihre mittelalterliche Version der Quell ist, dem das bürgerliche Geschichtsbild in der Tat zu sehr verhaftet war, während es im Marxismus zwei Geschichtsbilder gibt, von denen eines, und zwar das originäre, dem neutestamentlichen Geschichtsbild immer noch näher steht als dem mittelalterlichen. Im übrigen gibt es auch heute noch Geschichtstheologie, und sie hat mit der mittelalterlichen nichts mehr gemein. Ich wage im voraus die Behauptung, dass Geschichtstheologie - nicht die mittelalterliche, aber die neutestamentliche und auch die heutige - zur Erklärung der realen Geschichte nicht weniger taugt als das marxistische Geschichtsbild. Auch dieses hat nämlich blinde Flecke, und sie können geschichtstheologisch erhellt werden. Vom Marxismus wird erst im zweiten Teil dieses Essays die Rede sein. Er steht hier einmal nicht im Vordergrund. Denn wer ihn erneuern will, ist gut beraten, sich zuvor mit der geschichtstheologischen Problematik vertraut zu machen.

Im zweiten Teil soll reale Geschichte erörtert werden, Geschichte der realen Kommunikation von Kirche und Kirchenumwelt. Der Marxismus interessiert als Kommunikationsereignis in diesem Kontext; zu zeigen ist, dass er faktisch versucht hat, die "kirchliche Funktion" - das, was eine Kirche täte, die ihrem Begriff entspräche - besser zu realisieren als sie selber, und dass der Versuch scheitern musste. Das wird freilich nur die Einleitung sein zu dem Erweis, dass auch die Kirche ihrem Begriff noch immer nicht entspricht, wenngleich ihre Geschichtsmächtigkeit viel größer ist, als man wahrhaben möchte. Im ersten Teil geht es nur um die "kirchliche Funktion" als solche. Sie ist bestimmt nicht der letzte, aber doch der elementare geschichtstheologische Gegenstand. Von der Geschichtstheologie würde ich nicht sagen, sie habe blinde Flecke, wohl aber, dass in ihrem Innersten eine Konfusion waltet. Geschichtstheologie ist nur so zu haben, dass man sich mit ihrer Grundlagenkrise befasst. Von der ist jetzt zunächst die Rede.

 

Die Endzeit

1

Beim theologischen Geschichtsbild unterscheide ich zwischen neutestamentlichen, mittelalterlichen und heute zeitgenössischen Versionen. Zuerst gehört den neutestamentlichen unsere Aufmerksamkeit. Das Neue Testament ist schon dadurch ein geschichtstheologisches Buch, dass es sich und den, den es verkündet, als historisch bestimmtes Ereignis darstellt.

Realgeschichte ist überall präsent, am deutlichsten in der Johannes-Offenbarung, die auf Züge des römischen Kaiserkults, den drohenden Einfall der Parther, die zeitgenössische Nero-Sage und anderes anspielt und all dem eine theologische Interpretation gibt.(8) Aber hier ist schon die Christengemeinde unterstellt, die vom Verfasser auf bevorstehende Verfolgungen eingestimmt wird. Wir müssen uns an die ältesten Texte halten. In den paulinischen Briefen lesen wir, dass schon Jesus, der Gemeindegründer, jemand war, der auf Umstände reagierte. Seine Botschaft, für die er mit dem Leben einstand, hatte einen zeitlichen Indikator: "Denn als wir noch schwach waren - zu der Zeit ist der Messias für Gottlose gestorben."(9) Oder mehr theologisch gesprochen: "Als aber die Fülle der Zeit gekommen, entsandte Gott seinen Sohn."(10) Die Zeit war gekommen, als die Menschen schwach waren. So rekurriert Jesus auf einen historischen Bezugspunkt nicht anders als Mose, dem es sich einst offenbarte, dass der Gott der Väter die "laute Klage" Israels über seine ägyptischen "Antreiber" gehört hat und nicht länger dulden will.(11)

Nun wäre es zu kurz gegriffen, in der "Schwäche", der Jesus begegnet, nur das Ausgeliefertsein der Menschen an neue, diesmal römische statt ägyptische "Antreiber" zu sehen. Sicher gehört das dazu. Sicher muss man zunächst das Gemeinsame hervorheben. Gerade dann sehen wir ja, dass die Schwäche schon in Ägypten nicht nur im Ausgebeutetwerden bestand, sondern auch in der geistigen Verzweiflung, die sich darin ausdrückt, dass die Menschen vom Gott der Väter nichts mehr wissen. Sie werden nicht nur abstrakt ausgebeutet, sondern ihre Pein hat einen Inhalt: Während der Pharao, dem sie Städte bauen müssen, seinen Totenkult hat, ist es ihnen selbst nicht möglich, den Väter-Gott zu verehren, und auch in ihren Kindern sollen sie nicht fortleben dürfen.(12) Sie werden also quasi bei lebendigem Leib vernichtet, sind in einer nihilistischen Situation. Bei Paulus geht es ebenfalls um den "Stachel des Todes" und eine eigentlich ganz analoge Verzweiflung. Die Menschen sehen sich zum "Sündigen" gezwungen,(13) verlieren dadurch Gott und ewiges Leben. Dafür übernehmen die Todesangst und ihre Kultur der Rücksichtslosigkeit das Kommando.(14) Die den Zwang ausüben, sind die Römer. Paulus sagt das nicht offen, aber er weiß es und seine Leser wissen es auch.(15) Die Römer "führen Krieg" im Herzen auch der Juden;(16) sie stellen eine Situation her, in der keiner, auch der Frömmste nicht, zu gerechten Werken imstande ist, ja auch nur am "Tempelraub" vorbeikommt.(17) Auch diese Situation ist eine nihilistische.

Der Nihilismus ist also wiedergekehrt - und so kommt es nicht von ungefähr, dass Paulus trotz des Zeitbezugs, der auf die Römer verweist, ganz allgemein von der Todesangst schreiben und sie geradezu als das anthropologische Problem auszeichnen kann, was im Bericht über die Israeliten in Ägypten noch nicht geschieht.(18) Das Problem der Todesangst besteht darin, dass es zum unsinnigen Töten und Schädigen anderer führt - zur "Sünde" -, als ob der Tod auf diese Anderen abgewälzt werden könnte. Nicht jederzeit, aber immer wieder sorgt es für nihilistische Zustände, in denen das Töten und Schädigen überhandnimmt. Aus der Betroffenen-Perspektive stellt es sich so dar, dass die Todesangst in nihilistischen Zuständen als das anthropologische Problem erkannt werden kann.(19) Die möglich werdende Erkenntnis hat freilich ihre eigene Zeit. Paulus nimmt offenbar an, es habe erst einer Kumulation einschlägiger Geschichts-Ereignisse und daraus destillierter Erfahrungen bedurft, bis die Menschen unter dem anthropologischen Problem nicht nur litten, sondern es auch als solches identifizieren konnten. Weshalb das gerade in der römischen Zeit geschehen sein soll, bleibt zu klären. Aber man sieht ein, dass Jesus, gesetzt, er ist der Problemlöser, nicht vor der Problemidentifikation auftreten konnte.

Diese Identifikation konnte nach der paulinischen Lehre nur den Juden gelingen, weil nur ihnen - das war Gottes Antwort auf die ägyptische nihilistische Situation gewesen - das Gesetz gegeben war.(20) Das Gesetz nicht zu erfüllen, darin bestand seitdem die Gottlosigkeit. Paulus wollte gewiß nicht behaupten, es sei jederzeit unerfüllbar gewesen.(21) Er wusste ja, ein Mechanismus, einzelne Übertretungen auf einer Metaebene ungeschehen zu machen, war im Gesetz selber vorgesehen.(22) Dieser Mechanismus, die Versöhnung mit Gott durch die Priester, hatte auch funktioniert. Aber jetzt konnte er nicht mehr funktionieren, weil die Priesterschaft in die römische imperiale Herrschaft integriert worden war.(23) Das aber war mehr als ein historischer Zufall. Es zeigte, dass die Gottesvermittlung durch Priester generell eine prekäre Angelegenheit war. Sie funktionierte nur in Gutwetterzeiten. Außerdem nützte sie den Heiden nichts. Die universelle und auch im Nihilismus infallible Lösung bestand darin, dass jeder selbst "glauben" musste.

Was heißt das? Ich greife auf Formulierungen der Einleitung zurück: Es ist die Fähigkeit gemeint, sich ein unverzweifeltes Bild vom eigenen Lebenslauf machen zu können, auch wenn die heilsgeschichtlichen Institutionen zerbrechen und überhaupt aller geschichtliche Sinn schwindet; angstfrei leben zu können, obwohl man das Ende - womöglich ein Ende im Nihilismus - nicht kennt. Dies Vertrauen konnte man an Priester nicht mehr delegieren. Man musste es sich jetzt unmittelbar zusprechen lassen, "aus Glauben zu Glauben",(24) und dann einfach selbst haben. Es musste dann aber einer den Anfang machen, ein "Führer des Glaubens" musste auftreten, Jesus, an dem man sich orientieren konnte. Jesus hatte gar nicht anders geglaubt als Mose, der den Gott der Väter wiederentdeckte, also nicht anders als die Väter, als Abraham: "bar der Hoffnung" und doch "voller Hoffnung" - darauf, dass Gott "die Nichtseienden als Seiende ruft", wie Paulus formuliert.(25) Der Unterschied war nur, dass nun alle glauben konnten wie Abraham und Mose. Jesus, der es durch sein Vorbild ermöglichte, war daher nicht nur ein Führer des Glaubens, sondern dessen "Vollender".(26)

Paulus hatte das aus der Hebräischen Bibel herausgelesen, denn dort war bereits von einem "neuen Bund" zwischen den Menschen und Gott die Rede gewesen, der eben darin bestehen sollte, dass in Überbietung des mosaischen Gesetzes alle, "klein und groß", Gott erkennen konnten, weil er das Gesetz "auf ihr Herz geschrieben" haben würde.(27) Wie der Apostel begriff, würde die Konstitution des neuen Bundes nicht darin bestehen, dass man ihn bloß verkündete. Das war ja schon geschehen. Vielmehr bedurfte es eines historischen Ereignisses, eben des Auftritts eines "Führers und Vollenders" des Glaubens. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb dem so charakterisierten Jesus göttliche "Inkarnation" zugeschrieben wird. Es soll damit nicht gesagt werden, dass Jesus Gott verkörpere und also selber Gott sei, sondern dass er Gottes Wort verkörpere,(28) eben: historisches Ereignis werden lasse. Und zwar nicht irgendein Wort, nicht die Zehn Gebote zum Beispiel, sonst könnte Jesus nicht sagen, nur Gott sei "gut", er aber nicht;(29) sondern dieses Wort, das Wort vom neuen Bund.

Weil der neue Bund nicht nur neuerlich verkündet, sondern von Jesus vorgelebt und -gestorben wurde, war er nunmehr in die Geschichte implementiert. Er war da. Es gab die Kirche. Alle Geschichte würde sich von nun an um die Kirche drehen.

 

2

Aber wir wissen immer noch nicht, warum es gerade damals begann. Warum war "die Zeit erfüllt"? Und nun begegnen wir einer rätselhaften Formel, die als Antwort zu fungieren scheint: "Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen."(30) Was hat denn diese Formel mit der nihilistischen Verzweiflung zu tun?

Wie viele Menschen haben sie seitdem zu ergründen versucht. Es wird desto schwerer gefallen sein, je weniger verzweifelt eine Zeit war. Denn nicht alle Zeiten sind gleich verzweifelt. Manche sind es gar nicht. In Gutwetterzeiten wurde das genahte Gottesreich nicht mehr mit dem Nihilismusproblem in Verbindung gebracht. Es war einfach die Vollendung der Welt, also ihr Ende und der Vorschein des Endes in der Zeit. Wir leben also, wenn in der Nähe des Gottesreichs, dann in der "Endzeit". Und so scheint die Frage, warum es gerade in der Römerzeit verkündet wurde, eine banale Antwort zu finden: Da die Welt irgendwann ihr Ende finden muss, muss irgendwann die letzte Zeit vor dem Ende beginnen; da es Gott gefiel, deren Beginn den Menschen zu verkünden, trat ein beauftragter Verkünder namens Jesus auf; da er irgendwann auftreten musste, trat er gerade damals auf. Gottes Ratschluss hatte es so gewollt.

