Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie
Die großen Geschichtserzählungen der Moderne – ob die
wachstums- und fortschrittsorientierten der westlichen Zivilisation, ob die
marxistische Teleologie – gehen hervor aus der theologischen Vorstellung von
Heilsgeschichte. Haben sie sich davon je gelöst? Die Annahme, schwarze Zeiten
seien Vergangenheit und Säkularisierung eine Tatsache, hält unser Autor für
falsch. Der 11. September 2001 war dafür ein Zeichen. In der Auseinandersetzung
mit der Geschichtstheologie kann die neutestamentarische als Ereignisgeschichte
gelesen werden, die uns nicht fremd ist. Sie führt über den Weg der Kirche,
über Nihilismus und »Endzeit«, über Rom. Unser Autor liest sie als Abwendung
vom »strafenden Gott«,als Möglichkeit zur Aufkündigung der Heilsgeschichte.
(Teil 1)
Geschichtsunterbrechung ist also möglich, aber nicht als »Ende der Geschichte«
oder als »Finale«, wie im vertrauten marxistischen Geschichtsbild. Abkehr von
Erlösung und Unendlichkeit, das Annehmen der Krise, Einsicht in den Tod, wären
die Voraussetzung, den Fluchtversuch des Forschreitens mit Todesangst und
Verelendungsangst zu unterbrechen. Die Kirche, so Michael Jäger, hätte die
Chance, jene Seite ihrer Geschichte zu beleben, die sich auf die Seite der
Elenden stellt. Dazu müsste sie den Kapitalismus kritisieren, den Hochmut des
»unendlichen Gottes« und die Übersteigerung des Endes ablegen und zu einem
Kommunikationsprozess mit ungewissem Verlauf in der Lage sein. (Teil 2)
Der zweite Teil des Essays folgt in der nächsten Ausgabe.
In einem kürzlich erschienenen Aufsatz mit dem Titel Geschichtsbilder: Zeitdeutung und
Zukunftsperspektive(1) wird ein Problem benannt, das vielen Menschen seit
dem 11. September 2001 bewusst geworden ist: Sie wissen nicht mehr, in welcher
Geschichte sie gelebt haben werden. Keineswegs lässt sich das Problem mit dem
Hinweis diskreditieren, es sei nur Ausdruck vormoderner Sinnsuche, könne daher
von aufgeklärten Menschen ignoriert werden; ein solcher Hinweis widerspricht
sich selbst, da er seinerseits nicht umhin kann, sich in Geschichtsbildern zu
artikulieren, dem der "Moderne" und dem der "Aufklärung".
Das Wort "Sinnsuche" mag zwar als diskursiver Totschläger
funktionieren, ähnlich wie man sich nicht gescheut hat, gegen sogenannte
"Bedenkenträger" zu polemisieren. Aber das sind Dummheiten, die kaum
der Widerlegung bedürfen. Wer schlechthin gegen Bedenken wäre, wäre ja
potentiell ein Mörder, und wer keinen Sinn suchte, obwohl er Sätze spricht und
hört, die immer einen haben, wäre geistesgestört. Die Frage nach dem Sinn der
Geschichte ist gar nicht zu umgehen, schon weil jeder und jede sich, um nicht
zu verzweifeln, ein Bild vom eigenen Lebenslauf zurechtlegen muss. Niemand kann
das in der Illusion tun, sich total unter Kontrolle zu haben, denn ein Leben
gelingt oder scheitert nur vor dem Hintergrund des Historischen, in das es sich
jedenfalls unkontrolliert einzufügen hat. Es muss daher die Fähigkeit für alle erwünscht
sein, sich von diesem Hintergrund ein Bild zu machen.(2)
Ein naheliegender, wenn auch gern verdrängter Gedanke sagt
mir, dass ich in einer Geschichte bin, in der es Überlebende gibt, und dass ich
zu ihnen gehöre. Jeden Tag sterben 26.000 Menschen an den Folgen von Hunger,
während ich, weit entfernt, hungrig zu sein, eher noch an den Folgen von
Übergewicht erkranken könnte. Ich esse zum Beispiel Rindfleisch. Für solche wie
mich wurde das "Imperium der Rinder" geschaffen, in dem weltweit auf
zwei Menschen ein Rind kommt, was viele schlimme Folgen hat, darunter die, dass
auf riesigen Ackerflächen der armen Erdteile das Getreide nicht als
Nahrungsmittel für Menschen genutzt wird, sondern als Rinderfutter. Wenn Jeremy
Rifkin hier "eine neue Seite des Bösen" aufgeschlagen sieht,
"das in dieser Form vielleicht schwerwiegendere und langfristigere Folgen
haben wird als alle Gewalt, die in der Vergangenheit von Menschen gegen
Menschen ausgeübt worden ist",(3) hat er damit nicht ein Geschichtsbild
artikuliert? Geschichte, könnten wir verallgemeinern, ist Gewalt gegen
Menschen, bei der es jederzeit Stärkere und Schwächere gibt, die sich aber
insofern verändert, als die Formen ihrer Ausübung raffinierter werden. Aber das
wäre der nackte Sozialdarwinismus - ein solches Geschichtsverständnis zu
erwerben oder auch nur zu implizieren würde bedeuten, dass wir uns,
eingestanden oder nicht, in Nazis zurückverwandelten.
Der eingangs erwähnte Aufsatz hält es stattdessen mit der
Moderne und der Aufklärung und ruft die damit verbundenen Geschichtsbilder, die
bis vor kurzem gängig waren oder es immer noch sind, in Erinnerung. Bilder des
"Fortschritts". Man sieht leicht, dass sie nicht mehr weiterführen,
auch wenn der Autor, Karl-Ernst Jeismann, es nicht wahrhaben will. Bis in die
siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte es die Futurologie gegeben, in
der sich Fortschrittsglaube geradezu in Fortschrittswissenschaft meinte
verwandeln zu können. Jeismann erwähnt nicht, dass zu diesem Zeitpunkt der
Optimismus in Pessimismus umschlug - dass ein Futurologe wie Robert Jungk
Ökologe wurde. Nach 1990 kam erst einmal das Geschichtsbild vom "Ende der
Geschichte" auf. Jeismann arbeitet heraus, dass zutreffender von dem
Versuch zu reden wäre, durch ein Geschichtsbild das Denken in Geschichtsbildern
zu beenden.(4) Danach ist es zur Restauration der älteren Geschichtsbilder
gekommen. So wird von den "Erben des Aufklärungs- und
Fortschrittskonzepts" die "Geltung des Projekts der 'Moderne' als
Vision einer besseren Welt" aufrechterhalten: "Die ökonomische und
technische Globalisierung", sagen sie, "kann als ein mit Gefahren
verbundener Schritt, aber doch als ein Fortschritt und ein Versprechen
erscheinen, das auf die Humanisierung der sozialen Verhältnisse und die
politische Emanzipation auf dem Erdball weist."(5)
Das klingt gut, wird aber durch den Umstand widerlegt, dass
auch die Feinde der Aufklärung wie Mohammed Atta und seine Spießgesellen sich
die "technische Globalisierung" zunutze machen können und dass ihre
Mordtat in ungerechten Strukturen der
"ökonomischen Globalisierung" einen Nährboden fand. Praktisch alle
maßgeblichen Politiker des Westens haben es eingeräumt. Da scheint das
Geschichtsbild vom "Kampf der Kulturen" schon realistischer, eben
weil in ihm berücksichtigt ist, dass die Gegner der westlichen Zivilisation
"sich unter Aneignung der wertneutralen wissenschaftlichen und technischen
Möglichkeiten des Westens [formieren]".(6) Damit wird aber auch das
Problem deutlich, das in allen
referierten Geschichtsbildern ungelöst bleibt. Was sie nämlich vom heutigen
Stand der Geschichte wahrnehmen, lässt gerade nicht erkennen, dass diese
"fortschreitet". Heutige Geschichtsbilder lassen sich nach dem
Kriterium klassifizieren, bis zu welchem Grad von Offenheit sie das zugeben.(7)
Aber es gibt ein weiteres Geschichtsbild, das bei Jeismann
fehlt, das marxistische. Natürlich kann man sagen, es sei seit 1990 überholt.
Wir gehen aber dem Lied vom "Ende der Geschichte" auf den Leim, wenn
uns das "Überholtsein des Marxismus" nicht zum Anlass der Frage wird,
welche Erfahrung wir mit diesem gemacht haben. Springt es nicht in die Augen,
dass das marxistische Geschichtsbild, so sehr es widerlegt wurde, den
referierten heute gängigen Geschichtsbildern dennoch hoch überlegen ist? Aus
dem einfachen Grund, dass es sie in sich enthält, aber sich von einigen
Blindstellen, die sie offenkundig haben, nicht ins Bockshorn jagen lässt. Auch
die Marxisten haben gewusst, dass historischer Fortschritt, wenn es ihn
überhaupt gibt, sich nicht ohne den Blick auf die ökonomische und technische
Entwicklung buchstabieren lässt. Sie sind sogar der Urheber dieses Gedankens.
Nur haben sie sich nicht begnügt, die Herstellung des Weltmarkts vage als einen
"mit Gefahren verbundenen Schritt" zu bezeichnen. Auch das marxistische
Geschichtsbild ist gescheitert - aber ist es nicht immer noch das einzige, mit
dem sich überhaupt eine Auseinandersetzung lohnt?
Nein. Denn ein noch tieferer Keller verbirgt eine noch
wichtigere Leiche. Weder das bürgerliche noch das marxistische Geschichtsbild
sind verständlich ohne ihren Hervorgang aus der theologischen Vorstellung von
Heilsgeschichte. Wenn deren beide Abkömmlinge gescheitert sind, drängen sich
Fragen auf wie die, ob sie sich etwa von ihrem Quell zu wenig radikal gelöst
haben. Das theologische Geschichtsbild muss dann selbst noch einmal auf den
Prüfstand. Hier stoßen wir aber auf eine kaum beachtete Ursache des mutlos
machenden Scheins, das Denken in Geschichtsbildern führe ohnehin nicht mehr
weiter. Will man nämlich schon mit dem Marxismus keine Erfahrung gemacht haben,
die sich in Urteilssätzen formulieren ließe, dann erst recht nicht mit der als
abseitig geltenden, zudem weithin unbekannten Geschichtstheologie. Wie jemand,
der in eine Sackgasse gelaufen ist und nicht umkehren will, versperrt man sich
zugleich mit dem Rückweg das Vorankommen. Doch eben weil Geschichtstheologie
unbekannt ist, soll sie hier erörtert werden.
Es wird sich herausstellen, dass nicht "die
Geschichtstheologie", sondern ihre mittelalterliche Version der Quell ist,
dem das bürgerliche Geschichtsbild in der Tat zu sehr verhaftet war, während es
im Marxismus zwei Geschichtsbilder gibt, von denen eines, und zwar das
originäre, dem neutestamentlichen Geschichtsbild immer noch näher steht als dem
mittelalterlichen. Im übrigen gibt es auch heute noch Geschichtstheologie, und
sie hat mit der mittelalterlichen nichts mehr gemein. Ich wage im voraus die
Behauptung, dass Geschichtstheologie - nicht die mittelalterliche, aber die
neutestamentliche und auch die heutige - zur Erklärung der realen Geschichte
nicht weniger taugt als das marxistische Geschichtsbild. Auch dieses hat
nämlich blinde Flecke, und sie können geschichtstheologisch erhellt werden. Vom
Marxismus wird erst im zweiten Teil dieses Essays die Rede sein. Er steht hier
einmal nicht im Vordergrund. Denn wer ihn erneuern will, ist gut beraten, sich
zuvor mit der geschichtstheologischen Problematik vertraut zu machen.
Im zweiten Teil soll reale Geschichte erörtert werden,
Geschichte der realen Kommunikation von Kirche und Kirchenumwelt. Der Marxismus
interessiert als Kommunikationsereignis in diesem Kontext; zu zeigen ist, dass
er faktisch versucht hat, die "kirchliche Funktion" - das, was eine
Kirche täte, die ihrem Begriff entspräche - besser zu realisieren als sie
selber, und dass der Versuch scheitern musste. Das wird freilich nur die
Einleitung sein zu dem Erweis, dass auch die Kirche ihrem Begriff noch immer
nicht entspricht, wenngleich ihre Geschichtsmächtigkeit viel größer ist, als
man wahrhaben möchte. Im ersten Teil geht es nur um die "kirchliche
Funktion" als solche. Sie ist bestimmt nicht der letzte, aber doch der
elementare geschichtstheologische Gegenstand. Von der Geschichtstheologie würde
ich nicht sagen, sie habe blinde Flecke, wohl aber, dass in ihrem Innersten
eine Konfusion waltet. Geschichtstheologie ist nur so zu haben, dass man sich
mit ihrer Grundlagenkrise befasst. Von der ist jetzt zunächst die Rede.
Die Endzeit
1
Beim theologischen Geschichtsbild unterscheide ich zwischen
neutestamentlichen, mittelalterlichen und heute zeitgenössischen Versionen.