Die paulinische Erklärung, dass die Zeit gekommen war, als die Menschen schwach waren, spielt gar keine Rolle mehr. Sie muss nicht einmal bestritten werden. Gott hätte die Endzeit auch im höchsten Menschenglück beginnen lassen können, aber nun hat es ihm gefallen, die Kreuzigung an den Anfang zu stellen. Eine Folterszene. Jemand wird zu Tode gefoltert. Warum nicht? Gott kann machen, was er will. Aber das ist natürlich Schwachsinn. Da wir es nicht mit irgendeinem Gott, sondern dem Gott der Liebe zu tun haben, darf man schon eine Erklärung dafür verlangen, weshalb die Liebe den Umweg über römische Folterer nimmt.(31) Diese Erklärung wird von Paulus gegeben: Als die Menschen so schwach waren, dass sie sich sogar zu Tode folterten, intervenierte dennoch die Liebe.

Die Liebe nimmt keinen Umweg. Sie geht aber durch die Zeit. Der Gott, von dem es heißt, er sei die Liebe, ist nicht weltlos, so dass entweder er oder die raumzeitliche Welt oder beides als Illusion entlarvt werden müsste: Er ist ein zeitlicher Gott. Liebe Gottes in der Zeit ist Liebe, die sich erst durchsetzt, indem sie interveniert, antwortet, widerspricht. Den Inhalt der Antwort haben wir gesehen, es ist der neue Bund, den Jesus zuspricht und vorlebt. Diese Antwort wurde als endgültig verstanden, denn schlimmer, als dass Menschen sich zu Tode foltern - dass das sogar zur offiziellen Ordnung ihres Zusammenlebens gehört - konnte es nicht mehr kommen. Was so begann, mag man eine "Endzeit" nennen. Man kann das auf Jesu Rede gestützt tun, wenn man mit einem einzigen Wort sagen will, dass nach dem neuen Bund keiner kommt, der noch neuer sein wird. Dann steht das Reich Gottes unmittelbar bevor, das heißt es ist "nahe". Über seine Dauer ist damit nichts gesagt.

Es ist so nahe, dass man sich nur taufen zu lassen braucht, um seinen Eintritt vorgreifend schon hinter sich zu haben. Denn wie Paulus erläutert, nimmt die Taufe auf Jesu Kreuzigung Bezug, sie wird von denen, die sich ihr im Glauben unterziehen, als metaphorischer Tod verstanden.(32) Der wirkliche Tod steht dann zwar noch aus, aber das Entscheidende, nämlich die Befreiung von der Todesangst, ist schon geschehen. Es liegt hinter dem Getauften, der nun nicht mehr, gefangen in einer Todeskultur, aufs Ende hin lebt, sondern von ihm her. Jesus "sollte ja durch Gottes Gnade für jeden den Tod zu kosten bekommen", um "all die freizubekommen, die durch Todesfurcht während des ganzen Lebens der Knechtschaft verhaftet waren".(33) Sogar ein Leben im Nihilismus wird durch diese Bezugnahme auf Jesus befreit, der mit einem Schrei verstarb,(34) weil er annehmen musste, sein Lebenswerk sei gescheitert und verliere sich in der geschichtlichen Nacht - der aber, als er sich sagen musste, dass Gott ihn verlassen habe, dennoch daran festhielt, dass Gott ihn verlassen habe.(35) Er hielt, anders gesagt, die Nacht des Scheiterns für eine Unterbrechung der Geschichte und nicht für diese selber.(36) Ein Gedanke, der mit der Frage, wie lange es noch Geschichte geben wird, ersichtlich nichts zu tun hat.

 

3

Aber ist das so klar? Hat nicht gerade Paulus in der "Naherwartung" gelebt? Ist es nicht doch plausibler, unter der Nähe des Gottesreichs eine letzte zeitliche Frist zu verstehen?

Einige haben es so interpretiert: Dass das Reich Gottes nahe sei, sage Johannes der Täufer. Der spreche zugleich vom strengen Gericht und fordere zur Umkehr auf. Jesus, da er seine Laufbahn bei diesem Mann begann, habe seinen Spruch übernommen. Aber er verschiebe den Sinn. Er wolle sagen, das Reich Gottes sei ein Reich, das Heil bringe.(37) An der Auffassung ist richtig, dass sie den Zusammenhang betont, den eine Theologie zwischen Endzeit, Schuld und Strafe herstellt. Tatsächlich wird die Kürze einer Restzeit deshalb unterstrichen, weil man begreifen soll, es muss schnell gehandelt, von der Sünde der Gottlosigkeit abgelassen werden. Wenn das Reich Gottes erst da ist, das sich Gottesmänner, die so denken, nicht zuletzt als den "Tag des Zorns" vorstellen, wird es zu spät sein. Aber das ist nicht Jesu Lehre. Ihm zufolge ist das Reich Gottes nicht dazu da, die Sünder zu bestrafen, sondern sie von der Sünde zu befreien. Wenn es welche gibt, die meinen, man müsse sich befreit haben, bevor das Reich Gottes kommt, weil es jeden zermalme, der noch in der Sünde gefesselt sei, dann irren sie. Vielmehr ist es selber - sein zeitlicher Vorschein im Glauben - das von der Sünde Befreiende. Von einem erlösenden Reich zu sagen, dass es nahe sei, ist etwas ganz anderes, als ein nahes Ende in Furcht und Schrecken anzukündigen.(38)

Doch nun scheint es, als sei das ganze Neue Testament noch im Übergang zu dieser Botschaft begriffen. Es gibt zwei Linien in ihm. Das sind vor allem zwei konträre Auffassungen von Gerechtigkeit. Die eine Linie stellt einen Begründungszusammenhang von Sünde, Gerechtigkeit als Sündenbestrafung, letzter Umkehrfrist, in der noch Gelegenheit für gerechte Werke ist, und Jüngstem Gericht als Gericht des Zorns her. Es gehört zu diesem Kontext, dass man in irgendeiner Form an ein "Leben nach dem Tod" glauben muss, weil die so verstandene Gerechtigkeit anders nicht zur Geltung gebracht werden könnte.(39) Im Neuen Testament reduziert sich das "Nachleben" noch auf die jüngstgerichtliche Vorladung der Toten mit der Folge, dass entweder ihre Vernichtung angeordnet oder ihr Verzeichnetsein im Buch des Lebens festgestellt wird.(40) Damit war gewiss nicht gesagt, als so Verzeichnete oder schon als gerichtlich Vorgeladene würden die Toten wieder "lebendig".(41) Aber die metaphorische Basis für eine weiter ausholende Metaphorik des "Nachlebens der Toten" war so geschaffen. Aus dem Buch des Lebens eine jenseitige Welt zu machen, wie es später geschah, und aus dem "Stachel des Todes" ein schwefliges Höllenfeuer, war leicht.(42)

Nach der anderen Linie ist Gerechtigkeit nicht Bestrafen, übrigens auch nicht Belohnen, sondern Gerechtgemachtwordensein und selber Gerechtmachen - "Rechtfertigung" nach dem Ausdruck der Luther-Bibel. Der Gerechtgemachte, der seinerseits Ungerechte zu Gerechten macht, ist gerecht. Man kann einfach sagen "der sie zum Glauben bringt", denn er ist es, der die "Rechtfertigung" bewirkt. Hier ergibt sich ein ganz anderer Begründungszusammenhang: Wenn Gerechtigkeit Zumglaubenkommen und -bringen ist, dann bedarf es keiner Umkehrfrist, sondern einfach der gerechtmachenden Taten, die allmählich oder plötzlich zum Ziel führen. Dieses Ziel ist alles andere als ein Ort des Zorns. Es ist auch nicht das Ende, weil der Gerechtgemachte nicht andere gerechtmachen kann, wenn er nicht lebt.(43) Er macht sich nicht durch Werke gerecht, sondern seine Gerechtigkeit hat Werke zur Folge, eben solche des Gerechtmachens. Zu seinem Gerechtsein gehört auch seine Bereitschaft, Gott zu rechtfertigen, also damit einverstanden zu sein, dass Gerechtigkeit sich in der Zeit, ja im Scheitern, ja vielleicht in seinem Scheitern erst durchsetzt. Irgendwelche Spekulationen darüber, wann das Ende der Zeit eintritt, sind nach dieser zweiten, spezifisch christlichen Linie vollkommen überflüssig. Und ein "Leben nach dem Tod" wäre geradezu widersinnig.(44)

Auch Jesus hat nicht "weitergelebt".(45) Nur darin, dass noch sein Tod andere gerechtmachen konnte, war er seiner Kirche voraus. Dieser Tod schloss nämlich sein Leben so ab, dass seine Jünger es schon "am dritten Tag" - nach der totalen Schwärze des zweiten - als das von Gott endgültig gerechtfertigte erkennen konnten. In seinem Fall brauchte also kein Urteil des Jüngsten Gerichts abgewartet zu werden: Dieses Gericht, so überzeugten sie sich, wird der Frage, ob Lohn oder Strafe über seinen Fall zu verhängen sei, widersprechen, indem es urteilt, dass der Tote selber, statt gerichtet zu werden, der Richter wird, weil er der Rechtfertigende war. Ein solcher wartet aber nicht das Ende der Geschichte ab, sondern greift in sie ein, so dass das Gericht unter seiner Ägide aufhört, nur ein "jüngstes" zu sein. Das wiederum bedeutet, dass gerade von dem her, was man die "Auferstehung Christi" nennt, kein Akzent auf der Frage liegt, wie lange es bis zum "jüngsten Tag" noch dauern werde.

Nein, es ist nicht durchführbar, die eine Linie Johannes dem Täufer und die andere Jesus zuzuschreiben. Vielmehr muss man zwischen verschiedenen Schriften des Neuen Testaments unterscheiden, oft sogar zwischen verschiedenen Passagen derselben Schrift. Keine gibt es, die nicht Jesus bezeugen will. Aber während die einen die Rechtfertigungslehre vermitteln, die als die spezifisch christliche Lehre gelten kann, kommt in den anderen mehr die Straflehre zu Wort.(46) Das Matthäus-Evangelium zum Beispiel gibt ihr breitesten Raum, obwohl es auch die Bergpredigt enthält, die zur Feindesliebe auffordert. Im früher geschriebenen Markus-Evangelium kommt die Straflehre praktisch überhaupt nicht vor. Das Lukas-Evangelium versucht sich in einer Synthese beider Linien.(47) Soweit es die Straflehre tradiert, bezieht es sie nur auf die politische Katastrophe, die als Gottesreaktion auf den falschen Weg eines ganzen Volkes oder seiner Führer erscheint.(48) Strafe als Kehrseite, ja Eigenschaft eines Weges, den man jederzeit verlassen könnte, in dieser Form ist die Lehre realistisch. Matthäus jedoch rechnet von vornherein damit, dass es bis zuletzt "Schafe" und "Böcke" geben wird, und sagt letzteren das Höllenfeuer an.(49) Wie er annehmen kann, dass jemand, indem er das hört, von der Todesangst freikommt, bleibt schleierhaft. Eine Frage, die sich dann noch schärfer für die besonders strafwütige Johannes-Offenbarung stellt. Aber hier ist die Antwort klar: Die Gerechten wenigstens brauchen den Tod nicht zu fürchten, da sie ja wissen, dass nicht sie, sondern die Ungerechten in die Hölle kommen! Von Paulus her, der das andere Extrem markiert, fragt man sich, wie ein Gerechter von einem andern überhaupt wissen kann, dass er ein Ungerechter ist. Ist doch, wie gesagt, der Gerechte ein Gerechter nur dann, wenn er den Ungerechten gerecht macht. Menschen, denen ich die endgültige Ungerechtheit ansehe, so dass sie - nach der uneingestandenen Logik der Straflehre - als Blitzableiter meiner Todesangst funktionieren könnten, kann es gar nicht geben.

Paulus wiederum macht eine Entwicklung durch. Er beginnt in der Nähe der Straflehre. Der 1. Thessalonicherbrief, der als sein frühester Brief gilt, ist ihr ganz nahe. Den Sündern und namentlich "den Juden" wird ein Zorngericht verkündet.(50) Als Christengemeinde gelten "die bis zur Ankunft des Herrn Überbleibenden", Leute also, die auf ein kurz bevorstehendes Ende warten.(51) Paulus malt es aus: Jesus kehrt als Weltrichter zurück, auf einer Wolke, angekündigt von Fanfarenschall.(52) All das findet man in den späten Briefen nicht mehr. Die Argumentation des Römerbriefs hat in der Aussage, dass Gott sich auch und vor allem der Juden, des von ihm auserwählten Volkes, erbarmen werde, ihren Focus.(53) Am Weltende zeigt sich Paulus nun gar nicht mehr interessiert.(54) Das Heil ist gegenwärtig geworden. In dieser Schrift geschieht es, dass er statt vom Weltende von der Taufe als dem Ende spricht, das Christen schon hinter sich haben.

Diese Entwicklung verstärkt sich noch bei den Paulusschülern, die später den Epheser- und Kolosserbrief schreiben. Aber die spätesten Schriften des Neuen Testaments, die Petrusbriefe etwa und besonders die Johannes-Offenbarung, kehren zur Straflehre wieder zurück. Der mehrfache Wandel dürfte durch wechselnde Umstände der Gemeinden, denen die Verfasser der jeweiligen Schrift verbunden waren, mindestens mitverursacht sein. In der ersten Phase (Thessalonicherbrief) hat sich das Christentum noch nicht in voller Eigenständigkeit artikuliert. In der zweiten (entwickelte paulinische Theologie) sind Gemeinden entstanden, und die Verfolgung durch die Römer hat noch nicht eingesetzt. Die Paulusschüler begreifen die entstandene Kirche als "das Licht der Welt": weit entfernt, bloß auf das Ende zu warten, wollen die Christen der vorhandenen Verzweiflung entgegenwirken.(55) In der dritten Phase kündigt sich die Verfolgung an. Jetzt geht es darum, nicht abtrünnig zu werden, jetzt ist es das erwartete oder schon gekostete Märtyrerleid, das auf ein möglichst schnelles Ende hoffen lässt. Schlimme Aussichten und Erlebnisse lassen wieder mehr an die Bestrafung der Ungerechten denken, die zu Verfolgern geworden sind - zu Feinden -, als an das Wort der Bergpredigt, dass man die Feinde lieben soll, damit sie sich verändern.(56)

Das Neue Testament ist nicht nur unvollendet, insofern es zu einer spezifisch christlichen Lehre nur im Übergang begriffen ist - es zeigt sogar Tendenzen, die vorhandenen christlichen Ansätze wieder zurückzunehmen. Denn der Standpunkt, es gelte, aufs Ende hin zu leben in einer "letzten Stunde" und letzten Chance, dem nahen Zorngericht doch noch zu entgehen, behält das letzte Wort. So ist er es denn auch, der in der Kirchengeschichte den Ton angibt. Das ist allgemein bekannt. Es ist bekannt, dass als "christliche Theologie" seit eh und je die Lehre gilt, Jesus sei aufgetreten, weil Gottes mörderische Strafwut gegen die Menschen nicht ruhte, bis er Gelegenheit fand und schuf, "seinen eigenen Sohn zu opfern". Über das Neue Testament wäre demnach zu sagen, dass es in einer Grundlagenkrise endet: Es kann die Entscheidung, zu der es herausfordert - für oder gegen die Argumentation des Römerbriefs(57) -, selbst nicht leisten,(58) sondern nur vorbereiten. Infolgedessen konnte und kann nur seine Überschreitung die christliche Spezifik fest-stellen. Dies zeigt sich als ein Prozess von Jahrtausenden - was dafür spricht, dass wir es tatsächlich, wie Paulus lehrt, mit einem oder dem anthropologischen Grundproblem zu tun haben könnten.

 

Die Redenden

1

Die spezifisch christliche Theologie, auch Geschichtstheologie ist im Römerbrief enthalten. Doch es wäre nicht gut, wenn nicht auch der Antipode des Römerbriefs, die Johannes-Offenbarung, zum Kanon des Neuen Testaments gehörte. Dieser Text ist nämlich darin stark, dass er über "die Zeit, als die Menschen schwach waren", Konkreteres ausführt. Aus ihm erfahren wir plastisch, was Paulus nur verschämt andeutet: dass die urchristlichen Gemeinden mit einem historischen Feind ringen, dem Römischen Reich, so wie einst die Juden mit dem Reich der Pharaonen. Das muss nun genauer entfaltet werden.

Zunächst ist hier der Ort, auf den eher merkwürdigen Zusammenhang von biblischer und mittelalterlicher Geschichtstheologie einzugehen.(59) Die letztere ist als ein "Vier-Reiche-Schema" an die reformatorischen und gegenreformatorischen Theologen der frühen Neuzeit tradiert und dann in den Strudel einer ganz unvermeidlichen Säkularisierung hineingezogen worden. Dieses Schema, wonach weltliche Geschichte sich als Aufeinanderfolge von vier Weltreichen darstellt, mit der Pointe, das vierte Reich sei das letzte, gefolgt nur noch vom Reich Gottes - dem Ende der Welt -, stammt vom Propheten Daniel, dem spätesten Buch der hebräischen Bibel. In ihm wird das syrisch-hellenistische Reich als das vierte und letzte angesehen. Später in der jüdischen Literatur und auch in der neutestamentlichen Johannes-Offenbarung sei, so kann man häufig lesen, an die Stelle des syrischen Reichs das römische gesetzt worden. Wahr ist, dass biblische Geschichtstheologie gerade so im Mittelalter verstanden und in der Neuzeit säkularisiert wurde: ganz besonders im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, dessen Politiker, Kirchenführer und Universitätslehrer ein Interesse daran hatten, ihr Reich als das letzte und höchste zu beschreiben.

Einer der ersten wirksamen Angriffe auf diese Konzeption kam denn auch von dem französischen Rechtsgelehrten Jean Bodin, der das deutsche Interesse hervorhob und zurückwies und natürlich vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Streits um die Hegemonie in Europa schrieb. Die "Vier Reiche" waren auch deshalb nicht zu halten, weil die frühneuzeitliche Entdeckung der Welt - China, Indien, Amerika - sich nicht in ein Schema eintragen ließ, das Daniel im zweiten Jahrhundert vor Christus allein dem Ereignisfaden des Nahen Ostens abgelesen hatte. Als aber aus diesen und anderen Gründen die Geschichtsbetrachtung säkularisiert wurde, hatten die "vier Reiche" dennoch ein Nachleben, wenn auch ein abstraktes. Man wollte nämlich weiterhin die Ereignisse der Gesamtgeschichte linear und in großen Blöcken aufeinander folgen lassen. So denken wir noch heute im Schema "Antike - Mittelalter - Neuzeit", in das auch bereits die charakteristisch neuzeitliche "Fortschritts"-Konzeption eingetragen ist, wie ebenso etwa in die Stadientheorie Auguste Comtes, des Vaters der Soziologie, der die Zeitalter der Religion, der Metaphysik und der Wissenschaft aufeinander folgen lässt, und noch des Stalinschen Fünf-Formationen-Schemas, das mit dem Kommunismus als dem säkularisierten Gottesreich abschließt.

Doch der Schein täuscht, der uns glauben macht, zwischen Daniel und dem Marxismus habe es nur geschichtstheoretische Kontinuität gegeben. Denn ausgerechnet das Neue Testament fügt sich nicht in diese Linie. Man muss die Frage so stellen: Warum hat das christliche Europa auf Daniel statt aufs Neue Testament zurückgegriffen, um sich geschichtstheoretisch zu artikulieren? Sicher lehnt sich der Autor der Johannes-Offenbarung an Daniels Vier-Reiche-Schema an und deutet Rom als das letzte Reich. Aber in der Art der Anlehnung ist das Schema eigentlich überwunden, denn Johannes spricht nur vom letzten Reich und gibt ihm die Züge aller vier Reiche.(60) Er hat es mit dem Reich schlechthin zu tun, sieht das zeitgenössische römische Reich als Exempel. Die Auszeichnung, "das letzte" zu sein, bekommt dadurch eine neue Färbung. Es heißt nur noch, das vorhandene Reich sei als Exempel letztgültig, weil kein exemplarischer Zug mehr fehle. Ja, man kann fortfahren: Wenn ein Zug vorher noch gefehlt hatte, der nun auch nicht mehr fehlt, dann die Existenz der Kirche!

Sicher stimmt die Johannes-Offenbarung mit Daniel noch darin überein, dass ein letztes Reich erörtert wird, dem kein weiteres dieser Art, sondern das Reich Gottes folgt.(61) Aber da das letzte Reich als Reich schlechthin erscheint, verschiebt sich das geschichtstheologische Interesse auf die letzte Zeit in diesem letzten Reich. Und von daher wird die Frage, ob doch noch ein irdisches Reich folgt, das selbst wieder eine letzte Zeit haben muss, neu eröffnet. Johannes stellt sie sich schon deshalb nicht, weil er, wie wir sahen, ein Verfechter der "Straflehre" ist. Er hat als solcher ein Interesse daran, das strafende Jüngste Gericht seinen auf ausgleichende Gerechtigkeit hoffenden Lesern in Augenweite zu rücken. Aber er tut doch nicht nur das. Wenn man fragt, was das Thema seiner Darlegung ist, so ist es tatsächlich die Lage der Kirche in der Endzeit des römischen, des exemplarischen Reiches. Dass es wie dem Reich, so auch der Kirche in ihr immer ergehen wird wie damals, als es die Römer waren, die ihre Endzeit erlebten und inszenierten, darum geht es(62) - und darüber hat sogar Johannes weit mehr mitzuteilen als nur dies, dass die Kirche in solchen Zeiten aufs Jüngste Gericht wartet.

 

2

Johannes arbeitet exemplarische Züge von Endzeiten heraus. Es sind Zeiten, in denen die Todesangst grassiert und eine Todeskultur entsteht. Zeiten des Nihilismus. Da in ihr längst aller Sinn zusammengebrochen ist, auf den das Reich sich in den besseren Zeiten stützte, wissen die Menschen kaum noch, warum und wozu sie überhaupt leben. Immerhin vergnügen sie sich, gibt es Bräutigam und Braut, Kunst und Waren, an denen freilich eine Blutspur klebt.(63) Der Nihilismus bricht an, wenn das Reich auch dadurch nicht mehr getragen wird. Es kämpft nur noch ums Überleben, wird zur puren Militär- und Polizeimacht.(64) Jetzt herrschen Angst und Terror. Jetzt ist die Zeit gekommen: Die Menschen sind schwach - und die Stunde der Kirche schlägt.

Hatten wir schon bei Paulus gelesen, dass Jesus nicht zufällig in einer schwarzen Zeit auftrat, so kommt bei Johannes die Einsicht hinzu, dass die Kirche Jesu regelmäßig in ihrem Element ist, wenn schwarze Zeiten wiederkehren. Er stimmt die Gemeinden auf eine Zeit der Verfolgung ein, in der sie "ausharren" müssen. Wenn das nur ein aktualistischer Ratschlag wäre, hätte er nicht den Vergleich dieser Verfolgung mit Jesu Kreuzigung bemühen müssen. Er tut das aber. Er fordert die Gemeinden zur Nachfolge auf. Übrigens ist er nicht der Einzige; nur in der Ausführlichkeit und Dichte, in der er bei der Bestimmung der Situation der Kreuzesnachfolge die politischen und realhistorischen Linien auszieht, unterscheidet er sich von den anderen neutestamentlichen Autoren. Gerade durch diese Schwerpunktsetzung ist er aber den Kernpassagen des Neuen Testaments verbunden. Denn Jesu Kreuzigung ist nun mal ein Ereignis im Vorfeld des jüdisch-römischen Krieges, der zur Tempelzerstörung führt, die dem Evangelisten Johannes zur Metaphorisierung der Kreuzigung dient.(65) Es sprechen also theologische Gründe dafür, als die gleichsam natürliche Zeit der Kirche die schwärzeste, offen nihilistische Zeit anzusehen.

Das ist christliche Geschichtstheologie, und eine andere gibt es nicht - nicht im Neuen Testament. Wir lesen da nichts über historische Stadien und auch sonst nichts, was sich zur Fortschrittsphilosophie weiterdenken ließe. Sondern nur etwas über schwarze Zeiten.

Nun wäre ich auf den Einwand gefasst, das Auftreten Christi in einer schwarzen Zeit gehöre doch nur zur "Heilsordnung". Diese lasse der "Erhaltungsordnung" Raum - Ordnung zur Erhaltung der Schöpfung durch weltliche Regenten, die Gott verpflichtet sind -, auf die sich die christlichen Aussagen über die Abfolge von Weltreichen bezögen. Ich habe kein Problem mit dieser Unterscheidung. Sie ändert aber nichts daran, dass sich das Neue Testament nicht für historische Stadien interessiert. Wenn Christen über die Erhaltungsordnung nachdenken, können sie vom Neuen Testament her "nur" fragen, erstens welchen Abdruck die Heilsordnung in ihr hinterlässt und zweitens wie die Erhaltungsordnung von der Heilsordnung mitbestimmt wird. In der Beantwortung dieser Fragen besteht dann ihre Geschichtstheologie. Sie werden sich bei der ersten Frage auf die nihilistische Geschichtsunterbrechung verwiesen finden. Die Heilsordnung antwortet auf das anthropologische Problem der Menschen, ihre "Sünde" und "Schwäche", die in bestimmten Zeiten so sehr überhandnehmen, dass die Geschichte unterbrochen wird. Bei der zweiten Frage werden sie nichts finden als das 13. Kapitel des Römerbriefs. Da zeichnet Paulus eine "Obrigkeit", die sich zu Gottes Dienst verpflichtet weiß und für deren Charakter die Christen mitverantwortlich sind. Zu solchen "Obrigkeiten" muss es aber erst einmal kommen(66) - wie, wenn nicht immer wieder aus der Geschichtsunterbrechung heraus? In welcher Reihenfolge sie entstehen und vergehen, auch ob und wie sie aufeinander aufbauen, das sind spannende und wichtige Fragen für uns, aber nicht für Paulus, der sich auf das noch Wichtigere konzentrierte.