Zuerst gehört den neutestamentlichen unsere Aufmerksamkeit. Das Neue Testament
ist schon dadurch ein geschichtstheologisches Buch, dass es sich und den, den
es verkündet, als historisch bestimmtes Ereignis darstellt.
Realgeschichte ist überall präsent, am deutlichsten in der
Johannes-Offenbarung, die auf Züge des römischen Kaiserkults, den drohenden
Einfall der Parther, die zeitgenössische Nero-Sage und anderes anspielt und all
dem eine theologische Interpretation gibt.(8) Aber hier ist schon die
Christengemeinde unterstellt, die vom Verfasser auf bevorstehende Verfolgungen
eingestimmt wird. Wir müssen uns an die ältesten Texte halten. In den
paulinischen Briefen lesen wir, dass schon Jesus, der Gemeindegründer, jemand
war, der auf Umstände reagierte. Seine Botschaft, für die er mit dem Leben
einstand, hatte einen zeitlichen Indikator: "Denn als wir noch schwach
waren - zu der Zeit ist der Messias für Gottlose gestorben."(9) Oder mehr
theologisch gesprochen: "Als aber die Fülle der Zeit gekommen, entsandte
Gott seinen Sohn."(10) Die Zeit war
gekommen, als die Menschen schwach waren. So rekurriert Jesus auf einen
historischen Bezugspunkt nicht anders als Mose, dem es sich einst offenbarte,
dass der Gott der Väter die "laute Klage" Israels über seine
ägyptischen "Antreiber" gehört hat und nicht länger dulden will.(11)
Nun wäre es zu kurz gegriffen, in der "Schwäche",
der Jesus begegnet, nur das Ausgeliefertsein der Menschen an neue, diesmal
römische statt ägyptische "Antreiber" zu sehen. Sicher gehört das
dazu. Sicher muss man zunächst das Gemeinsame hervorheben. Gerade dann sehen
wir ja, dass die Schwäche schon in Ägypten nicht nur im Ausgebeutetwerden
bestand, sondern auch in der geistigen Verzweiflung, die sich darin ausdrückt,
dass die Menschen vom Gott der Väter nichts mehr wissen. Sie werden nicht nur
abstrakt ausgebeutet, sondern ihre Pein hat einen Inhalt: Während der Pharao,
dem sie Städte bauen müssen, seinen Totenkult hat, ist es ihnen selbst nicht
möglich, den Väter-Gott zu verehren, und auch in ihren Kindern sollen sie nicht
fortleben dürfen.(12) Sie werden also quasi bei lebendigem Leib vernichtet,
sind in einer nihilistischen Situation.
Bei Paulus geht es ebenfalls um den "Stachel des Todes" und eine eigentlich
ganz analoge Verzweiflung. Die Menschen sehen sich zum "Sündigen"
gezwungen,(13) verlieren dadurch Gott und ewiges Leben. Dafür übernehmen die
Todesangst und ihre Kultur der Rücksichtslosigkeit das Kommando.(14) Die den
Zwang ausüben, sind die Römer. Paulus sagt das nicht offen, aber er weiß es und
seine Leser wissen es auch.(15) Die Römer "führen Krieg" im Herzen
auch der Juden;(16) sie stellen eine Situation her, in der keiner, auch der
Frömmste nicht, zu gerechten Werken imstande ist, ja auch nur am
"Tempelraub" vorbeikommt.(17) Auch diese Situation ist eine
nihilistische.
Der Nihilismus ist also wiedergekehrt
- und so kommt es nicht von ungefähr, dass Paulus trotz des Zeitbezugs, der auf
die Römer verweist, ganz allgemein von der
Todesangst schreiben und sie geradezu als das
anthropologische Problem auszeichnen kann, was im Bericht über die
Israeliten in Ägypten noch nicht geschieht.(18) Das Problem der Todesangst
besteht darin, dass es zum unsinnigen Töten und Schädigen anderer führt - zur
"Sünde" -, als ob der Tod auf diese Anderen abgewälzt werden könnte.
Nicht jederzeit, aber immer wieder sorgt es für nihilistische Zustände, in
denen das Töten und Schädigen überhandnimmt. Aus der Betroffenen-Perspektive
stellt es sich so dar, dass die Todesangst in nihilistischen Zuständen als das
anthropologische Problem erkannt werden kann.(19) Die möglich werdende
Erkenntnis hat freilich ihre eigene Zeit. Paulus nimmt offenbar an, es habe
erst einer Kumulation einschlägiger Geschichts-Ereignisse und daraus destillierter
Erfahrungen bedurft, bis die Menschen unter dem anthropologischen Problem nicht
nur litten, sondern es auch als solches identifizieren konnten. Weshalb das
gerade in der römischen Zeit geschehen sein soll, bleibt zu klären. Aber man
sieht ein, dass Jesus, gesetzt, er ist der Problemlöser, nicht vor der
Problemidentifikation auftreten konnte.
Diese Identifikation konnte nach der paulinischen Lehre nur
den Juden gelingen, weil nur ihnen - das war Gottes Antwort auf die ägyptische
nihilistische Situation gewesen - das Gesetz gegeben war.(20) Das Gesetz nicht
zu erfüllen, darin bestand seitdem die Gottlosigkeit. Paulus wollte gewiß nicht
behaupten, es sei jederzeit unerfüllbar gewesen.(21) Er wusste ja, ein
Mechanismus, einzelne Übertretungen auf einer Metaebene ungeschehen zu machen,
war im Gesetz selber vorgesehen.(22) Dieser Mechanismus, die Versöhnung mit
Gott durch die Priester, hatte auch funktioniert. Aber jetzt konnte er nicht
mehr funktionieren, weil die Priesterschaft in die römische imperiale
Herrschaft integriert worden war.(23) Das aber war mehr als ein historischer
Zufall. Es zeigte, dass die Gottesvermittlung durch Priester generell eine
prekäre Angelegenheit war. Sie funktionierte nur in Gutwetterzeiten. Außerdem
nützte sie den Heiden nichts. Die universelle und auch im Nihilismus infallible
Lösung bestand darin, dass jeder selbst "glauben" musste.
Was heißt das? Ich greife auf Formulierungen der Einleitung
zurück: Es ist die Fähigkeit gemeint, sich ein unverzweifeltes Bild vom eigenen
Lebenslauf machen zu können, auch wenn die heilsgeschichtlichen Institutionen
zerbrechen und überhaupt aller geschichtliche Sinn schwindet; angstfrei leben
zu können, obwohl man das Ende - womöglich ein Ende im Nihilismus - nicht
kennt. Dies Vertrauen konnte man an Priester nicht mehr delegieren. Man musste
es sich jetzt unmittelbar zusprechen lassen, "aus Glauben zu
Glauben",(24) und dann einfach selbst haben. Es musste dann aber einer den
Anfang machen, ein "Führer des Glaubens" musste auftreten, Jesus, an
dem man sich orientieren konnte. Jesus hatte gar nicht anders geglaubt als
Mose, der den Gott der Väter wiederentdeckte, also nicht anders als die Väter,
als Abraham: "bar der Hoffnung" und doch "voller Hoffnung"
- darauf, dass Gott "die Nichtseienden als Seiende ruft", wie Paulus
formuliert.(25) Der Unterschied war nur, dass nun alle glauben konnten wie
Abraham und Mose. Jesus, der es durch sein Vorbild ermöglichte, war daher nicht
nur ein Führer des Glaubens, sondern dessen "Vollender".(26)
Paulus hatte das aus der Hebräischen Bibel herausgelesen,
denn dort war bereits von einem "neuen Bund" zwischen den Menschen
und Gott die Rede gewesen, der eben darin bestehen sollte, dass in Überbietung
des mosaischen Gesetzes alle, "klein und groß", Gott erkennen konnten,
weil er das Gesetz "auf ihr Herz geschrieben" haben würde.(27) Wie
der Apostel begriff, würde die Konstitution des neuen Bundes nicht darin
bestehen, dass man ihn bloß verkündete. Das war ja schon geschehen. Vielmehr
bedurfte es eines historischen Ereignisses, eben des Auftritts eines
"Führers und Vollenders" des Glaubens. Das ist übrigens auch der
Grund, weshalb dem so charakterisierten Jesus göttliche "Inkarnation"
zugeschrieben wird. Es soll damit nicht gesagt werden, dass Jesus Gott
verkörpere und also selber Gott sei, sondern dass er Gottes Wort verkörpere,(28) eben: historisches Ereignis werden
lasse. Und zwar nicht irgendein Wort, nicht die Zehn Gebote zum Beispiel, sonst
könnte Jesus nicht sagen, nur Gott sei "gut", er aber nicht;(29)
sondern dieses Wort, das Wort vom
neuen Bund.
Weil der neue Bund nicht nur neuerlich verkündet, sondern
von Jesus vorgelebt und -gestorben wurde, war er nunmehr in die Geschichte
implementiert. Er war da. Es gab die Kirche. Alle Geschichte würde sich von nun
an um die Kirche drehen.
2
Aber wir wissen immer noch nicht, warum es gerade damals
begann. Warum war "die Zeit erfüllt"? Und nun begegnen wir einer
rätselhaften Formel, die als Antwort zu fungieren scheint: "Das Reich
Gottes ist nahe herbeigekommen."(30) Was hat denn diese Formel mit der
nihilistischen Verzweiflung zu tun?
Wie viele Menschen haben sie seitdem zu ergründen versucht.
Es wird desto schwerer gefallen sein, je weniger verzweifelt eine Zeit war.
Denn nicht alle Zeiten sind gleich verzweifelt. Manche sind es gar nicht. In
Gutwetterzeiten wurde das genahte Gottesreich nicht mehr mit dem
Nihilismusproblem in Verbindung gebracht. Es war einfach die Vollendung der
Welt, also ihr Ende und der Vorschein des Endes in der Zeit. Wir leben also,
wenn in der Nähe des Gottesreichs, dann in der "Endzeit". Und so
scheint die Frage, warum es gerade in der Römerzeit verkündet wurde, eine
banale Antwort zu finden: Da die Welt irgendwann ihr Ende finden muss, muss
irgendwann die letzte Zeit vor dem Ende beginnen; da es Gott gefiel, deren
Beginn den Menschen zu verkünden, trat ein beauftragter Verkünder namens Jesus
auf; da er irgendwann auftreten musste, trat er gerade damals auf. Gottes
Ratschluss hatte es so gewollt.
Die paulinische Erklärung, dass die Zeit gekommen war, als
die Menschen schwach waren, spielt gar keine Rolle mehr. Sie muss nicht einmal
bestritten werden. Gott hätte die Endzeit auch im höchsten Menschenglück
beginnen lassen können, aber nun hat es ihm gefallen, die Kreuzigung an den
Anfang zu stellen. Eine Folterszene. Jemand wird zu Tode gefoltert. Warum
nicht? Gott kann machen, was er will. Aber das ist natürlich Schwachsinn. Da
wir es nicht mit irgendeinem Gott, sondern dem Gott der Liebe zu tun haben,
darf man schon eine Erklärung dafür verlangen, weshalb die Liebe den Umweg über
römische Folterer nimmt.(31) Diese Erklärung wird von Paulus gegeben: Als die Menschen so schwach waren, dass sie
sich sogar zu Tode folterten, intervenierte dennoch die Liebe.
Die Liebe nimmt keinen Umweg. Sie geht aber durch die Zeit.
Der Gott, von dem es heißt, er sei die Liebe, ist nicht weltlos, so dass
entweder er oder die raumzeitliche Welt oder beides als Illusion entlarvt
werden müsste: Er ist ein zeitlicher Gott. Liebe Gottes in der Zeit ist Liebe,
die sich erst durchsetzt, indem sie interveniert, antwortet, widerspricht. Den
Inhalt der Antwort haben wir gesehen, es ist der neue Bund, den Jesus zuspricht
und vorlebt. Diese Antwort wurde als endgültig verstanden, denn schlimmer, als
dass Menschen sich zu Tode foltern - dass das sogar zur offiziellen Ordnung
ihres Zusammenlebens gehört - konnte es nicht mehr kommen. Was so begann, mag
man eine "Endzeit" nennen. Man kann das auf Jesu Rede gestützt tun,
wenn man mit einem einzigen Wort sagen will, dass nach dem neuen Bund keiner
kommt, der noch neuer sein wird. Dann steht das Reich Gottes unmittelbar bevor, das heißt es ist
"nahe". Über seine Dauer ist damit nichts gesagt.