Kein Wunder, dass das Wichtigste von der Kirche des Mittelalters verdrängt wurde, stand doch die Rückkehr der Nacht ihrer hochherrschaftlichen Natur diametral entgegen. Sich darin zu sonnen, dass das gegenwärtige Reich das vierte, letzte und höchste sei, war für beide Pole des Reichs - den Kaiser wie den Papst - stets angenehmer als sich zu gestehen, dass es auf genau denselben Sand gebaut war wie jedes andere auch. So wurde denn die Johannes-Offenbarung auf Daniel zurückgeschraubt. In der anbrechenden Neuzeit hielt noch Melanchthon an Daniels vier Reichen fest. Er räumte ein, dass Gott die Reiche nicht nur erhalte, sondern auch zerstöre, aber er war sich der Letztgültigkeit des römisch-deutschen Reichs absolut sicher.(67) Später hörten die Fortschrittsphilosophen ganz auf, in der Bibel zu lesen, dachten aber genauso selbstgewiss über ihre Zeit wie die mittelalterliche Kirche. Das ist ja gerade das Problem, von dem wir ausgegangen sind: Der Fortschritt, an den sie noch glauben, erweist sich später als illusionär, und nun sieht man gar keinen Sinn mehr, den die Geschichte haben könnte.

Die schwarze Zeit, von der die Johannes-Offenbarung handelt, war zu Lebzeiten ihres Autors noch gar nicht gekommen, er hatte nur guten Grund, sie zu erwarten. Erst zwischen den Kaisern Commodus, gestorben 192, und Diokletian, gestorben 305, brach sie über das ganze Reich herein. Sie ist nicht immer für alle gleichzeitig vorhanden, da ja von einer Geschichtsunterbrechung nur vermittelt über die Unterbrechung des Bildes, das Menschen sich von der Geschichte machen, die Rede sein kann. So lebten die Sklaven schon zur Blütezeit des erhabenen Augustus in der Finsternis, weshalb es nicht überrascht, dass unter den ersten namentlich bekannten Heidenchristen so viele Sklaven waren, und eben damals hörte auch für Judäa, das zur römischen Provinz geworden war und Tempelsteuern zahlte mit Münzen, die entgegen dem Dekalog Bilder des Göttlichen trugen,(68) die Geschichte auf.(69) Aber im dritten Jahrhundert senkte sich die Nacht über die Nutznießer des Reichs ebenso wie über seine Opfer. Im Abwehrkampf gegen Germanen und Perser begriffen, wandelte sich die Reichsverfassung zum puren militärischen Absolutismus. Die Legionen erhoben Soldatenkaiser, von denen viele durch Mord umkamen und wenige länger als zwei oder drei Jahre regierten. Terror und Gewalt waren an der Tagesordnung. Seit der Mitte des Jahrhunderts wurde die Verteidigung des Reichs auf Kosten seiner Bürger "stabilisiert", und an seinem Ende machte Diokletian aus vielen Notmaßnahmen ein System.

Eine Flut von Steuererklärungen und Veranlagungsbescheiden trieb jetzt Geld für die Legionen ein. Die Städte verarmten. Da die Großgrundbesitzer freigestellt wurden, war es für viele Bauern billiger, ihnen ihr Land zu schenken und es per Pacht zurückzuerhalten, als Steuern zu zahlen. So begann der Feudalismus seinen Schatten vorauszuwerfen. Zu dieser Zeit uferte der Ausbau der Geheimpolizei aus, es gab Briefzensur, einen gut organisierten Spitzeldienst und viele agents provocateurs. Diokletian aber ließ sich als Gott verehren und leitete wenige Jahre nach seiner Steuerreform eine große Christenverfolgung ein. Man verbot die Gottesdienste, verhaftete die Kleriker, zerstörte die Kirchen und verbrannte die christliche Literatur. Es gab zahlreiche Hinrichtungen. Wieder ein paar Jahre später herrschte Konstantin der Große - der zum Christentum übertrat.(70)

 

3

Allerdings liegt in der Empfehlung, die schwarze Zeit bloß märtyrerhaft "ausharrend" zu überstehen, eine Schwäche der Theologie des Johannes, die wieder mit der von ihm verfochtenen Straflehre zusammenhängt. Denn wenn selbst er den Versuch darstellt, Ungerechte gerecht zu machen, so ist es bei ihm nur Gott, der dies durch kosmische Katastrophen unternimmt, also wieder durch Bestrafung. Das ist alles: Strafe soll Ungerechte vor größerer Strafe bewahren! Der Kirche bleibt nichts als Beten. Die Evangelisten, auch Matthäus, vertreten klar eine andere Lehre: In der Stunde der nihilistischen Drangsal der Welt und Verfolgung der Kirche komme es auf das Wort an, das die Kirche öffentlich sagt. Das ist die Hauptbotschaft der apokalyptischen Rede, die Jesus den Jüngern kurz vor seiner eigenen Verhaftung hält.

Dabei ist nicht lediglich daran gedacht, dass verfolgte Christen ein zeitlos-abstraktes Bekenntnis zu Christus ablegen sollen oder gar nur Nein sagen sollen, wenn man etwa die Teilnahme an einem heidnischen Kaiserkult von ihnen verlangt. Um ihrem Gott zu zeigen, dass nicht sie, sondern die Peiniger Bestrafung verdienen? Der Gott der Liebe verlangt mehr: "Was immer euch gegeben wird in jener Stunde, das redet", fordert Jesus. "Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der Heilige Geist."(71) Es geht offenbar um konkrete, je historisch besondere, deshalb auch nicht im Voraus mitteilbare Worte, die zu sagen die Aufgabe der Verfolgten sein wird. Der Grund ist, dass die Peiniger kraft der Worte umkehren, sich eben verändern sollen. Der nihilistische Zustand soll beseitigt, nicht bloß überstanden werden. In der Apostelgeschichte werden mehrere Situationen geschildert, in denen Christen vor Gericht und im Gefängnis durch ihr Sprechen in den Diskurs der finsteren Welt eingreifen und gelegentlich auch finstere Menschen erhellen konnten, in denen der Autor der Johannes-Offenbarung bloß Kandidaten des "ewigen Feuerpfuhls" gesehen hätte - einen Gefängniswächter zum Beispiel(72) oder jenen Saulus, der mit der Ermordung des Christen Stefanus "einverstanden war"(73) und sich dann doch zum Paulus wandelte. Seinen Widerstand gegen die Worte, die Stefanus vor der Steinigung gesprochen hatte, gab er nach einer Latenzzeit auf.(74) In dem Prozess, der ihm dann selbst in Jerusalem gemacht wird, hält er eine Predigt nach der andern.(75)

So illustriert die Apostelgeschichte die allgemeine theologische Aussage des Matthäus-Evangeliums, dass der Kirche "der Schlüssel" zum Reich Gottes gegeben sei: "Und was immer du bindest auf Erden - gebunden wird es sein in den Himmeln. Und was immer du lösest auf Erden - gelöst wird es sein in den Himmeln."(76) Das ist der ganz realistische Hinweis, dass es von der Kirche abhängt, was die nihilistische Versuchung in der Welt ausrichten kann und was nicht; ob sie fähig oder unfähig ist, die Verstrickung der Menschen und ihrer Systeme aufzulösen.(77) Denn ein deus ex machina wird nicht eingreifen. Es hängt von ihrem Wort ab. Mag sie auch nur noch vor Gericht Gelegenheit haben, es zu sprechen.(78) Aber von ihrem konkreten Wort. Sie ist aufgefordert, "die Zeichen der Zeit" zu erkennen. Das Wort, wie es im Neuen Testament vorliegt, schließt nur dann etwas auf, wenn es in diesen Zeichen reformuliert werden kann.

Weshalb ist die schwarze Zeit die natürliche Zeit der Kirche? Weil es ihre Aufgabe ist, für die Kontinuität des geschichtlichen Sinns zu zeugen. In Gutwetterzeiten tun das auch andere, in der Finsternis leuchtet schlimmstenfalls nur noch sie. "Denn als wir noch schwach waren - zu der Zeit ist der Messias für Gottlose gestorben." Er, der noch "vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat",(79) starb wegen seiner öffentlichen Reden und beredten Taten. Er wiederholte im Grunde nur Worte, die es in der Religion seines Volkes schon gab, die er aber zeitgemäß zu konkretisieren verstand, wodurch sie sich freilich faktisch veränderten, wie die Folgezeit zeigte. Und nun sehen wir doch, die schwarze Zeit wird hier nicht als Endzeit in dem Sinn, dass die Geschichte nach ihr nicht mehr weiterliefe, konzipiert. Die schwarze Zeit wiederholt Finsternisse, die es schon früher gegeben hat, und wird einst auch ihrerseits wiederholt werden. Der Finsternis der Tempelzerstörung durch die Römer waren die ägyptische Finsternis und die babylonische Gefangenschaft vorausgegangen. Gerade in diesen Notzeiten waren die religionskonstituierenden Worte gesprochen worden, die Jesus reaktivierte. Mehr noch, die Worte, die er aufnahm, gab er weiter. Sie kamen bei Stefanus an, der mit ihnen Saulus überzeugte;(80) aus Saulus wurde der Mann, der die Grundlinien einer außerhalb Israels ganz neuartigen Religion schuf. So verbanden diese Menschen vergehende mit noch nicht entstandenen Kulturen über den Abgrund des Nihilismus hinweg. Das wird immer wieder geschehen müssen.(81)

Die Kirche muss sich als "Licht der Welt" bewähren. Die reale Kirche hat es tatsächlich zu sein versucht. Statt mit Halleluja-Chören und verschränkten Armen dem Zusammenbruch Roms zuzuschauen, besetzte sie Roms hegemoniale Mitte und gab dem Reich eine andere Kultur.(82) Wie sie es tat, wie viel Schuld sie dabei und dann im Lauf der Jahrhunderte auf sich lud - wie sie nicht nur Licht spendete, sondern auch Schatten - und wie diese faktische "Heilsgeschichte" selbst wieder, in neuester Zeit, geschichtstheologisch reflektiert worden ist: das wird noch zu skizzieren sein. Aber jedenfalls wäre Konstantin der Große kaum zum Christentum übergetreten, wenn er nicht vorher, sei es auch noch so vage, etwas von der christlichen Botschaft erfahren hätte.

 

"Geschichtsunterbrechung"

Ich will jetzt versuchen, den grundlegenden Begriff dieses Textes zu definieren - die "Geschichtsunterbrechung". Dabei geht es nicht mehr um die Frage, was Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie ist, denn davon war die Rede. Als diese Kategorie ist Geschichtsunterbrechung die Zeit der Kirche; die schwarze Nacht, in der das Licht des Gottesvolks trotzdem leuchtet;(83) die Gefahr des Versiegens von Sinn, der die Kirche begegnet, indem sie über den Abgrund hinweg den Regenbogen spannt. Es bleibt aber nachzutragen, was Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie ist. Die Reihenfolge mag befremden, sie war unvermeidlich. Ich musste erst die Antwort vorschlagen. Jetzt kann ich definieren, was die Frage war.

Wenn Geschichte unterbrochen werden kann, muss sie "an sich" eine Kontinuität haben. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass dies der Fall ist. Man kann die historische Kontinuität nicht als Fortschritt bestimmen. Es gibt aber immer wieder den Fortschritts-Versuch. Dieser Begriff ist nicht wertend. Der Fortschritt, den jemand, eine Gruppe oder eine geschichtliche Kraft herbeizuführen unternimmt, kann vom Standpunkt einer anderen Kraft ein Rückschritt sein. Näher betrachtet ist Geschichte eine Kette ineinander verflochtener Fortschritts-Initiativen.(84) Im Prinzip könnte man annehmen, solcher Initiativen gäbe es unzählige, dann wäre die ganze Überlegung nutzlos. Aber so viele es geben mag, so wenigen "Logiken", Diskursen, scheinen sie zu folgen. Es würde dennoch zu weit führen, ist aber auch unnötig, solche Diskurse hier erörtern zu wollenL85) Da es nur darum geht, den Begriff "Geschichtsunterbrechung" zu definieren, brauche ich nur den einen Diskurs vorzustellen, in dem dies möglich ist.

Seine Mechanik möchte ich an einer charakteristischen Denkfigur der jüdischen Propheten verdeutlichen. Sie dachten über die "vernichtende", zur Babylonischen Gefangenschaft führende Niederlage ihres Gemeinwesens nach. Sie taten das nicht voraussetzungslos, sondern ausgehend von Gottes Heilsversprechen. Dass diese Prämisse der Realerfahrung so krass widersprach, hätte sie glauben machen können, eine heilsgeschichtliche Kausalität habe einmal bestanden, sei aber nun zerbrochen und mit ihr der Gott, auf dem sie gründete. Doch ihr Schluss war ein anderer: dass im erlebten Widerspruch Gottes Widersprechen sich Geltung verschaffe.(86) Durch ihren Mund, den sie ihm liehen, widersprach Gott teils der Art, wie die Heilsprämisse von Israel falsch verstanden oder bewusst missachtet worden war; teils aber, daran kann kein Zweifel sein, wies er sich selbst zurück und veränderte die Prämisse.(87) Er ist eben ein zeitlicher Gott. Diese Veränderung war wiederum "nur" eine Erneuerung, so dass zwischen alter und veränderter Prämisse die Diskurs-Kontinuität nicht abbrach. Es war kein Prozess von Vernichtung und Ersatz.(88) In der Umdeutung des Bundes zum Neuen Bund, von der ich schon sprach, fand die prophetische Geschichtsdeutung ihren Höhepunkt. Doch in der Deutung "Neuer Bund" verschwand die Geschichtsunterbrechung nicht. Sondern gerade die Unterbrechung wurde gedeutet, eben als Gottes Widersprechen. Indem Gott sich selbst zurück- und zurechtweist, überbrückt er die Unterbrechungen, so dass diese nicht als das schlimme Ende gefürchtet werden müssen. Wie man sieht, waren es die Propheten, die Geschichtstheologie als Geschichtsunterbrechungs-Theologie begründeten.

Wenn man ihre Denkfigur rein diskursiv nachbuchstabieren will, stellt man fest, dass sie eigentlich sehr einfach ist: Sie folgt der Logik des Fragens und Antwortens. Eine Antwort kann ja darin bestehen, dass der Frage widersprochen wird, in deren Auftrag sie erfolgt. "Die Frage ist falsch gestellt." Dieser Satz wird nicht mutwillig gesprochen; er beruft sich auf eine Konfusion in der Fragestellung, die es geradezu unmöglich macht, anders als widersprechend zu antworten. Auf die Konfusion wird man aber durch einen Sachverhalt aufmerksam, der unabhängig von Frage und Antwort gegeben ist und deren rein innerdiskursives Auseinanderhervorgehen erst einmal unterbricht. Man kennt die alltäglichen Beispiele: "Wann fängt die Spätvorstellung an?", frage ich, und wenn mir erwidert wird, sie "fällt aus", ist das eine Antwort, die zwar meine Frage zurückweist, in der aber die Kontinuität des Diskurses vollkommen gewahrt bleibt. Sie macht mich auf die Konfusion aufmerksam, dass ich ungewollt zwei Fragen gleichzeitig gestellt habe: ob die Spätveranstaltung stattfindet und, wenn ja, wann. Sie ist dazu aber nur unter der Voraussetzung eines Filmspulenrisses, einer Erkrankung des Vorführers, eines Ausbleibens der erwarteten Besucherzahl, kurz einer realen Unterbrechung imstande. Warten ist nutzlos, weiß ich nun und gehe woanders hin.

"Geschichtsunterbrechung" ist nur in Termini des Antwort-Diskurses definierbar. Etwa so: Wenn wir unter "Geschichte" eine unablässige Folge ineinander verflochtener Fortschritts-Versuche verstehen, so besteht ihre Unterbrechung darin, dass es zu Geschehnissen kommt, in denen die Fragestellung eines geschichtsmächtigen Fortschritts-Versuchs nicht mehr greift. Die Unterbrechung hält an, solange man vergeblich versucht, die Geschehnisse dadurch zu bewältigen, dass man die alte Frage beantwortet, ohne ihr zu widersprechen.(89

In diesem Zusammenhang ist es auch möglich, den Begriff der "Erhaltungsordnung" hinreichend zu klären. Die Erhaltungsordnung ist das, was aufhört zu sein, wenn die Geschichtsunterbrechung anfängt. Der Ausdruck "Erhaltungsordnung" ist freilich problematisch und im Grunde ideologisch, weil es eine Ordnung, von der man sagen könnte, sie hätte schlechthin "erhalten" - wen den? die Menschen? die Witwen und Waisen? die Ausgebeuteten? -, noch nie gegeben hat und und auch in Zukunft kaum geben wird. Man kann dennoch nicht sagen, es sei nur das Gegenteil einer solchen Ordnung vorhanden. Die Lösung besteht darin, dass man die sogenannte Erhaltungsordnung von jener "Fragestellung eines geschichtsmächtigen Fortschrittsversuchs" begrifflich trennt. Wir können nur von der "Fragestellung" uneingeschränkt behaupten, dass sie "erhält", so weit jedenfalls, wie das in einer historisch bestimmten Zeit überhaupt menschenmöglich ist. Und auch "gottesmöglich ist", um theologisch zu sprechen, denn "Gott", wie gesagt, ist nicht die platonische Liebe, sondern die Liebe in der Zeit, die sich erst durchsetzt.

Im Raum jener "Fragestellung" versucht man zum Beispiel eine Rechtsordnung zu generieren, und da zeigt sich dann schon die Relativität des "Erhaltens", etwa der Klassencharakter, die Klassen-Schlagseite des Rechts. Diese demonstriert aber nicht, dass die Rechtsordnung nur Lug und Trug ist, denn die inspirierende "Fragestellung" steht im Gesamtkontext der Frage-Antwort-Ketten der Menschheit, von denen solches zu behaupten die geistige Vorwegnahme des Selbstmords der Menschheit wäre. Rein logisch ließe sich zeigen,(90) dass eine historisch bestimmte und behauptete Ordnung von der sie inspirierenden Frage schon dadurch verschieden ist, dass sie in ihrer Zeit definitiv, darum aber von vornherein verkehrt ist, während umgekehrt die Frage, wie jede Frage, gerade das Nichtdefinitive ist, denn sie wartet sozusagen von sich aus aufs Zurückgewiesenwerden - wenn ich frage, wann die Spätvorstellung anfängt, ist es nicht meine Intention, um jeden Preis dies Anfangen bestätigt zu bekommen -, woraus folgt, dass sie von vornherein nicht verkehrt ist, sondern es erst wird: in der Geschichtsunterbrechung.

Die Erhaltungsordnung ist also als Erhaltungsordnung immer verlogen und als in Frage stehende Erhaltungsordnung immer wahr, und sie ist nicht mehr vorhanden, sobald sie nicht mehr in Frage steht infolge des Umstands, dass die Frage unbeantwortbar geworden ist und sich auflöst.(91)

Mit diesen Definitionen ist klargestellt, dass "Geschichtsunterbrechung" etwas anderes ist als der "Fall" nach dem "Aufstieg" eines Reiches oder einer Kultur, kein Alter nach seiner/ihrer Jugend, kein Verwelken nach Blüte und Frucht - was ja nahelegen würde, dass wie beim biologischen Zyklus der Wiederaufstieg im Fall schon angelegt wäre und aus ihm nur "entwickelt" werden müsste(92) -, dass sie vielmehr die Zeit nach dem definitiven Abbruch eines Sinnkontextes ist(93) und folglich die Zeit der definitiven Einschwärzung seiner Basis, der von ihm interpretierten Welt. Aus einer solchen Zeit führt nur die Erfindung neuen Sinns heraus: nur das Widersprechen.

 

1 Von Karl-Ernst Jeismann, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51-52/2002, 13-22.

2 Dass man sich ein Bild vom eigenen Lebenslauf muss machen können, hat Richard Sennett in seinem Essay Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2000, unterstrichen und gleichzeitig festgestellt, dass der "neue Kapitalismus" es nahezu unmöglich macht. Der "flexible Mensch" kann eine Kontinuität seines Lebens nur noch in der Erzählung seines Scheiterns gewinnen (173 ff.), das keineswegs, wie es denkbar wäre, irgendeinen historischen Sinn zeigt. Der letzte Satz des Buches lautet: "Ein Regime, das Menschen keinen tiefen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten." (203)

3 Jeremy Rifkin, Das Imperium der Rinder, Frankfurt/New York 1994, 122 f.

4 Jeismann (Note 1), 19.

5 A.a.O., 20.

6 Ebd.

7 Vgl. auch die von der Zeitschrift Das Argument veranstaltete Diskussion "Den Fortschritt neu denken" (Heft 230, 1999), der ich einige Stützpunkte für das Folgende entnehmen kann, so das eingangs abgedruckte Gedicht von Volker Braun (162 f.), das mit den Zeilen beginnt: "Rom: offene Stadt Ein Feldlager / Auf dem Laufsteg defiliert die Mode / der Jahrtausendwende Panzerhemden / Für den Beischlaf Zwei Gladiatoren / Kämpfen um den Arbeitsplatz mit Würgegriffen", weiter die Bemerkung Immanuel Wallersteins (220), seines Erachtens werde "die strukturelle Profitkrise des Weltkapitalismus" diesen "in dem nächsten halben Jahrhundert zu Fall bringen": "Ich möchte einfach sagen, dass diese strukturelle Krise uns in eine dunkle Periode von Kämpfen darum führt, welche Art System das existierende ablösen wird." (220), und auch die Feststellung Frieder Otto Wolfs (265, meine Herv.): "Die Kategorie des Fortschritts ist immer auch eine Urteilskategorie. Die Frage, ob etwas ein Fortschritt gegenüber etwas Vorherigen sei oder künftig ein Fortschritt sein würde, kann nicht einfach aus dem politischen Diskurs eliminiert werden."

8 Vgl. Ulrich B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, Würzburg 21995, 254 ff., 295 ff.

9 Römer 5, 6.

10 Galater 4, 4.

11 Exodus 3, 7 f.

12 Exodus 1, 11 u. 16; 4, 23.

13 Römer 7, 14 ff.

14 Römer 5, 12 ff.; 1, 28 ff.

15 "Rasch sind ihre Füße im Blutvergießen", zitiert Paulus Jesaja 59, 7 f.: "Zerrüttung und Elend auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens erkannten sie nicht." (Römer 3, 15-17) Er spricht pauschal von den Sündern, aber: "Paulus wird bei der Aufnahme dieses Zitats gewusst haben, dass er mit seinem negativen Urteil einer optimistischen Parole römischer Selbstdarstellung widersprach, nach der Römer, besonders seit Augustus, der von ihnen beherrschten Welt den Frieden gebracht hätten." (Klaus Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, Leipzig 1999, 82) "Meine These ist", schreibt Jacob Taubes, der Römerbrief "ist [...] eine politische Kampfansage an den Cäsaren" (Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, 27).

16 Römer 7, 23 benennt zwar nicht die Römer, sondern vage "ein anderes Gesetz, das Krieg führt wider das Gesetz meiner Vernunft und mich zum Gefangenen macht im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist". Aber dass die Sünder zur Kriegsbeute und zu Sklaven werden (V. 1: "ich aber bin fleischbestimmt - verkauft unter die Sünde") und ihrer eigenen "Vernunft" nicht folgen - ein von Paulus sonst nicht positiv verwandter Begriff -, hätte er nicht sagen müssen, wenn es ihm nur allgemein um die Sünde und nicht auch konkret um das römische Imperium gegangen wäre. Es scheint ja um zwei feindliche Gesetze zu gehen, eins (ein römisches!), das den Krieg führt, in dem Gefangene gemacht werden, und ein anderes (das der Sünde!), unter welches die Gefangenen dann verkauft werden. Das muss auch Simone Weil so gelesen haben, die in ihrem Werk einen erstaunlichen Bogen schlägt vom Sklavenstatus des in Elend und Unglück lebenden Fabrikarbeiters über die Vergleichbarkeit nationalsozialistischer mit römisch-antiken Verfassungsstrukturen bis eben zum paulinischen Begriff des Sklaven der Sünde (vgl. Reiner Wimmer, Simone Weil, in: ders., Vier jüdische Philosophinnen, Leipzig 21999, 123-215). Das Gesetz, das "in meinen Gliedern Krieg führt", kennen auch die Evangelisten: Jesus heilt einen Menschen, der nackt in Gräbern haust - ein eindrückliches Bild nihilistischer Verzweiflung - und von einem Dämon namens "Legion" besessen ist, wobei die Umstände klar dafür sprechen, dass von römischen Soldaten die Rede ist (wie Dietrich Schirmer ausführlich zeigt: Exegetische Studien zum Werk des Lukas, erklärt aus seinem jüdischen Kontext. Ein Arbeitsbuch, Berlin 2001, 615-643). Und umgekehrt schreibt Haacker zu Römer 7 ([Note 15], 147): "Dass eine fremde Macht einen Menschen im feindlichen Sinne wie ein Haus 'besetzen' kann, ist vor Paulus nur als Grenzerfahrung im Falle der Besessenheit geläufig".