Es ist so nahe, dass man sich nur taufen zu lassen braucht,
um seinen Eintritt vorgreifend schon hinter sich zu haben. Denn wie Paulus
erläutert, nimmt die Taufe auf Jesu Kreuzigung Bezug, sie wird von denen, die
sich ihr im Glauben unterziehen, als metaphorischer Tod verstanden.(32) Der
wirkliche Tod steht dann zwar noch aus, aber das Entscheidende, nämlich die
Befreiung von der Todesangst, ist schon geschehen. Es liegt hinter dem
Getauften, der nun nicht mehr, gefangen in einer Todeskultur, aufs Ende hin
lebt, sondern von ihm her. Jesus "sollte ja durch Gottes Gnade für jeden
den Tod zu kosten bekommen", um "all die freizubekommen, die durch
Todesfurcht während des ganzen Lebens der Knechtschaft verhaftet
waren".(33) Sogar ein Leben im Nihilismus wird durch diese Bezugnahme auf
Jesus befreit, der mit einem Schrei verstarb,(34) weil er annehmen musste, sein
Lebenswerk sei gescheitert und verliere sich in der geschichtlichen Nacht - der
aber, als er sich sagen musste, dass Gott ihn verlassen habe, dennoch daran festhielt, dass Gott ihn verlassen habe.(35) Er hielt, anders gesagt, die Nacht des
Scheiterns für eine Unterbrechung der Geschichte und nicht für diese
selber.(36) Ein Gedanke, der mit der Frage, wie lange es noch Geschichte geben
wird, ersichtlich nichts zu tun hat.
3
Aber ist das so klar? Hat nicht gerade Paulus in der
"Naherwartung" gelebt? Ist es nicht doch plausibler, unter der Nähe
des Gottesreichs eine letzte zeitliche Frist zu verstehen?
Einige haben es so interpretiert: Dass das Reich Gottes nahe
sei, sage Johannes der Täufer. Der spreche zugleich vom strengen Gericht und
fordere zur Umkehr auf. Jesus, da er seine Laufbahn bei diesem Mann begann,
habe seinen Spruch übernommen. Aber er verschiebe den Sinn. Er wolle sagen, das
Reich Gottes sei ein Reich, das Heil bringe.(37) An der Auffassung ist richtig,
dass sie den Zusammenhang betont, den eine Theologie zwischen Endzeit, Schuld
und Strafe herstellt. Tatsächlich wird die Kürze einer Restzeit deshalb
unterstrichen, weil man begreifen soll, es muss schnell gehandelt, von der
Sünde der Gottlosigkeit abgelassen werden. Wenn das Reich Gottes erst da ist,
das sich Gottesmänner, die so denken, nicht zuletzt als den "Tag des
Zorns" vorstellen, wird es zu spät sein. Aber das ist nicht Jesu Lehre.
Ihm zufolge ist das Reich Gottes nicht dazu da, die Sünder zu bestrafen,
sondern sie von der Sünde zu befreien. Wenn es welche gibt, die meinen, man
müsse sich befreit haben, bevor das Reich Gottes kommt, weil es jeden zermalme,
der noch in der Sünde gefesselt sei, dann irren sie. Vielmehr ist es selber -
sein zeitlicher Vorschein im Glauben - das von der Sünde Befreiende. Von einem
erlösenden Reich zu sagen, dass es nahe sei, ist etwas ganz anderes, als ein
nahes Ende in Furcht und Schrecken anzukündigen.(38)
Doch nun scheint es, als sei das ganze Neue Testament noch im Übergang zu dieser Botschaft
begriffen. Es gibt zwei Linien in ihm. Das sind vor allem zwei konträre
Auffassungen von Gerechtigkeit. Die eine Linie stellt einen
Begründungszusammenhang von Sünde, Gerechtigkeit als Sündenbestrafung, letzter
Umkehrfrist, in der noch Gelegenheit für gerechte Werke ist, und Jüngstem
Gericht als Gericht des Zorns her. Es gehört zu diesem Kontext, dass man in
irgendeiner Form an ein "Leben nach dem Tod" glauben muss, weil die
so verstandene Gerechtigkeit anders nicht zur Geltung gebracht werden
könnte.(39) Im Neuen Testament reduziert sich das "Nachleben" noch
auf die jüngstgerichtliche Vorladung der Toten mit der Folge, dass entweder
ihre Vernichtung angeordnet oder ihr Verzeichnetsein im Buch des Lebens
festgestellt wird.(40) Damit war gewiss nicht gesagt, als so Verzeichnete oder
schon als gerichtlich Vorgeladene würden die Toten wieder
"lebendig".(41) Aber die metaphorische Basis für eine weiter
ausholende Metaphorik des "Nachlebens der Toten" war so geschaffen.
Aus dem Buch des Lebens eine jenseitige Welt zu machen, wie es später geschah,
und aus dem "Stachel des Todes" ein schwefliges Höllenfeuer, war
leicht.(42)
Nach der anderen Linie ist Gerechtigkeit nicht Bestrafen,
übrigens auch nicht Belohnen, sondern Gerechtgemachtwordensein und selber
Gerechtmachen - "Rechtfertigung" nach dem Ausdruck der Luther-Bibel.
Der Gerechtgemachte, der seinerseits Ungerechte zu Gerechten macht, ist
gerecht. Man kann einfach sagen "der sie zum Glauben bringt", denn er
ist es, der die "Rechtfertigung" bewirkt. Hier ergibt sich ein ganz anderer
Begründungszusammenhang: Wenn Gerechtigkeit Zumglaubenkommen und -bringen ist,
dann bedarf es keiner Umkehrfrist, sondern einfach der gerechtmachenden Taten,
die allmählich oder plötzlich zum Ziel führen. Dieses Ziel ist alles andere als
ein Ort des Zorns. Es ist auch nicht das Ende, weil der Gerechtgemachte nicht
andere gerechtmachen kann, wenn er nicht lebt.(43) Er macht sich nicht durch
Werke gerecht, sondern seine Gerechtigkeit hat Werke zur Folge, eben solche des
Gerechtmachens. Zu seinem Gerechtsein gehört auch seine Bereitschaft, Gott zu
rechtfertigen, also damit einverstanden zu sein, dass Gerechtigkeit sich in der
Zeit, ja im Scheitern, ja vielleicht in seinem
Scheitern erst durchsetzt. Irgendwelche Spekulationen darüber, wann das Ende
der Zeit eintritt, sind nach dieser zweiten, spezifisch christlichen Linie
vollkommen überflüssig. Und ein "Leben nach dem Tod" wäre geradezu
widersinnig.(44)
Auch Jesus hat nicht "weitergelebt".(45) Nur
darin, dass noch sein Tod andere gerechtmachen konnte, war er seiner Kirche
voraus. Dieser Tod schloss nämlich sein Leben so ab, dass seine Jünger es schon
"am dritten Tag" - nach der totalen Schwärze des zweiten - als das
von Gott endgültig gerechtfertigte erkennen konnten. In seinem Fall brauchte also
kein Urteil des Jüngsten Gerichts abgewartet zu werden: Dieses Gericht, so
überzeugten sie sich, wird der Frage, ob Lohn oder Strafe über seinen Fall zu
verhängen sei, widersprechen, indem es urteilt, dass der Tote selber, statt
gerichtet zu werden, der Richter wird, weil er der Rechtfertigende war. Ein
solcher wartet aber nicht das Ende der Geschichte ab, sondern greift in sie
ein, so dass das Gericht unter seiner Ägide aufhört, nur ein
"jüngstes" zu sein. Das wiederum bedeutet, dass gerade von dem her,
was man die "Auferstehung Christi" nennt, kein Akzent auf der Frage
liegt, wie lange es bis zum "jüngsten Tag" noch dauern werde.
Nein, es ist nicht durchführbar, die eine Linie Johannes dem
Täufer und die andere Jesus zuzuschreiben. Vielmehr muss man zwischen verschiedenen
Schriften des Neuen Testaments unterscheiden, oft sogar zwischen verschiedenen
Passagen derselben Schrift. Keine gibt es, die nicht Jesus bezeugen will. Aber
während die einen die Rechtfertigungslehre vermitteln, die als die spezifisch
christliche Lehre gelten kann, kommt in den anderen mehr die Straflehre zu
Wort.(46) Das Matthäus-Evangelium zum Beispiel gibt ihr breitesten Raum, obwohl
es auch die Bergpredigt enthält, die zur Feindesliebe auffordert. Im früher
geschriebenen Markus-Evangelium kommt die Straflehre praktisch überhaupt nicht
vor. Das Lukas-Evangelium versucht sich in einer Synthese beider Linien.(47)
Soweit es die Straflehre tradiert, bezieht es sie nur auf die politische
Katastrophe, die als Gottesreaktion auf den falschen Weg eines ganzen Volkes
oder seiner Führer erscheint.(48) Strafe als Kehrseite, ja Eigenschaft eines
Weges, den man jederzeit verlassen könnte, in dieser Form ist die Lehre
realistisch. Matthäus jedoch rechnet von vornherein damit, dass es bis zuletzt
"Schafe" und "Böcke" geben wird, und sagt letzteren das
Höllenfeuer an.(49) Wie er annehmen kann, dass jemand, indem er das hört, von
der Todesangst freikommt, bleibt schleierhaft. Eine Frage, die sich dann noch
schärfer für die besonders strafwütige Johannes-Offenbarung stellt. Aber hier
ist die Antwort klar: Die Gerechten wenigstens brauchen den Tod nicht zu
fürchten, da sie ja wissen, dass nicht sie, sondern die Ungerechten in die
Hölle kommen! Von Paulus her, der das andere Extrem markiert, fragt man sich,
wie ein Gerechter von einem andern überhaupt wissen kann, dass er ein
Ungerechter ist. Ist doch, wie gesagt, der Gerechte ein Gerechter nur dann,
wenn er den Ungerechten gerecht macht. Menschen, denen ich die endgültige
Ungerechtheit ansehe, so dass sie - nach der uneingestandenen Logik der
Straflehre - als Blitzableiter meiner Todesangst funktionieren könnten, kann es
gar nicht geben.
Paulus wiederum macht eine Entwicklung durch. Er beginnt in
der Nähe der Straflehre. Der 1. Thessalonicherbrief, der als sein frühester
Brief gilt, ist ihr ganz nahe. Den Sündern und namentlich "den Juden"
wird ein Zorngericht verkündet.(50) Als Christengemeinde gelten "die bis
zur Ankunft des Herrn Überbleibenden", Leute also, die auf ein kurz
bevorstehendes Ende warten.(51) Paulus malt es aus: Jesus kehrt als Weltrichter
zurück, auf einer Wolke, angekündigt von Fanfarenschall.(52) All das findet man
in den späten Briefen nicht mehr. Die Argumentation des Römerbriefs hat in der
Aussage, dass Gott sich auch und vor allem der Juden, des von ihm auserwählten
Volkes, erbarmen werde, ihren Focus.(53) Am Weltende zeigt sich Paulus nun gar
nicht mehr interessiert.(54) Das Heil ist gegenwärtig geworden. In dieser
Schrift geschieht es, dass er statt vom Weltende von der Taufe als dem Ende
spricht, das Christen schon hinter sich haben.
Diese Entwicklung verstärkt sich noch bei den
Paulusschülern, die später den Epheser- und Kolosserbrief schreiben. Aber die
spätesten Schriften des Neuen Testaments, die Petrusbriefe etwa und besonders
die Johannes-Offenbarung, kehren zur Straflehre wieder zurück. Der mehrfache
Wandel dürfte durch wechselnde Umstände der Gemeinden, denen die Verfasser der
jeweiligen Schrift verbunden waren, mindestens mitverursacht sein. In der
ersten Phase (Thessalonicherbrief) hat sich das Christentum noch nicht in
voller Eigenständigkeit artikuliert. In der zweiten (entwickelte paulinische
Theologie) sind Gemeinden entstanden, und die Verfolgung durch die Römer hat
noch nicht eingesetzt. Die Paulusschüler begreifen die entstandene Kirche als
"das Licht der Welt": weit entfernt, bloß auf das Ende zu warten,
wollen die Christen der vorhandenen Verzweiflung entgegenwirken.(55) In der
dritten Phase kündigt sich die Verfolgung an. Jetzt geht es darum, nicht
abtrünnig zu werden, jetzt ist es das erwartete oder schon gekostete
Märtyrerleid, das auf ein möglichst schnelles Ende hoffen lässt. Schlimme
Aussichten und Erlebnisse lassen wieder mehr an die Bestrafung der Ungerechten
denken, die zu Verfolgern geworden sind - zu Feinden -, als an das Wort der
Bergpredigt, dass man die Feinde lieben soll, damit sie sich verändern.(56)
Das Neue Testament ist nicht nur unvollendet, insofern es zu
einer spezifisch christlichen Lehre nur im Übergang begriffen ist - es zeigt
sogar Tendenzen, die vorhandenen christlichen Ansätze wieder zurückzunehmen.
Denn der Standpunkt, es gelte, aufs Ende hin zu leben in einer "letzten
Stunde" und letzten Chance, dem nahen Zorngericht doch noch zu entgehen,
behält das letzte Wort. So ist er es denn auch, der in der Kirchengeschichte
den Ton angibt. Das ist allgemein bekannt. Es ist bekannt, dass als
"christliche Theologie" seit eh und je die Lehre gilt, Jesus sei
aufgetreten, weil Gottes mörderische Strafwut gegen die Menschen nicht ruhte,
bis er Gelegenheit fand und schuf, "seinen eigenen Sohn zu opfern".