17 Paulus spricht zwar im Konditionalis und scheint nur Einzelne anzusprechen (Römer 2, 17: "Wenn du [...] auf das Gesetz dich verlässt" und trotzdem - 22b - "Tempelraub begehst"), aber die Fortsetzung macht deutlich, dass doch faktisch alle der Kondition erliegen (vgl. 3, 10). "Tempelraub" ist wahrscheinlich zugespitzte Formulierung für eine Herabwürdigung des Tempels als des Hauses, in dem Gottes Name wohnt (vgl. Haacker [Note 15], 70); darauf kommen auch die Evangelien zu sprechen, wenn sie berichten, dass Jesus Händler aus dem Tempel vertrieben hat, oder wenn sie vor dem "Greuel der Verwüstung" warnen, der dort aufgestellt werde. Paulus hält die Sache für so schwerwiegend, dass er an die Zeit der Babylonischen Gefangenschaft erinnert: "Denn: Der Name Gottes wird euretwegen bei den Völkern gelästert - wie geschrieben steht" (2, 24; vgl. Jesaja 52,2).

18 "Wie durch den einen Menschen die Sünde in die Welt hereinkam, und durch die Sünde der Tod [...]. So wurde der Tod König [...]." (Römer 5, 12 u. 14) "Erst bei Paulus scheint Sünde als ein allen Geboten vorausgehender Sachverhalt erfasst worden zu sein", sie kann von nun an "als anthropologische Befindlichkeit" aufgefasst werden, schreibt Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, Göttingen 1991, 275.

19 Es ist eingestanden oder uneingestanden das Problem, dass der Tod als "Stachel der Sünde" - eben der Sünde, andere zwischen sich und den Tod zu schieben - erfahren wird (1. Korinther 15, 56): Das lehrt schon die Paradiesgeschichte, in der Gott wohl kaum die Strafe des Sterbens androht, als ob Menschen, die nicht straffällig würden, auch nicht zu sterben bräuchten, vielmehr die Strafe des Sterbens, also ein solches Sterben, das im Sinn des Satzes des Anaximander als Vergeltung empfunden wird. Wir können auch umgekehrt sagen, eben das sei der Sinn der Vokabel "Gott", dass er das jemeinige Sein ist, dem ich im Sterben begegne - und auch lebenslang begegne, wenn ich meine Endlichkeit nicht leugne -, insofern sich mir dann entweder meine Bestraftheit zeigt oder das, was Paulus/Luther meine "Rechtfertigung" nennen.

20 Vgl. Römer 3, 19 f.: Das Gesetz ermöglicht die Erkenntnis der Sünde. Natürlich befreit es nicht von ihr, macht vielmehr alle "straffällig", die es nicht erfüllen. Paulus stellt aber keine Antithese von "Gesetz und Evangelium" auf, das tut erst Luther (Haacker [Note 15], 106). Nicht nur vom Gesetz, sondern auch vom Evangelium konnte Paulus ja in der Hebräischen Bibel lesen ("Freudenbotin" Jerusalem: Jesaja 49, 9; vgl. a.a.O., 191). Christus ist das "Telos" des Gesetzes (Römer 10, 4), aber "Telos" ist nicht mit "Ende" zu übersetzen, als ob das Gesetz vernichtet und ersetzt würde, sondern mit "Ziel", insofern es auf Christus hinausläuft und zu ihm überleitet.

21 Wenn er in Römer 4, 14 f. bestreitet, dass das Gesetz noch immer als Wort des Glaubens und der Verheißung wirksam sein könne, wie das einst der Fall gewesen war, so reagiert er, wie man gerade an der Übertriebenheit seines Arguments sieht, auf die Problemlage seiner Zeit: "Das Gesetz bewirkt 'Zorn' (d.h. Bestrafung; vgl. 13,5), und wo es kein Gesetz gibt, da gibt es auch keine Übertretung (und, so ist sinngemäß zu ergänzen: auch keine Bestrafung). Paulus argumentiert hier mit dem profanen griechisch-römischen Gesetzesbegriff, der einseitig auf Verbote mit Strafandrohungen fixiert war, und übergeht dabei die positiveren Gehalte des hebräischen Begriffs Torah, der eher als verbindliche, weil hilfreiche Wegweisung (im Rahmen eines auf Gott ausgerichteten Lebens) zu verstehen ist. Es geht ihm ja vor allem darum, Heidenchristen davon abzuhalten, dem mosaischen Gesetz eine Heilsbedeutung zuzuschreiben, von daher wird sein Argumentieren mit dem heidnischen Gesetzesbegriff rhetorisch verständlich." (Haacker [Note 15], 107)

22 Ein Vergleich zwischen der jüdischen Entsühnung mit dem Höhepunkt des "Versöhnungstages" (Leviticus 16) und dem Weg Jesu ist das beherrschende Thema des Hebräerbriefs; Paulus spielt knapp in Römer 3, 21-26 darauf an (vgl. Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994, 191 f.). Zum Versöhnungstag aus jüdischer Sicht Taubes (Note 15), 43-55. Taubes' Behauptung, Paulus habe es im Unterschied zu Mose nicht abgelehnt, "dass mit ihm ein neues Volk beginne und das Volk Israel getilgt werde" (11), ist aber angesichts von Römer 11, 1 f. u. 26 unhaltbar.

23 Vgl. Schirmer (Note 16), 99 ff. und Kuno Füssel/Eva Füssel, Der verschwundene Körper. Neuzugänge zum Markus-Evangelium, Luzern 2001, 79 ff.

24 Römer 1, 17.

25 Römer 4, 17 f.

26 Jesus als "des Glaubens Führer und Vollender" ist eine Formulierung im paulinischen Geist aus dem Hebräerbrief (12, 2). "Es geht nicht etwa darum, den Glauben Abrahams zu überbieten", schreibt Gerhard Ebeling (Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 2, Tübingen 1989, 521 f.): "Der Unterschied betrifft [...] die Situation des Glaubens."

27 Jeremia 31, 31-34; vgl. auch Jesaja 59, 21, Ezechiel 36, 27.

28 Johannes 1, 1 ff.

29 Markus 10, 18.

30 Matthäus 3, 2; 4, 17; Markus 1, 15. "Ist herbeigekommen" oder "nahe herbeigekommen" bei Luther, sonst auch "ist nahe" oder "ist genaht".

31 Zu zeigen, dass Gott nicht der Allmächtige ist, der unter anderem auch liebt, sondern umgekehrt die Liebe, die sich als allmächtig erweist, ist eins der Hauptanliegen von Karl Barth (vgl. Die kirchliche Dogmatik II/2, Zollikon-Zürich 1942, 1-563). Damit entsteht aber die Frage, welche Wege eine "Macht der Liebe" geht; es werden selber schon liebende Wege sein müssen, d.h. der Begriff "Macht" muss hier etwas anderes bedeuten als gewöhnlich.

32 Römer 6, 3.

33 Hebräer 2, 9 u. 15.

34 Markus 15, 37.

35 Markus 15, 34. "Das ruft nur einer, der sein Werk, als konkret anrichtbares, entschwunden sieht", schreibt Ernst Bloch (Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt/M. 1985, 175). Richtig ist aber auch, dass da einer Psalm 22, 2 zitiert und bestimmt weiß, wie der Psalm weitergeht (22, 28): "Alle Enden der Erde sollen daran denken und werden umkehren zum Herrn: Vor ihm werfen sich alle Stämme der Völker nieder."

36 Deshalb greift Friedrich Engels so sehr daneben, wenn er die christliche Lehre "in seiner Weltreligionsgestalt" mit Bruno Bauer aus der Stoa zu erklären versucht (Zur Geschichte des Urchristentums, MEW 22, 447-473). Es gibt gewiss viele Einzelgedanken bei Paulus, für die man Parallelen bei Seneca findet, wie auch Haacker (Note 15) allein am Römerbrief nachweisen kann. Aber das zeigt nur, in welcher Welt Paulus lebte. Die Stoa lehrte die Ataraxie, "um nur überhaupt des Lebens fähig zu sein", sagt Adorno in seiner Metaphysikvorlesung (Metaphysik. Begriff und Probleme [1965], Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1998, 175). Es ist eine Haltung erzwungener Weltlosigkeit, zu der als Korrelat eine grauenhafte Welt gehört. Aber Paulus und Jesus haben ihre grauenhafte Welt nicht als endgültig anerkannt und konnten deshalb höchst leidenschaftlich auf sie reagieren.

37 Vgl. etwa Hans Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 132000, 458.

38 Nach dem Bericht der Evangelisten heilt Jesus Krankheiten und treibt Dämonen aus, bevor er die Geheilten auffordert, fortan nicht mehr zu sündigen.

39 Vgl. Pannenberg (Note 18), 610 ff.

40 Vgl. Offenbarung 20, 11-15.

41 "Eine offene Frage ist der Sinn des Ausdrucks 'Leben aus den Toten' am Ende von [Römer 11] V. 15. Meint Paulus, dass die Wiederaufwertung Israels den Auftakt für die eschatologische Totenauferweckung darstellt? Oder steht der Ausdruck 'Leben aus den Toten' metaphorisch für eine radikale, von Gott allein gewirkte Wendung zum Guten? Traditionsgeschichtlich ist das metaphorische Reden von der Auferweckung (vgl. Ez[echiel] 37, 1-4; Hos[ea] 6, 1 f.; Esra 9, 8 f.) älter als die Erwartung realer Auferweckung der Toten [vgl. Jes[aja] 26, 19; Dan[iel] 12, 1 f. [...]), wird aber keineswegs von ihr verdrängt (vgl. Joh[annes] 5, 24)." (Haacker [Note 15], 229) Einwand: Kann man wirklich Jesaja 26, 19 ("Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die Toten heraus") und Daniel 12, 1 f. ("Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten") als Belege für ein realistisches Verständnis auffassen?

42 Wie Arnold Angenendt zeigt (Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000, 695 ff.), kam es zur räumlichen Ausmalung von Himmel und Hölle infolge des Eindringens schamanistischer Tendenzen ins frühmittelalterliche Christentum. Gregor der Große (gestorben 604) öffnete den Weg, indem er beschrieb, was Scheintote nach der Wiederkehr ins Leben vom Jenseits berichtet hätten. Danach entstand eine Literatur der Jenseitsreisen, die erst im 12. Jahrhundert ihren Höhepunkt und Abschluss fand, allem Anschein nach weil die Scholastik gegensteuerte. Von da an wurden "Visionen" als Traum oder als Poesie (Dante) vorgetragen, oder die Jenseitsreise wurde als zwar reales, aber nunmehr "mystisches" Erlebnis verinnerlicht. Die räumliche Vorstellung von Himmel und Hölle blieb allerdings weithin bestehen, die dinghaft-realistische Auffassung vom Höllenfeuer setzte sich sogar erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts durch (Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 22000, 166). Die Gebildeten beriefen sich nun auf Aristoteles und Ptolemäus: "Gott wohnte über der äußersten Himmelsschale, während die Engel und die Seligen in der vorletzten Himmelsschale hausten." Sogar Thomas von Aquin und noch Cusanus dachten so. Gleichzeitig gab es aber eine von Augustin, Boethius und Pseudo-Dionysius herrührende "Tendenz, diese Verräumlichung zu überwinden [...] und die Transzendenz immanent, d.h. auf die Welt bezogen, zu denken". (a.a.O., 102)

43 Paulus stellt diese Überlegung ausdrücklich an in Philipper 1, 23 ff.

44 Sehr gut wird das von Karl Rahner zum Ausdruck gebracht (Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 1984, 267): "Wer einmal eine sittlich gute Entscheidung auf Leben und Tod getroffen hat, radikal und unversüßt, so dass daraus absolut nichts für ihn herausspringt als die angenommene Güte dieser Entscheidung selbst, der hat darin schon jene Ewigkeit erfahren, die wir hier meinen" und die durchaus nicht "als ein zeitliches Weiterdauern 'hinter' unserem Leben sich hinzieht".

45 "Seine wie die aller anderen Menschen einmal geschehene Geschichte bedurfte keiner, auch keiner jenseitigen Ergänzungen und Fortsetzungen." (Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik IV/4, Zürich 1967, 27).

46 Damit soll keinesfalls gesagt sein, die Straflehre sei die jüdische Lehre statt der christlichen. Vielmehr entstammt auch die paulinische Rechtfertigungslehre der Hebräischen Bibel: "Schon in Jes[aja] 45 wird Gottes eigene Gerechtigkeit (V. 21) mit der Gerechtigkeit verknüpft, die er verleiht (V. 24 f.)" (Haacker [Note 15], 92), und der Straflehre wird nirgends klarer widersprochen als im Buch des Propheten Jona.

47 Vgl. Lukas 13, 6-9 mit Matthäus 21, 18-22.

48 Vgl. Lukas 19, 41 ff.

49 Matthäus 25, 31-46.

50 1. Thessalonicher 2, 16.

51 1. Thessalonicher 4, 15.

52 1. Thessalonicher 4, 16 f.

53 Römer 11, 25 ff.

54 Vgl. Conzelmann/Lindemann (Note 37), 285. Die Argumentationsstrategie des Römerbriefs kann mit D. A. Campbell so verstanden werden, dass Paulus an das Vergeltungsprinzip zunächst anknüpft, seine Konsequenzen zeigt und es dann ad absurdum führt (vgl. Haacker [Note 15], 59). Aber schon da, wo er sich in einem Vergeltungsdiskurs zu bewegen scheint, stellt er "Gottes Zorn" betont als irdische Gegenwart und Kehrseite der Sünde selber dar statt als endgültiges Gericht, das projizierend ans Ende der Welt verlegt werden müsste (vgl. Römer 1, 18 ff.; Römer 2, 9: "Drangsal und Angst auf jedes Menschenleben, das Übel bewirkt").

55 Jetzt soll den Mächten und den Vollmachten in den Himmelsregionen durch die Kirche kundgemacht werden die vielgestaltige Weisheit Gottes", heißt es in Epheser 3, 10; denn "indem wir die Wahrheit durch Liebe sagen, [sollen wir] das Allsamt auf ihn hinwachsen lassen, der da ist der Kopf: der Messias" (4, 15). "Denn für uns geht der Kampf [...] gegen die Weltgewalthaber dieser Finsternis, gegen die Geisterschaften der Bosheit in den Himmelsregionen. Darum greift zur Rüstung Gottes, auf dass ihr dagegenstehen könnt am bösen Tag [...]." (6, 12 f.)

56 Verkürzt auf die Frage der Erwartung des Endes der Welt wird diese Entwicklung auch von Conzelmann/Lindemann konstatiert ([Note 37], 572 f.).

57 Nicht für oder gegen den Römerbrief, sondern für oder gegen seine Argumentation. Augustin zum Beispiel stützte sich auf den Römerbrief, um dessen Argumentation ins Gegenteil zu verkehren: So entstand die berüchtigte Prädestinationslehre, der zufolge Gott die Menschen schon vor ihrer Geburt, also ein für allemal zu Erwählten oder zu Bösen macht (vgl. Kurt Flasch, Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, Die Gnadenlehre von 397, Mainz 1990). Aber wenn Paulus von Erwählung spricht, handelt es sich "um einen Zuspruch an Angefochtene [...]. Ihnen wird die Endgültigkeit der gnädigen Zuwendung Gottes zugesagt, während den noch nicht im Glauben Stehenden im Evangelium weiterhin eine Zukunft offengehalten wird, die das Unheilsgefälle ihrer bisherigen Existenz umkehrt." (Haacker [Note 15], 197)

58 Zumal die spätesten Texte Paulus nicht einfach in Vergessenheit geraten lassen, sondern direkt gegen ihn (oder seine Schüler) polemisieren: vgl. z.B. Friedrich Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefs. A Very Old Perspective on Paul, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 3/2001, 282-309.

59 Vgl. zum Folgenden Adalbert Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen Berlin Frankfurt 1960.

60 Vgl. Müller (Note 8), 248 f.

61 Wobei Johannes anders als Daniel mit dem "Tausendjährigen Reich", das von Augustin als Zeit der Kirche interpretiert wurde, eine Art Überleitung zum Gottesreich postuliert.

62 Vor allem deshalb, meine ich, spricht er vom "Tausendjährigen Reich" - das so traditionsmächtig geworden ist und das ich hier doch übergehe, denn die Tradition ist bekannt genug (vgl. die knappe Information bei Müller [Note 8], 341-343, ferner Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 167 ff.) -, weil er hervorheben will, dass diesem Reich eine nihilistische Zeit nicht nur vorausgeht, sondern auch folgt: "Und er [ein Engel] warf ihn [den Satanas] in den Abgrund, schloss ihn ab und versiegelte ihn obenauf, damit er nie mehr die Völker irreführe - bis die tausend Jahre am Ziel sind. Danach muss er gelöst werden - eine kleine Zeit." (Offenbarung 20, 3)

63 Vgl. Offenbarung 18, 21-24.

64 Das Tier, auf deren Rücken Rom sitzt (Offenbarung 17, 3) - Militärmacht als Basis des Reichtums -, wird Rom "hassen", "öd machen und nackt" (17, 16). Damit mag auf die Nero-Sage angespielt sein, wonach dieser Kaiser, der durch Selbstmord endete, an der Spitze von Partherheeren nach Rom zurückkehren und es zerstören werde (Müller [Note 8], 296 f.). Es steckt aber eine allgemeinere Aussage darin, eben dass das in 18, 21-24 geschilderte, schon nicht mehr sinnvolle, aber noch reiche Metropolen-Leben so oder so auf "nackte" Militärzustände reduziert werden muss.

65 Vgl. Johannes 2, 19-21. Der Evangelist Johannes ist nicht mit dem Verfasser der Johannes-Offenbarung identisch.

66 Der Römerbrief wurde immerhin zur Zeit Neros verfasst, dessen Christenverfolgung Paulus doch sicher nicht als Werk einer "Dienerin Gottes zum Zorngericht am Übeltäter" (Römer 13, 4) ansah oder angesehen hätte. Man kann gewiss nicht bestreiten, dass Paulus, der römische Bürger, bei seinem Lob der Obrigkeit die vorhandene im Auge hatte - aber das war ja keine orientalische Despotie, sondern eine, die sich auf Recht und Gesetz berief! "Es ist die Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt, die im Argen liegt, nicht unbedingt auch das theoretische Ethos" (Haacker [Note 15], 267). Dieser Zwiespalt kommt auch in der Pilatus-Geschichte zum Ausdruck: Der römische Statthalter hat rechtliche Mittel, die Unschuld Jesu festzustellen, und erweist sich als ausgebildet, auf sie zurückzugreifen, aber er denkt gar nicht daran, das auch zu tun. Luther will denselben Zwiespalt betonen, wenn er schreibt: "Also bleibt denn immer das Schwert und Oberkeit in der Welt; aber die Personen, so in der Oberkeit sitzen, müssen sich immer überpurzeln und taumeln, darnach sie verdienen." (zitiert nach Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 1, Tübingen 31987, 330) Kurzum, man sollte Römer 13 "nicht allzu schnell im Rahmen einer modernen Imperialismuskritik anprangern; denn faktisch ist das römische Recht wohl der wichtigster bis heute wirksame Beitrag der Römer zur Kulturgeschichte" (Haacker, [Note 15], 269). Wobei natürlich über Luther hinaus zu bedenken ist, dass nicht nur die Personen "immer taumeln", sondern auch die Regelwerke, denen sie dienen - dass Römer 13 also nicht gegen eine graduelle oder grundlegende Veränderung der Bestimmtheit des Rechts einer Epoche spricht.

67 Vgl. Klempt (Note 59), 28, 30, 32.

68 Auch für die Tempelsteuer war nur der tyrische Silberhalbschekel zulässig, der Herkules und Zeus zeigte. Die Tempelverwaltung ließ diese hochwertigen Münzen in solche mit geringerem Silberfeingehalt umtauschen, wozu sie "Geldwechsler anstellte, mit denen sich dann Jesus anlegte". (Füssel [Note 23], 80)

69 Dass Judäa den Nihilismus früher zu spüren kam und eben dies die Situation war, in die Jesus intervenierte, hebt Karl Barth hervor: Die von Jesus ausgetriebenen "Dämonen" stehen "im Dienste eines ganzen Reiches der Störung und Zerstörung"; dies ist "eine spezifisch spätjüdische Anschauung, gehört also zu den Merkmalen der Schlussetappe der Geschichte Israels. [...] Wir befinden uns in einem ganz besonderen Wirklichkeitsbereich, in der Zeit eines in seinem geistlichen Charakter einzigartigen Ausgangs, der alle Kennzeichen eines ebenso einzigartigen Übergangs ins Leere hatte. [...] Hier, in diesem geistlich-geschichtlichen Vakuum [...] sah und erfuhr man ganz real [...] die fatale Wirklichkeit des Gegenspielers, den Abgrund, die Finsternis", die "Herrschaft des Nichtigen über den Menschen". "Es war nicht umsonst der Jude - wo sonst als in seiner Welt gab es denn das geistliche Vakuum, in welchem er existierte? - der hier tiefer sah als alle anderen [...]. Natürlich nicht auf den jüdischen Bereich beschränkt, hier nur eben offenbar als das, was sie immer und überall waren und sind!" (Die kirchliche Dogmatik IV/2, Zollikon-Zürich 1955, 253 f.; vgl. auch Note 16)

70 Das war ein Sieg der Kirche auch im theologisch reflektierten Sinn, obwohl die reale historische Logik dagegen zu sprechen scheint. Sicher sollte die Kirche zunächst nur der Militärmacht als Lückenbüßer dienen. Das diokletianische Steuersystem blieb bestehen; es musste durch Werte gerechtfertigt werden, und die Kirche hatte sie zu liefern (vgl. Peter Brown, Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem "christlichen Imperium", München 1995). Sie realisiert genau die Funktion, die Augustus noch selbsttätig ohne Hilfe eines herausdifferenzierten ideologischen Apparats bewältigen konnte: Augustus wurde von Vergil verherrlicht, seine Epigonen lassen sich nun vom Neuen Testament legitimieren. Aber die Kirche ist doch nicht ganz so machtlos wie Vergil. Sie ist eine große Institution und gilt von Anfang an als Gegenüber des Kaisers. Schon im Jahr 390 kann Ambrosius, der Bischof von Mailand, es sich leisten, den Kaiser Theodosius zu exkommunizieren. Der hatte die Ermordung Tausender von Bürgern Thessalonichs angeordnet als Rache für die Tötung eines Armeekommandanten barbarischer Herkunft. Ambrosius verlangte und erreichte, "dass der Kaiser sich einem öffentlichen Bußakt unterzog, ehe er ihn wieder zur Kommunion zuließ" (Henry Chadwick, Die Kirche in der antiken Welt, Berlin New York 1972, 193 f.). Es wird ein Tag kommen, an dem das Papsttum sich vom Kaiser lossagt, sich selbst einen anderen Kaiser besorgt - den fränkischen König - und dann peu à peu immer eigenmächtiger agiert.

71 Markus 13, 11.

72 Apostelgeschichte 16, 27 ff.

73 Apostelgeschichte 8, 1.

74 Ein Indiz dafür, dass insofern eine Kommunikation zwischen Stefanus und Paulus stattgefunden hat, ist der Umstand, dass nur diese beiden im Neuen Testament die aus der Hebräischen Bibel stammende Rede von der "Beschneidung des Herzens" tradieren (Haacker, [Note 15], 73). Als Paulus in sein Damaskus-Erlebnis geriet, "war seine Nicht-Erkenntnis [...] keine absolute, sondern, indem sie noch total vorherrschte, schon begrenzt durch die ihm schon nahegelegte, schon darauf, dass er sie selbst vollziehe, wartende Erkenntnis" (Barth, Die kirchliche Dogmatik IV/3, Zürich 1959, 229).