Über das Neue Testament wäre demnach zu sagen, dass es in einer Grundlagenkrise
endet: Es kann die Entscheidung, zu der es herausfordert - für oder gegen die
Argumentation des Römerbriefs(57) -, selbst nicht leisten,(58) sondern nur
vorbereiten. Infolgedessen konnte und kann nur seine Überschreitung die
christliche Spezifik fest-stellen. Dies zeigt sich als ein Prozess von
Jahrtausenden - was dafür spricht, dass wir es tatsächlich, wie Paulus lehrt,
mit einem oder dem anthropologischen
Grundproblem zu tun haben könnten.
Die Redenden
1
Die spezifisch christliche Theologie, auch
Geschichtstheologie ist im Römerbrief enthalten. Doch es wäre nicht gut, wenn
nicht auch der Antipode des Römerbriefs, die Johannes-Offenbarung, zum Kanon
des Neuen Testaments gehörte. Dieser Text ist nämlich darin stark, dass er über
"die Zeit, als die Menschen schwach waren", Konkreteres ausführt. Aus
ihm erfahren wir plastisch, was Paulus nur verschämt andeutet: dass die
urchristlichen Gemeinden mit einem historischen Feind ringen, dem Römischen
Reich, so wie einst die Juden mit dem Reich der Pharaonen. Das muss nun genauer
entfaltet werden.
Zunächst ist hier der Ort, auf den eher merkwürdigen
Zusammenhang von biblischer und mittelalterlicher Geschichtstheologie
einzugehen.(59) Die letztere ist als ein "Vier-Reiche-Schema" an die
reformatorischen und gegenreformatorischen Theologen der frühen Neuzeit
tradiert und dann in den Strudel einer ganz unvermeidlichen Säkularisierung
hineingezogen worden. Dieses Schema, wonach weltliche Geschichte sich als
Aufeinanderfolge von vier Weltreichen darstellt, mit der Pointe, das vierte
Reich sei das letzte, gefolgt nur noch vom Reich Gottes - dem Ende der Welt -,
stammt vom Propheten Daniel, dem spätesten Buch der hebräischen Bibel. In ihm
wird das syrisch-hellenistische Reich als das vierte und letzte angesehen.
Später in der jüdischen Literatur und auch in der neutestamentlichen
Johannes-Offenbarung sei, so kann man häufig lesen, an die Stelle des syrischen
Reichs das römische gesetzt worden. Wahr ist, dass biblische
Geschichtstheologie gerade so im Mittelalter verstanden und in der Neuzeit
säkularisiert wurde: ganz besonders im Heiligen Römischen Reich deutscher
Nation, dessen Politiker, Kirchenführer und Universitätslehrer ein Interesse
daran hatten, ihr Reich als das letzte und höchste zu beschreiben.
Einer der ersten wirksamen Angriffe auf diese Konzeption kam
denn auch von dem französischen Rechtsgelehrten Jean Bodin, der das deutsche
Interesse hervorhob und zurückwies und natürlich vor dem Hintergrund des
deutsch-französischen Streits um die Hegemonie in Europa schrieb. Die
"Vier Reiche" waren auch deshalb nicht zu halten, weil die
frühneuzeitliche Entdeckung der Welt - China, Indien, Amerika - sich nicht in
ein Schema eintragen ließ, das Daniel im zweiten Jahrhundert vor Christus
allein dem Ereignisfaden des Nahen Ostens abgelesen hatte. Als aber aus diesen
und anderen Gründen die Geschichtsbetrachtung säkularisiert wurde, hatten die
"vier Reiche" dennoch ein Nachleben, wenn auch ein abstraktes. Man
wollte nämlich weiterhin die Ereignisse der Gesamtgeschichte linear und in
großen Blöcken aufeinander folgen lassen. So denken wir noch heute im Schema
"Antike - Mittelalter - Neuzeit", in das auch bereits die charakteristisch
neuzeitliche "Fortschritts"-Konzeption eingetragen ist, wie ebenso
etwa in die Stadientheorie Auguste Comtes, des Vaters der Soziologie, der die
Zeitalter der Religion, der Metaphysik und der Wissenschaft aufeinander folgen
lässt, und noch des Stalinschen Fünf-Formationen-Schemas, das mit dem
Kommunismus als dem säkularisierten Gottesreich abschließt.
Doch der Schein täuscht, der uns glauben macht, zwischen
Daniel und dem Marxismus habe es nur geschichtstheoretische Kontinuität
gegeben. Denn ausgerechnet das Neue Testament fügt sich nicht in diese Linie.
Man muss die Frage so stellen: Warum hat das christliche Europa auf Daniel statt aufs Neue Testament
zurückgegriffen, um sich geschichtstheoretisch zu artikulieren? Sicher lehnt
sich der Autor der Johannes-Offenbarung an Daniels Vier-Reiche-Schema an und
deutet Rom als das letzte Reich. Aber in der Art der Anlehnung ist das Schema
eigentlich überwunden, denn Johannes spricht nur vom letzten Reich und gibt ihm
die Züge aller vier Reiche.(60) Er hat es mit dem Reich schlechthin zu tun,
sieht das zeitgenössische römische Reich als Exempel. Die Auszeichnung,
"das letzte" zu sein, bekommt dadurch eine neue Färbung. Es heißt nur
noch, das vorhandene Reich sei als Exempel letztgültig, weil kein exemplarischer
Zug mehr fehle. Ja, man kann fortfahren: Wenn ein Zug vorher noch gefehlt hatte, der nun auch nicht mehr fehlt,
dann die Existenz der Kirche!
Sicher stimmt die Johannes-Offenbarung mit Daniel noch darin
überein, dass ein letztes Reich erörtert wird, dem kein weiteres dieser Art,
sondern das Reich Gottes folgt.(61) Aber da das letzte Reich als Reich
schlechthin erscheint, verschiebt sich das geschichtstheologische Interesse auf
die letzte Zeit in diesem letzten
Reich. Und von daher wird die Frage, ob doch noch ein irdisches Reich folgt,
das selbst wieder eine letzte Zeit haben muss, neu eröffnet. Johannes stellt
sie sich schon deshalb nicht, weil er, wie wir sahen, ein Verfechter der
"Straflehre" ist. Er hat als solcher ein Interesse daran, das
strafende Jüngste Gericht seinen auf ausgleichende Gerechtigkeit hoffenden
Lesern in Augenweite zu rücken. Aber er tut doch nicht nur das. Wenn man fragt,
was das Thema seiner Darlegung ist,
so ist es tatsächlich die Lage der Kirche in der Endzeit des römischen, des
exemplarischen Reiches. Dass es wie dem Reich, so auch der Kirche in ihr immer
ergehen wird wie damals, als es die Römer waren, die ihre Endzeit erlebten und
inszenierten, darum geht es(62) - und darüber hat sogar Johannes weit mehr
mitzuteilen als nur dies, dass die Kirche in solchen Zeiten aufs Jüngste
Gericht wartet.
2
Johannes arbeitet exemplarische Züge von Endzeiten heraus.
Es sind Zeiten, in denen die Todesangst grassiert und eine Todeskultur
entsteht. Zeiten des Nihilismus. Da in ihr längst aller Sinn zusammengebrochen
ist, auf den das Reich sich in den besseren Zeiten stützte, wissen die Menschen
kaum noch, warum und wozu sie überhaupt leben. Immerhin vergnügen sie sich,
gibt es Bräutigam und Braut, Kunst und Waren, an denen freilich eine Blutspur
klebt.(63) Der Nihilismus bricht an, wenn das Reich auch dadurch nicht mehr
getragen wird. Es kämpft nur noch ums Überleben, wird zur puren Militär- und
Polizeimacht.(64) Jetzt herrschen Angst und Terror. Jetzt ist die Zeit
gekommen: Die Menschen sind schwach - und die Stunde der Kirche schlägt.
Hatten wir schon bei Paulus gelesen, dass Jesus nicht
zufällig in einer schwarzen Zeit auftrat, so kommt bei Johannes die Einsicht
hinzu, dass die Kirche Jesu regelmäßig in
ihrem Element ist, wenn schwarze Zeiten wiederkehren. Er stimmt die
Gemeinden auf eine Zeit der Verfolgung ein, in der sie "ausharren"
müssen. Wenn das nur ein aktualistischer Ratschlag wäre, hätte er nicht den
Vergleich dieser Verfolgung mit Jesu Kreuzigung bemühen müssen. Er tut das
aber. Er fordert die Gemeinden zur Nachfolge auf. Übrigens ist er nicht der
Einzige; nur in der Ausführlichkeit und Dichte, in der er bei der Bestimmung
der Situation der Kreuzesnachfolge die politischen und realhistorischen Linien
auszieht, unterscheidet er sich von den anderen neutestamentlichen Autoren.
Gerade durch diese Schwerpunktsetzung ist er aber den Kernpassagen des Neuen
Testaments verbunden. Denn Jesu Kreuzigung ist nun mal ein Ereignis im Vorfeld
des jüdisch-römischen Krieges, der zur Tempelzerstörung führt, die dem
Evangelisten Johannes zur Metaphorisierung der Kreuzigung dient.(65) Es
sprechen also theologische Gründe
dafür, als die gleichsam natürliche Zeit der Kirche die schwärzeste, offen
nihilistische Zeit anzusehen.
Das ist christliche Geschichtstheologie, und eine andere
gibt es nicht - nicht im Neuen Testament. Wir lesen da nichts über historische
Stadien und auch sonst nichts, was sich zur Fortschrittsphilosophie
weiterdenken ließe. Sondern nur etwas über schwarze Zeiten.
Nun wäre ich auf den Einwand gefasst, das Auftreten Christi
in einer schwarzen Zeit gehöre doch nur zur "Heilsordnung". Diese
lasse der "Erhaltungsordnung" Raum - Ordnung zur Erhaltung der
Schöpfung durch weltliche Regenten, die Gott verpflichtet sind -, auf die sich
die christlichen Aussagen über die Abfolge von Weltreichen bezögen. Ich habe
kein Problem mit dieser Unterscheidung. Sie ändert aber nichts daran, dass sich
das Neue Testament nicht für historische Stadien interessiert. Wenn Christen
über die Erhaltungsordnung nachdenken, können sie vom Neuen Testament her
"nur" fragen, erstens welchen Abdruck die Heilsordnung in ihr
hinterlässt und zweitens wie die Erhaltungsordnung von der Heilsordnung
mitbestimmt wird. In der Beantwortung dieser Fragen besteht dann ihre Geschichtstheologie.
Sie werden sich bei der ersten Frage auf die nihilistische
Geschichtsunterbrechung verwiesen finden. Die Heilsordnung antwortet auf das
anthropologische Problem der Menschen, ihre "Sünde" und
"Schwäche", die in bestimmten Zeiten so sehr überhandnehmen, dass die
Geschichte unterbrochen wird. Bei der zweiten Frage werden sie nichts finden
als das 13. Kapitel des Römerbriefs. Da zeichnet Paulus eine
"Obrigkeit", die sich zu Gottes Dienst verpflichtet weiß und für
deren Charakter die Christen mitverantwortlich sind. Zu solchen
"Obrigkeiten" muss es aber erst einmal kommen(66) - wie, wenn nicht
immer wieder aus der Geschichtsunterbrechung heraus? In welcher Reihenfolge sie
entstehen und vergehen, auch ob und wie sie aufeinander aufbauen, das sind
spannende und wichtige Fragen für uns, aber nicht für Paulus, der sich auf das
noch Wichtigere konzentrierte.
Kein Wunder, dass das Wichtigste von der Kirche des
Mittelalters verdrängt wurde, stand doch die Rückkehr der Nacht ihrer
hochherrschaftlichen Natur diametral entgegen. Sich darin zu sonnen, dass das
gegenwärtige Reich das vierte, letzte und höchste sei, war für beide Pole des
Reichs - den Kaiser wie den Papst - stets angenehmer als sich zu gestehen, dass
es auf genau denselben Sand gebaut war wie jedes andere auch. So wurde denn die
Johannes-Offenbarung auf Daniel zurückgeschraubt. In der anbrechenden Neuzeit
hielt noch Melanchthon an Daniels vier Reichen fest. Er räumte ein, dass Gott
die Reiche nicht nur erhalte, sondern auch zerstöre, aber er war sich der
Letztgültigkeit des römisch-deutschen Reichs absolut sicher.(67) Später hörten
die Fortschrittsphilosophen ganz auf, in der Bibel zu lesen, dachten aber
genauso selbstgewiss über ihre Zeit wie die mittelalterliche Kirche. Das ist ja
gerade das Problem, von dem wir ausgegangen sind: Der Fortschritt, an den sie
noch glauben, erweist sich später als illusionär, und nun sieht man gar keinen
Sinn mehr, den die Geschichte haben könnte.
Die schwarze Zeit, von der die Johannes-Offenbarung handelt,
war zu Lebzeiten ihres Autors noch gar nicht gekommen, er hatte nur guten
Grund, sie zu erwarten. Erst zwischen den Kaisern Commodus, gestorben 192, und
Diokletian, gestorben 305, brach sie über das ganze Reich herein. Sie ist nicht
immer für alle gleichzeitig vorhanden, da ja von einer Geschichtsunterbrechung
nur vermittelt über die Unterbrechung des Bildes, das Menschen sich von der
Geschichte machen, die Rede sein kann. So lebten die Sklaven schon zur
Blütezeit des erhabenen Augustus in der Finsternis, weshalb es nicht
überrascht, dass unter den ersten namentlich bekannten Heidenchristen so viele
Sklaven waren, und eben damals hörte auch für Judäa, das zur römischen Provinz
geworden war und Tempelsteuern zahlte mit Münzen, die entgegen dem Dekalog
Bilder des Göttlichen trugen,(68) die Geschichte auf.(69) Aber im dritten
Jahrhundert senkte sich die Nacht über die Nutznießer des Reichs ebenso wie
über seine Opfer. Im Abwehrkampf gegen Germanen und Perser begriffen, wandelte
sich die Reichsverfassung zum puren militärischen Absolutismus. Die Legionen
erhoben Soldatenkaiser, von denen viele durch Mord umkamen und wenige länger
als zwei oder drei Jahre regierten. Terror und Gewalt waren an der
Tagesordnung. Seit der Mitte des Jahrhunderts wurde die Verteidigung des Reichs
auf Kosten seiner Bürger "stabilisiert", und an seinem Ende machte
Diokletian aus vielen Notmaßnahmen ein System.
Eine Flut von Steuererklärungen und Veranlagungsbescheiden
trieb jetzt Geld für die Legionen ein. Die Städte verarmten. Da die
Großgrundbesitzer freigestellt wurden, war es für viele Bauern billiger, ihnen
ihr Land zu schenken und es per Pacht zurückzuerhalten, als Steuern zu zahlen.
So begann der Feudalismus seinen Schatten vorauszuwerfen. Zu dieser Zeit uferte
der Ausbau der Geheimpolizei aus, es gab Briefzensur, einen gut organisierten
Spitzeldienst und viele agents
provocateurs. Diokletian aber ließ sich als Gott verehren und leitete
wenige Jahre nach seiner Steuerreform eine große Christenverfolgung ein. Man
verbot die Gottesdienste, verhaftete die Kleriker, zerstörte die Kirchen und
verbrannte die christliche Literatur. Es gab zahlreiche Hinrichtungen. Wieder
ein paar Jahre später herrschte Konstantin der Große - der zum Christentum
übertrat.(70)
3
Allerdings liegt in der Empfehlung, die schwarze Zeit bloß
märtyrerhaft "ausharrend" zu überstehen, eine Schwäche der Theologie
des Johannes, die wieder mit der von ihm verfochtenen Straflehre zusammenhängt.
Denn wenn selbst er den Versuch darstellt, Ungerechte gerecht zu machen, so ist
es bei ihm nur Gott, der dies durch kosmische Katastrophen unternimmt, also
wieder durch Bestrafung. Das ist alles: Strafe soll Ungerechte vor größerer
Strafe bewahren! Der Kirche bleibt nichts als Beten. Die Evangelisten, auch
Matthäus, vertreten klar eine andere Lehre: In der Stunde der nihilistischen
Drangsal der Welt und Verfolgung der Kirche komme es auf das Wort an, das die Kirche öffentlich
sagt. Das ist die Hauptbotschaft der apokalyptischen Rede, die Jesus den
Jüngern kurz vor seiner eigenen Verhaftung hält.
Dabei ist nicht lediglich daran gedacht, dass verfolgte
Christen ein zeitlos-abstraktes Bekenntnis zu Christus ablegen sollen oder gar
nur Nein sagen sollen, wenn man etwa die Teilnahme an einem heidnischen
Kaiserkult von ihnen verlangt. Um ihrem Gott zu zeigen, dass nicht sie, sondern
die Peiniger Bestrafung verdienen? Der Gott der Liebe verlangt mehr: "Was
immer euch gegeben wird in jener Stunde, das redet", fordert Jesus.
"Denn nicht ihr seid die Redenden, sondern der Heilige Geist."(71) Es
geht offenbar um konkrete, je historisch besondere, deshalb auch nicht im
Voraus mitteilbare Worte, die zu sagen die Aufgabe der Verfolgten sein wird.
Der Grund ist, dass die Peiniger kraft der Worte umkehren, sich eben verändern
sollen. Der nihilistische Zustand soll beseitigt, nicht bloß überstanden
werden. In der Apostelgeschichte werden mehrere Situationen geschildert, in
denen Christen vor Gericht und im Gefängnis durch ihr Sprechen in den Diskurs
der finsteren Welt eingreifen und gelegentlich auch finstere Menschen erhellen
konnten, in denen der Autor der Johannes-Offenbarung bloß Kandidaten des
"ewigen Feuerpfuhls" gesehen hätte - einen Gefängniswächter zum
Beispiel(72) oder jenen Saulus, der mit der Ermordung des Christen Stefanus
"einverstanden war"(73) und sich dann doch zum Paulus wandelte.
Seinen Widerstand gegen die Worte, die Stefanus vor der Steinigung gesprochen
hatte, gab er nach einer Latenzzeit auf.(74) In dem Prozess, der ihm dann
selbst in Jerusalem gemacht wird, hält er eine Predigt nach der andern.(75)
So illustriert die Apostelgeschichte die allgemeine
theologische Aussage des Matthäus-Evangeliums, dass der Kirche "der
Schlüssel" zum Reich Gottes gegeben sei: "Und was immer du bindest
auf Erden - gebunden wird es sein in den Himmeln. Und was immer du lösest auf
Erden - gelöst wird es sein in den Himmeln."(76) Das ist der ganz
realistische Hinweis, dass es von der Kirche abhängt, was die nihilistische
Versuchung in der Welt ausrichten kann und was nicht; ob sie fähig oder unfähig
ist, die Verstrickung der Menschen und ihrer Systeme aufzulösen.(77) Denn ein
deus ex machina wird nicht eingreifen. Es hängt von ihrem Wort ab. Mag sie auch nur noch vor Gericht Gelegenheit haben,
es zu sprechen.(78) Aber von ihrem konkreten
Wort. Sie ist aufgefordert, "die Zeichen der Zeit" zu erkennen. Das
Wort, wie es im Neuen Testament vorliegt, schließt nur dann etwas auf, wenn es in diesen Zeichen reformuliert werden
kann.
Weshalb ist die schwarze Zeit die natürliche Zeit der
Kirche? Weil es ihre Aufgabe ist, für die Kontinuität des geschichtlichen Sinns
zu zeugen. In Gutwetterzeiten tun das auch andere, in der Finsternis leuchtet
schlimmstenfalls nur noch sie. "Denn als wir noch schwach waren - zu der
Zeit ist der Messias für Gottlose gestorben." Er, der noch "vor
Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat",(79) starb wegen seiner
öffentlichen Reden und beredten Taten. Er wiederholte im Grunde nur Worte, die
es in der Religion seines Volkes schon gab, die er aber zeitgemäß zu
konkretisieren verstand, wodurch sie sich freilich faktisch veränderten, wie
die Folgezeit zeigte. Und nun sehen wir doch, die schwarze Zeit wird hier nicht
als Endzeit in dem Sinn, dass die Geschichte nach ihr nicht mehr weiterliefe,
konzipiert. Die schwarze Zeit wiederholt Finsternisse, die es schon früher
gegeben hat, und wird einst auch ihrerseits wiederholt werden. Der Finsternis
der Tempelzerstörung durch die Römer waren die ägyptische Finsternis und die
babylonische Gefangenschaft vorausgegangen. Gerade in diesen Notzeiten waren
die religionskonstituierenden Worte gesprochen worden, die Jesus reaktivierte.
Mehr noch, die Worte, die er aufnahm, gab er weiter. Sie kamen bei Stefanus an,
der mit ihnen Saulus überzeugte;(80) aus Saulus wurde der Mann, der die
Grundlinien einer außerhalb Israels ganz neuartigen Religion schuf. So
verbanden diese Menschen vergehende mit noch nicht entstandenen Kulturen über
den Abgrund des Nihilismus hinweg. Das wird immer wieder geschehen müssen.(81)
Die Kirche muss sich als "Licht der Welt"
bewähren. Die reale Kirche hat es tatsächlich zu sein versucht. Statt mit
Halleluja-Chören und verschränkten Armen dem Zusammenbruch Roms zuzuschauen,
besetzte sie Roms hegemoniale Mitte und gab dem Reich eine andere Kultur.(82) Wie sie es tat, wie viel Schuld sie
dabei und dann im Lauf der Jahrhunderte auf sich lud - wie sie nicht nur Licht
spendete, sondern auch Schatten - und wie diese faktische "Heilsgeschichte" selbst wieder, in neuester
Zeit, geschichtstheologisch reflektiert worden ist: das wird noch zu skizzieren
sein. Aber jedenfalls wäre Konstantin der Große kaum zum Christentum
übergetreten, wenn er nicht vorher, sei es auch noch so vage, etwas von der
christlichen Botschaft erfahren hätte.
"Geschichtsunterbrechung"
Ich will jetzt versuchen, den grundlegenden Begriff dieses
Textes zu definieren - die "Geschichtsunterbrechung". Dabei geht es
nicht mehr um die Frage, was Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie ist, denn davon war die Rede. Als diese
Kategorie ist Geschichtsunterbrechung die Zeit der Kirche; die schwarze Nacht,
in der das Licht des Gottesvolks trotzdem leuchtet;(83) die Gefahr des
Versiegens von Sinn, der die Kirche begegnet, indem sie über den Abgrund hinweg
den Regenbogen spannt. Es bleibt aber nachzutragen, was Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie ist. Die
Reihenfolge mag befremden, sie war unvermeidlich. Ich musste erst die Antwort
vorschlagen. Jetzt kann ich definieren, was die Frage war.
Wenn Geschichte unterbrochen werden kann, muss sie "an
sich" eine Kontinuität haben. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass dies
der Fall ist. Man kann die historische Kontinuität nicht als Fortschritt
bestimmen. Es gibt aber immer wieder den Fortschritts-Versuch. Dieser Begriff
ist nicht wertend. Der Fortschritt, den jemand, eine Gruppe oder eine geschichtliche
Kraft herbeizuführen unternimmt, kann vom Standpunkt einer anderen Kraft ein
Rückschritt sein. Näher betrachtet ist Geschichte eine Kette ineinander
verflochtener Fortschritts-Initiativen.(84) Im Prinzip könnte man annehmen,
solcher Initiativen gäbe es unzählige, dann wäre die ganze Überlegung nutzlos.
Aber so viele es geben mag, so wenigen "Logiken", Diskursen, scheinen
sie zu folgen. Es würde dennoch zu weit führen, ist aber auch unnötig, solche
Diskurse hier erörtern zu wollenL85) Da es nur darum geht, den Begriff
"Geschichtsunterbrechung" zu definieren, brauche ich nur den einen
Diskurs vorzustellen, in dem dies möglich ist.
Seine Mechanik möchte ich an einer charakteristischen
Denkfigur der jüdischen Propheten verdeutlichen. Sie dachten über die
"vernichtende", zur Babylonischen Gefangenschaft führende Niederlage
ihres Gemeinwesens nach. Sie taten das nicht voraussetzungslos, sondern
ausgehend von Gottes Heilsversprechen. Dass diese Prämisse der Realerfahrung so
krass widersprach, hätte sie glauben machen können, eine heilsgeschichtliche
Kausalität habe einmal bestanden, sei aber nun zerbrochen und mit ihr der Gott,
auf dem sie gründete. Doch ihr Schluss war ein anderer: dass im erlebten
Widerspruch Gottes Widersprechen sich
Geltung verschaffe.(86) Durch ihren Mund, den sie ihm liehen, widersprach Gott
teils der Art, wie die Heilsprämisse von Israel falsch verstanden oder bewusst
missachtet worden war; teils aber, daran kann kein Zweifel sein, wies er sich selbst zurück und veränderte die Prämisse.(87) Er ist eben
ein zeitlicher Gott. Diese Veränderung war wiederum "nur" eine
Erneuerung, so dass zwischen alter und veränderter Prämisse die
Diskurs-Kontinuität nicht abbrach. Es war kein Prozess von Vernichtung und
Ersatz.(88) In der Umdeutung des Bundes zum Neuen Bund, von der ich schon
sprach, fand die prophetische Geschichtsdeutung ihren Höhepunkt. Doch in der
Deutung "Neuer Bund" verschwand die Geschichtsunterbrechung nicht.
Sondern gerade die Unterbrechung wurde gedeutet, eben als Gottes Widersprechen.
Indem Gott sich selbst zurück- und zurechtweist, überbrückt er die
Unterbrechungen, so dass diese nicht als das schlimme Ende gefürchtet werden
müssen. Wie man sieht, waren es die Propheten, die Geschichtstheologie als
Geschichtsunterbrechungs-Theologie begründeten.