75 Beginnend mit Apostelgeschichte 21, 40. In seiner Hingabe ans Predigen unterscheidet sich Paulus vorteilhaft nicht nur von Johannes dem Apokalyptiker, sondern auch von Johannes dem Evangelisten: Dies nicht gewürdigt zu haben, war die Schwäche der Theologie Rudolf Bultmanns trotz ihres Versuchs, Eschatologie nicht als Weltende zu buchstabieren, sondern in die Gegenwart zu holen - eines erhellenden Versuchs, von dem ich gelernt habe. Bultmann meint, "das Vermögen des Paulus zum abstrakten Denken" sei "nicht entwickelt" und das sei der Grund, weshalb er an die Mythen vom Weltende angeknüpft habe (Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 199). Den Schritt zur präsentischen Eschatologie habe zwar schon er getan (275), doch sei Johannes der Evangelist radikaler und konsequenter gewesen. Das soll deshalb so sein, weil das Theologem vom Weltende bei Johannes vollkommen getilgt ist. Johannes verstehe Gericht als "Scheidung", Entscheidung, und diese finde radikal in der Gegenwart statt: "Der Glaubende wird nicht gerichtet, der Unglaube aber bleibt in der Finsternis" (390, vgl. auch 432). In der Tat. So radikal gegenwärtig ist diese Scheidung, dass sie zur Endgültigkeit der Bestrafung derer führt, die sich falsch "entscheiden". Und so eschatologisch bleibt trotzdem die Eschatologie, dass der Glaube "als [...] Entscheidung gegen die Welt [...] Entweltlichung" sein soll (430). Nun zeichnet Johannes allerdings einen weltlosen Jesus, der gewollt unverständlich redet (Johannes 6, 51 ff.) und dann diejenigen sammelt, die trotzdem, weil sie nur seine "Stimme hören", sich als die Seinen erahnen (18, 37 f.). Aber ist das nicht eine gnostische Konzeption? Gerade weil Paulus so weltlos nicht war, hielt er das Theologem vom Weltende aufrecht: Er wahrte das Interesse am Geschichtsverlauf und damit die Chance, andere noch zu ändern. Nicht nur predigen, sondern verständlich predigen war eins seiner Hauptthemen (1. Korinther 14), denn damit, dass "der Unglaube in der Finsternis bleibt", fand er sich eben nicht ab.

76 Matthäus 16, 19. Dasselbe sagt Paulus auf seine Art in Römer 8, 19-21: "Denn: Das sehnende Verlangen der Schöpfung wartet auf die Enthüllung der Söhne Gottes", d.h. darauf, dass sie öffentlich in Erscheinung treten (Haacker [Note 15], 163). "Denn: Der Nichtigkeit ward die Schöpfung unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin. Deshalb wird auch sie - die Schöpfung - freigelassen aus der Knechtschaft des Verderbens, um zur Freiheit der Kinder-Gottes-Herrlichkeit zu gelangen." Wenn Paulus der Schöpfung die Gotteskindschaft verheißen kann, hat er sicher keine neuzeitlich-pure "Natur" im Auge, sondern eine menschliche Welt - die römische Welt.

77 So auch Barth (Note 74), 987 f.

78 Die Passionsberichte der Evangelisten können geradezu als Anleitung gelesen werden, wie sich die Kirche in "Endzeiten" verhalten soll: Selbst wenn sie stirbt, wird doch ihr Wort bleiben und dieses wird ihren Leib auferstehen lassen. Die "Auferstehung Jesu" meint nichts anderes. Wenn Jesus das Wort Gottes "inkarniert", konnte doch nur die Auferstehung dieses Inkarnierten von Interesse sein und nicht die Auferstehung seiner Haut, seines Atems, seiner Sprache, seiner Art zu formulieren. "Wenn die Erscheinungstraditionen der Evangelien den Auferstandenen in einer individuellen Leiblichkeit auftreten lassen, so liegt darin eine Einseitigkeit, die der Korrektur durch den paulinischen Gedanken der Kirche als des Leibes Christi bedarf." (Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, 676) Paulus schreibt zwar selber, der Messias habe sich den zwölf Jüngern, 500 weiteren Personen und zuletzt auch ihm "zu schauen gegeben" (1. Korinther 15, 5-8), aber da er Jesus nie zuvor gesehen hatte, wird die "Schau" - seine und die der anderen - kaum dinglich zu verstehen sein.

79 1. Timotheus 6, 13.

80 Siehe Note 74.

81 Der Zusammenhang der Geschichte könnte "darin bestehen, dass das geschichtliche Scheitern eines jeden dieser Modelle [von Erhaltungsordnung im oben angegebenen Sinn] Ausgangspunkt für das jeweils folgende wäre", schreibt Pannenberg ([Note 78], 545).

82 Damit die Kirche hegemonial wirken kann, ist neben ihrer Hörbarkeit auch ihre Sichtbarkeit von Bedeutung, wobei es nicht allein um die Sichtbarkeit der vorbildlichen Lebensführung einzelner Christen gehen kann. Deshalb sollte man es nicht als eine Fehlentwicklung ansehen, dass aus der neutestamentlichen "Volksversammlung", ekklesia, seit Konstantin die Kirche geworden ist: kyriakon, das "zum Herrn [Jesus Christus] gehörige" Haus. Das Wort ist nicht biblisch, sondern breitet sich erst infolge der konstantinischen Bautätigkeit aus, bringt aber das biblisch geforderte öffentlichkeitswirksame Sichzeigen gut zum Ausdruck. Ekklesia und Kyriakon stehen für einen Entwicklungszusammenhang: "Wenn sich [...] die Christen in hellenistischer Umwelt ekklesia nannten, so musste der Verzicht auf die gängigen Bezeichnungen eines Kultvereins und die Ersetzung durch einen politisch klingenden Terminus auffallen." (Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 3, Tübingen 31993, 336) Die christliche Basilika, die seit Konstantin gebaut wurde, war dann "eine 'Gottesstadt', die sich scharf von der antiken Stadt unterschied" (Peter Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München Wien 1991, 454).

83 Die heutige Theologie ist sich weithin einig, dass "der Begriff des Gottesvolks [...] keinen Plural [duldet]: Der Vielfalt der Völker steht das eine Volk des einen Gottes gegenüber", das also Judentum und Kirche umfasst. In der Tat ist von einem "neuen" Gottesvolk im Neuen Testament nirgends die Rede. (Pannenberg [Note 78], 508 f.) Man muss sagen, dass diese Einsicht recht neu ist und sich keineswegs schon in den wichtigsten kirchlichen Dokumenten niedergeschlagen hat. So begnügt sich Nostra aetate, die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, mit einem absurden Formelkompromiss: "Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen [...] darstellen [...]." (vgl. Karl Rahner, Herbert Vorgrimmler [Hrsg.], Kleines Konzilskompendium, Freiburg i. Br. 21966,358 f.) Ich nehme das Problem im zweiten Teil des Essays wieder auf. Abzulehnen ist die Erfindung, "Volk Gottes" meine "das Volk der Armen und Unterdrückten [...] sowie das Volk der Laien im Gegensatz zur kirchlichen Hierarchie" (Peter Penner, Befreiung, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 2 [Hrsg. Wolfgang Fritz Haug], Hamburg 1995, Sp. 136-144, hier 139).

84 Für Reinhart Kosellek gibt es eine Vorstellung von kontinuierlicher Geschichte, einen einheitlichen Geschichtsbegriff erst seit der Philosophie der Aufklärung; vorher habe es nur "Geschichten" gegeben, es seien nur exempla aus der Vergangenheit zur gegenwärtigen Nutzanwendung gezogen worden (vgl. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979). Mir scheint das nicht plausibel zu sein. Einen einheitlichen Geschichtsbegriff gibt es doch überall dort, wo man einen Anfang und ein Ende der Welt postuliert (oder beides zu einem Kreislauf der Welt zusammenfallen lässt), also in jeder bekannten Kultur. Nur die Namen, die man der Geschichte gibt, und die Diskurse, in denen man sie denkt, unterscheiden sich. Wenn z.B. Melanchthon exempla bemüht, dann nicht als isolierte Punkte, sondern als Elemente in der Erhaltungsordnung der "vier Monarchien", als die sich ihm die profane Geschichte darstellt (Belege bei Klempt, [Note 59]). Was Kosellek für den einzigen einheitlichen Geschichtsbegriff hält, ist nur dessen Umformulierung im Aufklärungs-Diskurs.

85 Nur so viel zur Illustration: In einem Verwandtschaftsdiskurs mag man es als Fortschritt ansehen, wenn eine Familie sich irgendwo einheiratet, in einem staatlichen, wenn eine Armee irgendwo einmarschiert, in einem naturwissenschaftlichen, wenn eine Gleichungskette irgendwelche neuen Objekte sich einverleibt. Es ist klar, dass dies in diesen Diskursen immerzu versucht wird - jedesmal auch im übertragenden Sinn, denn es gibt z.B. auch einmarschierende Gedanken-Armeen -, die nacheinander gewirkt haben und heute gleichzeitig wirken.

86 Ähnlich Max Weber, vgl. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 3, 81988, besonders 350.

87 Vgl. Exodus 22, 28 f. mit 34, 19 f.; Ezechiel 20, 25 f.

88 Dass Lebende von Gott nur den Rücken sehen, nachdem er vorübergegangen, ist die elementare geschichtstheologische Aussage (vgl. Exodus 33, 18-23). Der Rücken wird nicht von allen bemerkt, denn für viele ist das Vorübergehen gleichbedeutend mit dem Verschwinden - aber der Dornbusch verbrennt nicht (vgl. Exodus 3, 2).

89 In der Johannes-Offenbarung wird Geschichtsunterbrechung als "Drachensturz" gedacht: Die Sinnhegemonie einer geschichtlichen Kraft ist gebrochen, weshalb sie "vom Himmel fällt", eben deshalb aber ihre sinnlos gewordene Macht auf Erden entfalten kann. Sie wütet fürchterlich, gerade weil sie verloren hat und ihr also "nur noch wenig Zeit bleibt" und sie das selber weiß. (Vgl. 12, 7 ff.) Geschichtsunterbrechung ist hier diese auslaufende Zeit des Drachen, in der die Kirche, wie wir sahen, nur "ausharren" soll, nämlich auf der Sieger-Seite. Der Sieg ist ja schon erreicht, was kann noch mehr geschehen? Er hat sich nur noch nicht allen "offenbart"! Damit ist aber ganz ausdrücklich gesagt, dass eine Geschichtsunterbrechung nur scheinbar eingetreten ist. Sie kann im Diskurs der Johannes-Offenbarung nicht als realer Sachverhalt behauptet werden. Dieser Diskurs geht nicht fragend und antwortend, sondern subsumierend vor, er denkt sich wie den Staat so auch die Geschichte als Zusammenhang von Befehl, Gehorsam und Ungehorsam. Schon dass der Drache überhaupt im Himmel war, kann nur eine Art Täuschung gewesen sein, die in diesem Fall von Gott selbst, der hier nicht als der widersprechend Antwortende, sondern als der absolute Befehlshaber gedacht wird, zu irgendeinem wohltätigen und zugleich geheimnisvollen Zweck ausgeübt wurde.

90 Vgl. Verf., Die Regeln der Entdeckung (Argument-Sonderband 137), Berlin 1985, 68 ff.

91 Dass die Erhaltungsordnung als Erhaltungsordnung immer verlogen ist, ist ihre "strukturelle Sünde", die zunächst verborgen bleibt. Ihre Aufdeckung zeigt an, dass die Fragestellung der Erhaltungsordnung unbeantwortbar geworden ist.

92 Geschichtsunterbrechung ist also keine "Zwischenzeit" im Goetheschen Sinn - "Zeit, welche der Same unter der Erde zubringt" (Werke Bd. 14 [Hamburger Ausgabe], München 1998, 47) -, und falls Marx' Annahme richtig sein sollte, dass "neue höhere Produktionsverhältnisse [...] nie an die Stelle [treten], bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind" (MEW 13, 9), so führt doch gar kein Aspekt der Geschichtsunterbrechung, außer ihrem Ende, von den "Bedingungen" des Neuen zu diesem selbst. Besonders wenn man die Unterbrechung nicht einmal bemerkt, sondern nur den "Samen" bemerkt, muss aus ihr eine Sackgasse werden.

93 Deshalb ist die Geschichtsunterbrechung auch kein "Ausnahmefall", denn das würde implizieren, dass die Regel, also der bis dato gegebene Sinnkontext, danach wieder gelten könnte. Es kann nicht die Rede sein von einem "Fall äußerster [...] Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen", wie Carl Schmitt wollte, weil er glaubte, es könne besonders entschlossene Staatsmänner geben, die der "Gefährdung" dann standhalten. Wenn das so wäre, wäre die Geschichte ja gar nicht unterbrochen. Typisch für Geschichtsunterbrechungen sind gerade solche Männer wie Hitler oder Diokletian, die behaupten, sie könnten "die Ordnung" aufrechterhalten, und deren wahres Werk Folter, Vernichtung und Zersetzung sind - oder um mit Schmitt selbst zu sprechen: die "außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung stehen" (Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922], Berlin (5) 1990, 12 f.).

 

 

Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 6/03, Dezember 2003.