Wenn man ihre Denkfigur rein diskursiv nachbuchstabieren
will, stellt man fest, dass sie eigentlich sehr einfach ist: Sie folgt der
Logik des Fragens und Antwortens. Eine Antwort kann ja darin bestehen, dass der
Frage widersprochen wird, in deren Auftrag sie erfolgt. "Die Frage ist
falsch gestellt." Dieser Satz wird nicht mutwillig gesprochen; er beruft
sich auf eine Konfusion in der Fragestellung, die es geradezu unmöglich macht,
anders als widersprechend zu antworten. Auf die Konfusion wird man aber durch
einen Sachverhalt aufmerksam, der unabhängig von Frage und Antwort gegeben ist
und deren rein innerdiskursives Auseinanderhervorgehen erst einmal unterbricht.
Man kennt die alltäglichen Beispiele: "Wann fängt die Spätvorstellung
an?", frage ich, und wenn mir erwidert wird, sie "fällt aus",
ist das eine Antwort, die zwar meine Frage zurückweist, in der aber die
Kontinuität des Diskurses vollkommen gewahrt bleibt. Sie macht mich auf die
Konfusion aufmerksam, dass ich ungewollt zwei Fragen gleichzeitig gestellt
habe: ob die Spätveranstaltung stattfindet und, wenn ja, wann. Sie ist dazu
aber nur unter der Voraussetzung eines Filmspulenrisses, einer Erkrankung des
Vorführers, eines Ausbleibens der erwarteten Besucherzahl, kurz einer realen Unterbrechung imstande. Warten
ist nutzlos, weiß ich nun und gehe woanders hin.
"Geschichtsunterbrechung" ist nur in Termini des
Antwort-Diskurses definierbar. Etwa so: Wenn wir unter "Geschichte"
eine unablässige Folge ineinander verflochtener Fortschritts-Versuche
verstehen, so besteht ihre Unterbrechung darin, dass es zu Geschehnissen kommt,
in denen die Fragestellung eines geschichtsmächtigen Fortschritts-Versuchs
nicht mehr greift. Die Unterbrechung hält an, solange man vergeblich versucht,
die Geschehnisse dadurch zu bewältigen, dass man die alte Frage beantwortet,
ohne ihr zu widersprechen.(89
In diesem Zusammenhang ist es auch möglich, den Begriff der
"Erhaltungsordnung" hinreichend zu klären. Die Erhaltungsordnung ist
das, was aufhört zu sein, wenn die Geschichtsunterbrechung anfängt. Der
Ausdruck "Erhaltungsordnung" ist freilich problematisch und im Grunde
ideologisch, weil es eine Ordnung, von der man sagen könnte, sie hätte
schlechthin "erhalten" - wen den? die Menschen? die Witwen und
Waisen? die Ausgebeuteten? -, noch nie gegeben hat und und auch in Zukunft kaum
geben wird. Man kann dennoch nicht sagen, es sei nur das Gegenteil einer
solchen Ordnung vorhanden. Die Lösung besteht darin, dass man die sogenannte
Erhaltungsordnung von jener "Fragestellung eines geschichtsmächtigen
Fortschrittsversuchs" begrifflich trennt. Wir können nur von der
"Fragestellung" uneingeschränkt behaupten, dass sie
"erhält", so weit jedenfalls, wie das in einer historisch bestimmten
Zeit überhaupt menschenmöglich ist. Und auch "gottesmöglich ist", um
theologisch zu sprechen, denn "Gott", wie gesagt, ist nicht die
platonische Liebe, sondern die Liebe in der Zeit, die sich erst durchsetzt.
Im Raum jener "Fragestellung" versucht man zum
Beispiel eine Rechtsordnung zu generieren, und da zeigt sich dann schon die
Relativität des "Erhaltens", etwa der Klassencharakter, die
Klassen-Schlagseite des Rechts. Diese demonstriert aber nicht, dass die
Rechtsordnung nur Lug und Trug ist, denn die inspirierende "Fragestellung"
steht im Gesamtkontext der Frage-Antwort-Ketten der Menschheit, von denen
solches zu behaupten die geistige Vorwegnahme des Selbstmords der Menschheit
wäre. Rein logisch ließe sich zeigen,(90) dass eine historisch bestimmte und
behauptete Ordnung von der sie inspirierenden Frage schon dadurch verschieden
ist, dass sie in ihrer Zeit definitiv,
darum aber von vornherein verkehrt
ist, während umgekehrt die Frage, wie jede Frage, gerade das Nichtdefinitive
ist, denn sie wartet sozusagen von sich aus aufs Zurückgewiesenwerden - wenn
ich frage, wann die Spätvorstellung anfängt, ist es nicht meine Intention, um
jeden Preis dies Anfangen bestätigt zu bekommen -, woraus folgt, dass sie von
vornherein nicht verkehrt ist,
sondern es erst wird: in der Geschichtsunterbrechung.
Die Erhaltungsordnung ist also als Erhaltungsordnung immer
verlogen und als in Frage stehende
Erhaltungsordnung immer wahr, und sie ist nicht mehr vorhanden, sobald sie
nicht mehr in Frage steht infolge des Umstands, dass die Frage unbeantwortbar
geworden ist und sich auflöst.(91)
Mit diesen Definitionen ist klargestellt, dass
"Geschichtsunterbrechung" etwas anderes ist als der "Fall"
nach dem "Aufstieg" eines Reiches oder einer Kultur, kein Alter nach
seiner/ihrer Jugend, kein Verwelken nach Blüte und Frucht - was ja nahelegen
würde, dass wie beim biologischen Zyklus der Wiederaufstieg im Fall schon
angelegt wäre und aus ihm nur "entwickelt" werden müsste(92) -, dass
sie vielmehr die Zeit nach dem definitiven Abbruch eines Sinnkontextes ist(93)
und folglich die Zeit der definitiven Einschwärzung seiner Basis, der von ihm
interpretierten Welt. Aus einer solchen Zeit führt nur die Erfindung neuen
Sinns heraus: nur das Widersprechen.
1 Von Karl-Ernst Jeismann,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte
51-52/2002, 13-22.
2 Dass man sich ein Bild vom
eigenen Lebenslauf muss machen können, hat Richard Sennett in seinem Essay Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen
Kapitalismus, Berlin 2000, unterstrichen und gleichzeitig festgestellt,
dass der "neue Kapitalismus" es nahezu unmöglich macht. Der
"flexible Mensch" kann eine Kontinuität seines Lebens nur noch in der
Erzählung seines Scheiterns gewinnen (173 ff.), das keineswegs, wie es denkbar
wäre, irgendeinen historischen Sinn zeigt. Der letzte Satz des Buches lautet:
"Ein Regime, das Menschen keinen tiefen Grund gibt, sich umeinander zu
kümmern, kann seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten." (203)
3 Jeremy Rifkin, Das Imperium der Rinder, Frankfurt/New
York 1994, 122 f.
4 Jeismann (Note 1), 19.
5 A.a.O., 20.
6 Ebd.
7 Vgl. auch die von der
Zeitschrift Das Argument
veranstaltete Diskussion "Den Fortschritt neu denken" (Heft 230,
1999), der ich einige Stützpunkte für das Folgende entnehmen kann, so das
eingangs abgedruckte Gedicht von Volker Braun (162 f.), das mit den Zeilen
beginnt: "Rom: offene Stadt Ein Feldlager / Auf dem Laufsteg defiliert die
Mode / der Jahrtausendwende Panzerhemden / Für den Beischlaf Zwei Gladiatoren /
Kämpfen um den Arbeitsplatz mit Würgegriffen", weiter die Bemerkung
Immanuel Wallersteins (220), seines Erachtens werde "die strukturelle
Profitkrise des Weltkapitalismus" diesen "in dem nächsten halben
Jahrhundert zu Fall bringen": "Ich möchte einfach sagen, dass diese
strukturelle Krise uns in eine dunkle Periode von Kämpfen darum führt, welche
Art System das existierende ablösen wird." (220), und auch die
Feststellung Frieder Otto Wolfs (265, meine Herv.): "Die Kategorie des
Fortschritts ist immer auch eine Urteilskategorie. Die Frage, ob etwas ein Fortschritt gegenüber etwas Vorherigen sei
oder künftig ein Fortschritt sein würde, kann nicht einfach aus dem politischen
Diskurs eliminiert werden."
8 Vgl. Ulrich B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, Würzburg 21995,
254 ff., 295 ff.
9 Römer 5, 6.
10 Galater 4, 4.
11 Exodus 3, 7 f.
12 Exodus 1, 11 u. 16; 4, 23.
13 Römer 7, 14 ff.
14 Römer 5, 12 ff.; 1, 28
ff.
15 "Rasch sind ihre
Füße im Blutvergießen", zitiert Paulus Jesaja 59, 7 f.: "Zerrüttung
und Elend auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens erkannten sie nicht."
(Römer 3, 15-17) Er spricht pauschal von den Sündern, aber: "Paulus wird
bei der Aufnahme dieses Zitats gewusst haben, dass er mit seinem negativen
Urteil einer optimistischen Parole römischer Selbstdarstellung widersprach,
nach der Römer, besonders seit Augustus, der von ihnen beherrschten Welt den
Frieden gebracht hätten." (Klaus Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, Leipzig 1999, 82) "Meine
These ist", schreibt Jacob Taubes, der Römerbrief "ist [...] eine politische Kampfansage an den
Cäsaren" (Die Politische Theologie
des Paulus, München 1993, 27).
16 Römer 7, 23 benennt zwar
nicht die Römer, sondern vage "ein anderes Gesetz, das Krieg führt wider
das Gesetz meiner Vernunft und mich zum Gefangenen macht im Gesetz der Sünde,
das in meinen Gliedern ist". Aber dass die Sünder zur Kriegsbeute und zu
Sklaven werden (V. 1: "ich aber bin fleischbestimmt - verkauft unter die
Sünde") und ihrer eigenen "Vernunft" nicht folgen - ein von
Paulus sonst nicht positiv verwandter Begriff -, hätte er nicht sagen müssen,
wenn es ihm nur allgemein um die Sünde und nicht auch konkret um das römische
Imperium gegangen wäre. Es scheint ja um zwei
feindliche Gesetze zu gehen, eins (ein römisches!), das den Krieg führt, in dem
Gefangene gemacht werden, und ein anderes (das der Sünde!), unter welches die
Gefangenen dann verkauft werden. Das muss auch Simone Weil so gelesen haben,
die in ihrem Werk einen erstaunlichen Bogen schlägt vom Sklavenstatus des in
Elend und Unglück lebenden Fabrikarbeiters über die Vergleichbarkeit
nationalsozialistischer mit römisch-antiken Verfassungsstrukturen bis eben zum
paulinischen Begriff des Sklaven der Sünde (vgl. Reiner Wimmer, Simone Weil, in: ders., Vier jüdische Philosophinnen, Leipzig 21999,
123-215). Das Gesetz, das "in meinen Gliedern Krieg führt", kennen
auch die Evangelisten: Jesus heilt einen Menschen, der nackt in Gräbern haust -
ein eindrückliches Bild nihilistischer Verzweiflung - und von einem Dämon
namens "Legion" besessen ist, wobei die Umstände klar dafür sprechen,
dass von römischen Soldaten die Rede ist (wie Dietrich Schirmer ausführlich
zeigt: Exegetische Studien zum Werk des
Lukas, erklärt aus seinem jüdischen Kontext. Ein Arbeitsbuch, Berlin 2001,
615-643). Und umgekehrt schreibt Haacker zu Römer 7 ([Note 15], 147):
"Dass eine fremde Macht einen Menschen im feindlichen Sinne wie ein Haus
'besetzen' kann, ist vor Paulus nur als Grenzerfahrung im Falle der
Besessenheit geläufig".
17 Paulus spricht zwar im
Konditionalis und scheint nur Einzelne anzusprechen (Römer 2, 17: "Wenn du
[...] auf das Gesetz dich verlässt" und trotzdem - 22b - "Tempelraub
begehst"), aber die Fortsetzung macht deutlich, dass doch faktisch alle
der Kondition erliegen (vgl. 3, 10). "Tempelraub" ist wahrscheinlich
zugespitzte Formulierung für eine Herabwürdigung des Tempels als des Hauses, in
dem Gottes Name wohnt (vgl. Haacker [Note 15], 70); darauf kommen auch die
Evangelien zu sprechen, wenn sie berichten, dass Jesus Händler aus dem Tempel
vertrieben hat, oder wenn sie vor dem "Greuel der Verwüstung" warnen,
der dort aufgestellt werde. Paulus hält die Sache für so schwerwiegend, dass er
an die Zeit der Babylonischen Gefangenschaft erinnert: "Denn: Der Name
Gottes wird euretwegen bei den Völkern gelästert - wie geschrieben steht"
(2, 24; vgl. Jesaja 52,2).
18 "Wie durch den einen
Menschen die Sünde in die Welt hereinkam, und durch die Sünde der Tod [...]. So
wurde der Tod König [...]." (Römer 5, 12 u. 14) "Erst bei Paulus
scheint Sünde als ein allen Geboten vorausgehender Sachverhalt erfasst worden
zu sein", sie kann von nun an "als anthropologische
Befindlichkeit" aufgefasst werden, schreibt Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, Göttingen
1991, 275.
19 Es ist eingestanden oder
uneingestanden das Problem, dass der Tod als "Stachel der Sünde" -
eben der Sünde, andere zwischen sich und den Tod zu schieben - erfahren wird
(1. Korinther 15, 56): Das lehrt schon die Paradiesgeschichte, in der Gott wohl
kaum die Strafe des Sterbens androht,
als ob Menschen, die nicht straffällig würden, auch nicht zu sterben bräuchten,
vielmehr die Strafe des Sterbens,
also ein solches Sterben, das im Sinn des Satzes des Anaximander als Vergeltung
empfunden wird. Wir können auch umgekehrt sagen, eben das sei der Sinn der
Vokabel "Gott", dass er das jemeinige Sein ist, dem ich im Sterben
begegne - und auch lebenslang begegne, wenn ich meine Endlichkeit nicht leugne
-, insofern sich mir dann entweder meine Bestraftheit zeigt oder das, was
Paulus/Luther meine "Rechtfertigung" nennen.
20 Vgl. Römer 3, 19 f.: Das
Gesetz ermöglicht die Erkenntnis der Sünde. Natürlich befreit es nicht von ihr,
macht vielmehr alle "straffällig", die es nicht erfüllen. Paulus
stellt aber keine Antithese von "Gesetz und Evangelium" auf, das tut
erst Luther (Haacker [Note 15], 106). Nicht nur vom Gesetz, sondern auch vom
Evangelium konnte Paulus ja in der Hebräischen Bibel lesen
("Freudenbotin" Jerusalem: Jesaja 49, 9; vgl. a.a.O., 191). Christus
ist das "Telos" des Gesetzes (Römer 10, 4), aber "Telos"
ist nicht mit "Ende" zu übersetzen, als ob das Gesetz vernichtet und
ersetzt würde, sondern mit "Ziel", insofern es auf Christus
hinausläuft und zu ihm überleitet.
21 Wenn er in Römer 4, 14 f.
bestreitet, dass das Gesetz noch immer als Wort des Glaubens und der Verheißung
wirksam sein könne, wie das einst der Fall gewesen war, so reagiert er, wie man
gerade an der Übertriebenheit seines Arguments sieht, auf die Problemlage
seiner Zeit: "Das Gesetz bewirkt 'Zorn' (d.h. Bestrafung; vgl. 13,5), und
wo es kein Gesetz gibt, da gibt es auch keine Übertretung (und, so ist
sinngemäß zu ergänzen: auch keine Bestrafung). Paulus argumentiert hier mit dem
profanen griechisch-römischen Gesetzesbegriff, der einseitig auf Verbote mit
Strafandrohungen fixiert war, und übergeht dabei die positiveren Gehalte des
hebräischen Begriffs Torah, der eher
als verbindliche, weil hilfreiche Wegweisung (im Rahmen eines auf Gott
ausgerichteten Lebens) zu verstehen ist. Es geht ihm ja vor allem darum,
Heidenchristen davon abzuhalten, dem mosaischen Gesetz eine Heilsbedeutung
zuzuschreiben, von daher wird sein Argumentieren mit dem heidnischen
Gesetzesbegriff rhetorisch verständlich." (Haacker [Note 15], 107)
22 Ein Vergleich zwischen
der jüdischen Entsühnung mit dem Höhepunkt des "Versöhnungstages"
(Leviticus 16) und dem Weg Jesu ist das beherrschende Thema des Hebräerbriefs;
Paulus spielt knapp in Römer 3, 21-26 darauf an (vgl. Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums.
Theologie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994, 191 f.). Zum
Versöhnungstag aus jüdischer Sicht Taubes (Note 15), 43-55. Taubes' Behauptung,
Paulus habe es im Unterschied zu Mose nicht abgelehnt, "dass mit ihm ein
neues Volk beginne und das Volk Israel getilgt werde" (11), ist aber
angesichts von Römer 11, 1 f. u. 26 unhaltbar.
23 Vgl. Schirmer (Note 16),
99 ff. und Kuno Füssel/Eva Füssel, Der
verschwundene Körper. Neuzugänge zum Markus-Evangelium, Luzern 2001, 79 ff.
24 Römer 1, 17.
25 Römer 4, 17 f.
26 Jesus als "des
Glaubens Führer und Vollender" ist eine Formulierung im paulinischen Geist
aus dem Hebräerbrief (12, 2). "Es geht nicht etwa darum, den Glauben
Abrahams zu überbieten", schreibt Gerhard Ebeling (Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 2, Tübingen 1989, 521 f.):
"Der Unterschied betrifft [...] die Situation des Glaubens."
27 Jeremia 31, 31-34; vgl.
auch Jesaja 59, 21, Ezechiel 36, 27.
28 Johannes 1, 1 ff.
29 Markus 10, 18.
30 Matthäus 3, 2; 4, 17;
Markus 1, 15. "Ist herbeigekommen" oder "nahe
herbeigekommen" bei Luther, sonst auch "ist nahe" oder "ist
genaht".
31 Zu zeigen, dass Gott
nicht der Allmächtige ist, der unter anderem auch liebt, sondern umgekehrt die
Liebe, die sich als allmächtig erweist, ist eins der Hauptanliegen von Karl
Barth (vgl. Die kirchliche Dogmatik
II/2, Zollikon-Zürich 1942, 1-563). Damit entsteht aber die Frage, welche Wege
eine "Macht der Liebe" geht; es werden selber schon liebende Wege
sein müssen, d.h. der Begriff "Macht" muss hier etwas anderes
bedeuten als gewöhnlich.
32 Römer 6, 3.
33 Hebräer 2, 9 u. 15.
34 Markus 15, 37.
35 Markus 15, 34. "Das
ruft nur einer, der sein Werk, als konkret anrichtbares, entschwunden
sieht", schreibt Ernst Bloch (Atheismus
im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt/M. 1985,
175). Richtig ist aber auch, dass da einer Psalm 22, 2 zitiert und bestimmt
weiß, wie der Psalm weitergeht (22, 28): "Alle Enden der Erde sollen daran
denken und werden umkehren zum Herrn: Vor ihm werfen sich alle Stämme der
Völker nieder."
36 Deshalb greift Friedrich
Engels so sehr daneben, wenn er die christliche Lehre "in seiner
Weltreligionsgestalt" mit Bruno Bauer aus der Stoa zu erklären versucht (Zur Geschichte des Urchristentums, MEW
22, 447-473). Es gibt gewiss viele Einzelgedanken bei Paulus, für die man
Parallelen bei Seneca findet, wie auch Haacker (Note 15) allein am Römerbrief
nachweisen kann. Aber das zeigt nur, in welcher Welt Paulus lebte. Die Stoa
lehrte die Ataraxie, "um nur überhaupt des Lebens fähig zu sein",
sagt Adorno in seiner Metaphysikvorlesung (Metaphysik.
Begriff und Probleme [1965], Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1998, 175).
Es ist eine Haltung erzwungener Weltlosigkeit, zu der als Korrelat eine
grauenhafte Welt gehört. Aber Paulus und Jesus haben ihre grauenhafte Welt
nicht als endgültig anerkannt und konnten deshalb höchst leidenschaftlich auf
sie reagieren.
37 Vgl. etwa Hans
Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch
zum Neuen Testament, Tübingen 132000, 458.
38 Nach dem Bericht der
Evangelisten heilt Jesus Krankheiten und treibt Dämonen aus, bevor er die Geheilten auffordert,
fortan nicht mehr zu sündigen.
39 Vgl. Pannenberg (Note
18), 610 ff.
40 Vgl. Offenbarung 20,
11-15.
41 "Eine offene Frage
ist der Sinn des Ausdrucks 'Leben aus den Toten' am Ende von [Römer 11] V. 15.
Meint Paulus, dass die Wiederaufwertung Israels den Auftakt für die
eschatologische Totenauferweckung darstellt? Oder steht der Ausdruck 'Leben aus
den Toten' metaphorisch für eine radikale, von Gott allein gewirkte Wendung zum
Guten? Traditionsgeschichtlich ist das metaphorische Reden von der Auferweckung
(vgl. Ez[echiel] 37, 1-4; Hos[ea] 6, 1 f.; Esra 9, 8 f.) älter als die
Erwartung realer Auferweckung der Toten [vgl. Jes[aja] 26, 19; Dan[iel] 12, 1
f. [...]), wird aber keineswegs von ihr verdrängt (vgl. Joh[annes] 5,
24)." (Haacker [Note 15], 229) Einwand: Kann man wirklich Jesaja 26, 19
("Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die
Toten heraus") und Daniel 12, 1 f. ("Die Verständigen werden
strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun
geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten") als Belege
für ein realistisches Verständnis auffassen?
42 Wie Arnold Angenendt
zeigt (Geschichte der Religiosität im
Mittelalter, Darmstadt 22000, 695 ff.), kam es zur räumlichen
Ausmalung von Himmel und Hölle infolge des Eindringens schamanistischer
Tendenzen ins frühmittelalterliche Christentum. Gregor der Große (gestorben
604) öffnete den Weg, indem er beschrieb, was Scheintote nach der Wiederkehr
ins Leben vom Jenseits berichtet hätten. Danach entstand eine Literatur der
Jenseitsreisen, die erst im 12. Jahrhundert ihren Höhepunkt und Abschluss fand,
allem Anschein nach weil die Scholastik gegensteuerte. Von da an wurden
"Visionen" als Traum oder als Poesie (Dante) vorgetragen, oder die
Jenseitsreise wurde als zwar reales, aber nunmehr "mystisches" Erlebnis
verinnerlicht. Die räumliche Vorstellung von Himmel und Hölle blieb allerdings
weithin bestehen, die dinghaft-realistische Auffassung vom Höllenfeuer setzte
sich sogar erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts durch (Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter.
Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 22000, 166). Die
Gebildeten beriefen sich nun auf Aristoteles und Ptolemäus: "Gott wohnte
über der äußersten Himmelsschale, während die Engel und die Seligen in der
vorletzten Himmelsschale hausten." Sogar Thomas von Aquin und noch Cusanus
dachten so. Gleichzeitig gab es aber eine von Augustin, Boethius und
Pseudo-Dionysius herrührende "Tendenz, diese Verräumlichung zu überwinden
[...] und die Transzendenz immanent, d.h. auf die Welt bezogen, zu
denken". (a.a.O., 102)
43 Paulus stellt diese
Überlegung ausdrücklich an in Philipper 1, 23 ff.
44 Sehr gut wird das von
Karl Rahner zum Ausdruck gebracht (Grundkurs
des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 1984,
267): "Wer einmal eine sittlich gute Entscheidung auf Leben und Tod
getroffen hat, radikal und unversüßt, so dass daraus absolut nichts für ihn
herausspringt als die angenommene Güte dieser Entscheidung selbst, der hat
darin schon jene Ewigkeit erfahren, die wir hier meinen" und die durchaus
nicht "als ein zeitliches Weiterdauern 'hinter' unserem Leben sich
hinzieht".
45 "Seine wie die aller
anderen Menschen einmal geschehene
Geschichte bedurfte keiner, auch keiner jenseitigen Ergänzungen und
Fortsetzungen." (Karl Barth, Die
kirchliche Dogmatik IV/4, Zürich 1967, 27).
46 Damit soll keinesfalls
gesagt sein, die Straflehre sei die jüdische Lehre statt der christlichen.
Vielmehr entstammt auch die paulinische Rechtfertigungslehre der Hebräischen
Bibel: "Schon in Jes[aja] 45 wird Gottes eigene Gerechtigkeit (V. 21) mit
der Gerechtigkeit verknüpft, die er verleiht (V. 24 f.)" (Haacker [Note
15], 92), und der Straflehre wird nirgends klarer widersprochen als im Buch des
Propheten Jona.
47 Vgl. Lukas 13, 6-9 mit
Matthäus 21, 18-22.
48 Vgl. Lukas 19, 41 ff.
49 Matthäus 25, 31-46.
50 1. Thessalonicher 2, 16.
51 1. Thessalonicher 4, 15.
52 1. Thessalonicher 4, 16
f.
53 Römer 11, 25 ff.
54 Vgl. Conzelmann/Lindemann
(Note 37), 285. Die Argumentationsstrategie des Römerbriefs kann mit D. A.
Campbell so verstanden werden, dass Paulus an das Vergeltungsprinzip zunächst
anknüpft, seine Konsequenzen zeigt und es dann ad absurdum führt (vgl. Haacker
[Note 15], 59). Aber schon da, wo er sich in einem Vergeltungsdiskurs zu
bewegen scheint, stellt er "Gottes Zorn" betont als irdische
Gegenwart und Kehrseite der Sünde selber dar statt als endgültiges Gericht, das
projizierend ans Ende der Welt verlegt werden müsste (vgl. Römer 1, 18 ff.;
Römer 2, 9: "Drangsal und Angst auf jedes Menschenleben, das Übel
bewirkt").
55 Jetzt soll den Mächten
und den Vollmachten in den Himmelsregionen durch die Kirche kundgemacht werden
die vielgestaltige Weisheit Gottes", heißt es in Epheser 3, 10; denn
"indem wir die Wahrheit durch Liebe sagen, [sollen wir] das Allsamt auf
ihn hinwachsen lassen, der da ist der Kopf: der Messias" (4, 15).
"Denn für uns geht der Kampf [...] gegen die Weltgewalthaber dieser
Finsternis, gegen die Geisterschaften der Bosheit in den Himmelsregionen. Darum
greift zur Rüstung Gottes, auf dass ihr dagegenstehen könnt am bösen Tag
[...]." (6, 12 f.)
56 Verkürzt auf die Frage
der Erwartung des Endes der Welt wird diese Entwicklung auch von
Conzelmann/Lindemann konstatiert ([Note 37], 572 f.).
57 Nicht für oder gegen den
Römerbrief, sondern für oder gegen seine Argumentation. Augustin zum Beispiel
stützte sich auf den Römerbrief, um dessen Argumentation ins Gegenteil zu
verkehren: So entstand die berüchtigte Prädestinationslehre, der zufolge Gott
die Menschen schon vor ihrer Geburt, also ein für allemal zu Erwählten oder zu Bösen
macht (vgl. Kurt Flasch, Logik des
Schreckens. Augustinus von Hippo, Die Gnadenlehre von 397, Mainz 1990).
Aber wenn Paulus von Erwählung spricht, handelt es sich "um einen Zuspruch
an Angefochtene [...]. Ihnen wird die Endgültigkeit der gnädigen Zuwendung
Gottes zugesagt, während den noch nicht im Glauben Stehenden im Evangelium
weiterhin eine Zukunft offengehalten wird, die das Unheilsgefälle ihrer
bisherigen Existenz umkehrt." (Haacker [Note 15], 197)
58 Zumal die spätesten Texte
Paulus nicht einfach in Vergessenheit geraten lassen, sondern direkt gegen ihn
(oder seine Schüler) polemisieren: vgl. z.B. Friedrich Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des
Jakobusbriefs. A Very Old Perspective on Paul, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 3/2001, 282-309.
59 Vgl. zum Folgenden
Adalbert Klempt, Die Säkularisierung der
universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und
17. Jahrhundert, Göttingen Berlin Frankfurt 1960.
60 Vgl. Müller (Note 8), 248
f.
61 Wobei Johannes anders als
Daniel mit dem "Tausendjährigen Reich", das von Augustin als Zeit der
Kirche interpretiert wurde, eine Art Überleitung zum Gottesreich postuliert.
62 Vor allem deshalb, meine
ich, spricht er vom "Tausendjährigen Reich" - das so
traditionsmächtig geworden ist und das ich hier doch übergehe, denn die
Tradition ist bekannt genug (vgl. die knappe Information bei Müller [Note 8],
341-343, ferner Jürgen Moltmann, Das
Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 167 ff.) -, weil
er hervorheben will, dass diesem Reich eine nihilistische Zeit nicht nur
vorausgeht, sondern auch folgt: "Und er [ein Engel] warf ihn [den Satanas]
in den Abgrund, schloss ihn ab und versiegelte ihn obenauf, damit er nie mehr
die Völker irreführe - bis die tausend Jahre am Ziel sind. Danach muss er
gelöst werden - eine kleine Zeit." (Offenbarung 20, 3)
63 Vgl. Offenbarung 18,
21-24.
64 Das Tier, auf deren
Rücken Rom sitzt (Offenbarung 17, 3) - Militärmacht als Basis des Reichtums -,
wird Rom "hassen", "öd machen und nackt" (17, 16). Damit
mag auf die Nero-Sage angespielt sein, wonach dieser Kaiser, der durch
Selbstmord endete, an der Spitze von Partherheeren nach Rom zurückkehren und es
zerstören werde (Müller [Note 8], 296 f.). Es steckt aber eine allgemeinere Aussage
darin, eben dass das in 18, 21-24 geschilderte, schon nicht mehr sinnvolle,
aber noch reiche Metropolen-Leben so oder so auf "nackte"
Militärzustände reduziert werden muss.
65 Vgl. Johannes 2, 19-21.
Der Evangelist Johannes ist nicht mit dem Verfasser der Johannes-Offenbarung
identisch.
66 Der Römerbrief wurde
immerhin zur Zeit Neros verfasst, dessen Christenverfolgung Paulus doch sicher
nicht als Werk einer "Dienerin Gottes zum Zorngericht am Übeltäter"
(Römer 13, 4) ansah oder angesehen hätte. Man kann gewiss nicht bestreiten,
dass Paulus, der römische Bürger, bei seinem Lob der Obrigkeit die vorhandene
im Auge hatte - aber das war ja keine orientalische Despotie, sondern eine, die
sich auf Recht und Gesetz berief! "Es ist die Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt, die im Argen liegt, nicht
unbedingt auch das theoretische Ethos" (Haacker [Note 15], 267). Dieser
Zwiespalt kommt auch in der Pilatus-Geschichte zum Ausdruck: Der römische
Statthalter hat rechtliche Mittel, die Unschuld Jesu festzustellen, und erweist
sich als ausgebildet, auf sie zurückzugreifen, aber er denkt gar nicht daran,
das auch zu tun. Luther will denselben Zwiespalt betonen, wenn er schreibt:
"Also bleibt denn immer das Schwert und Oberkeit in der Welt; aber die
Personen, so in der Oberkeit sitzen, müssen sich immer überpurzeln und taumeln,
darnach sie verdienen." (zitiert nach Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd.
1, Tübingen 31987, 330) Kurzum, man sollte Römer 13 "nicht
allzu schnell im Rahmen einer modernen Imperialismuskritik anprangern; denn
faktisch ist das römische Recht wohl
der wichtigster bis heute wirksame Beitrag der Römer zur Kulturgeschichte"
(Haacker, [Note 15], 269). Wobei natürlich über Luther hinaus zu bedenken ist,
dass nicht nur die Personen "immer taumeln", sondern auch die
Regelwerke, denen sie dienen - dass Römer 13 also nicht gegen eine graduelle
oder grundlegende Veränderung der Bestimmtheit des Rechts einer Epoche spricht.
67 Vgl. Klempt (Note 59), 28, 30, 32.
68 Auch für die Tempelsteuer
war nur der tyrische Silberhalbschekel zulässig, der Herkules und Zeus zeigte.
Die Tempelverwaltung ließ diese hochwertigen Münzen in solche mit geringerem
Silberfeingehalt umtauschen, wozu sie "Geldwechsler anstellte, mit denen
sich dann Jesus anlegte". (Füssel [Note 23], 80)
69 Dass Judäa den Nihilismus
früher zu spüren kam und eben dies die Situation war, in die Jesus
intervenierte, hebt Karl Barth hervor: Die von Jesus ausgetriebenen
"Dämonen" stehen "im Dienste eines ganzen Reiches der Störung und Zerstörung"; dies ist "eine
spezifisch spätjüdische Anschauung,
gehört also zu den Merkmalen der Schlussetappe
der Geschichte Israels. [...] Wir
befinden uns in einem ganz besonderen Wirklichkeitsbereich, in der Zeit eines
in seinem geistlichen Charakter einzigartigen Ausgangs, der alle Kennzeichen
eines ebenso einzigartigen Übergangs ins Leere hatte. [...] Hier, in diesem
geistlich-geschichtlichen Vakuum [...] sah und erfuhr man ganz real [...] die
fatale Wirklichkeit des Gegenspielers, den Abgrund,
die Finsternis", die
"Herrschaft des Nichtigen über
den Menschen". "Es war nicht umsonst der Jude - wo sonst als in seiner Welt gab es denn das geistliche
Vakuum, in welchem er existierte? - der hier tiefer sah als alle anderen [...].
Natürlich nicht auf den jüdischen Bereich beschränkt, hier nur eben offenbar
als das, was sie immer und überall waren und sind!" (Die kirchliche Dogmatik IV/2, Zollikon-Zürich 1955, 253 f.; vgl.
auch Note 16)
70 Das war ein Sieg der
Kirche auch im theologisch reflektierten Sinn, obwohl die reale historische
Logik dagegen zu sprechen scheint. Sicher sollte die Kirche zunächst nur der
Militärmacht als Lückenbüßer dienen. Das diokletianische Steuersystem blieb
bestehen; es musste durch Werte gerechtfertigt werden, und die Kirche hatte sie
zu liefern (vgl. Peter Brown, Macht und
Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem "christlichen Imperium",
München 1995). Sie realisiert genau die Funktion, die Augustus noch selbsttätig
ohne Hilfe eines herausdifferenzierten ideologischen Apparats bewältigen konnte:
Augustus wurde von Vergil verherrlicht, seine Epigonen lassen sich nun vom
Neuen Testament legitimieren. Aber die Kirche ist doch nicht ganz so machtlos
wie Vergil. Sie ist eine große Institution und gilt von Anfang an als Gegenüber
des Kaisers. Schon im Jahr 390 kann Ambrosius, der Bischof von Mailand, es sich
leisten, den Kaiser Theodosius zu exkommunizieren. Der hatte die Ermordung
Tausender von Bürgern Thessalonichs angeordnet als Rache für die Tötung eines
Armeekommandanten barbarischer Herkunft. Ambrosius verlangte und erreichte,
"dass der Kaiser sich einem öffentlichen Bußakt unterzog, ehe er ihn
wieder zur Kommunion zuließ" (Henry Chadwick, Die Kirche in der antiken Welt, Berlin New York 1972, 193 f.). Es
wird ein Tag kommen, an dem das Papsttum sich vom Kaiser lossagt, sich selbst
einen anderen Kaiser besorgt - den fränkischen König - und dann peu à peu immer
eigenmächtiger agiert.
71 Markus 13, 11.
72 Apostelgeschichte 16, 27
ff.
73 Apostelgeschichte 8, 1.
74 Ein Indiz dafür, dass
insofern eine Kommunikation zwischen Stefanus und Paulus stattgefunden hat, ist
der Umstand, dass nur diese beiden im Neuen Testament die aus der Hebräischen
Bibel stammende Rede von der "Beschneidung des Herzens" tradieren
(Haacker, [Note 15], 73). Als Paulus in sein Damaskus-Erlebnis geriet,
"war seine Nicht-Erkenntnis [...] keine absolute, sondern, indem sie noch
total vorherrschte, schon begrenzt
durch die ihm schon nahegelegte, schon darauf, dass er sie selbst
vollziehe, wartende Erkenntnis" (Barth, Die kirchliche Dogmatik IV/3, Zürich 1959, 229).
75 Beginnend mit
Apostelgeschichte 21, 40. In seiner Hingabe ans Predigen unterscheidet sich
Paulus vorteilhaft nicht nur von Johannes dem Apokalyptiker, sondern auch von
Johannes dem Evangelisten: Dies nicht gewürdigt zu haben, war die Schwäche der
Theologie Rudolf Bultmanns trotz ihres Versuchs, Eschatologie nicht als
Weltende zu buchstabieren, sondern in die Gegenwart zu holen - eines
erhellenden Versuchs, von dem ich gelernt habe. Bultmann meint, "das
Vermögen des Paulus zum abstrakten Denken" sei "nicht
entwickelt" und das sei der Grund, weshalb er an die Mythen vom Weltende
angeknüpft habe (Theologie des Neuen
Testaments, Tübingen 91984, 199). Den Schritt zur präsentischen
Eschatologie habe zwar schon er getan (275), doch sei Johannes der Evangelist
radikaler und konsequenter gewesen. Das soll deshalb so sein, weil das
Theologem vom Weltende bei Johannes vollkommen getilgt ist. Johannes verstehe
Gericht als "Scheidung", Entscheidung, und diese finde radikal in der
Gegenwart statt: "Der Glaubende wird nicht gerichtet, der Unglaube aber
bleibt in der Finsternis" (390, vgl. auch 432). In der Tat. So radikal
gegenwärtig ist diese Scheidung, dass sie zur Endgültigkeit der Bestrafung
derer führt, die sich falsch "entscheiden". Und so eschatologisch
bleibt trotzdem die Eschatologie, dass der Glaube "als [...] Entscheidung
gegen die Welt [...] Entweltlichung" sein soll (430). Nun zeichnet
Johannes allerdings einen weltlosen Jesus, der gewollt unverständlich redet
(Johannes 6, 51 ff.) und dann diejenigen sammelt, die trotzdem, weil sie nur
seine "Stimme hören", sich als die Seinen erahnen (18, 37 f.). Aber
ist das nicht eine gnostische Konzeption? Gerade weil Paulus so weltlos nicht
war, hielt er das Theologem vom Weltende aufrecht: Er wahrte das Interesse am
Geschichtsverlauf und damit die Chance, andere noch zu ändern. Nicht nur
predigen, sondern verständlich
predigen war eins seiner Hauptthemen (1. Korinther 14), denn damit, dass
"der Unglaube in der Finsternis bleibt", fand er sich eben nicht ab.
76 Matthäus 16, 19. Dasselbe
sagt Paulus auf seine Art in Römer 8, 19-21: "Denn: Das sehnende Verlangen
der Schöpfung wartet auf die Enthüllung der Söhne Gottes", d.h. darauf,
dass sie öffentlich in Erscheinung treten (Haacker [Note 15], 163). "Denn:
Der Nichtigkeit ward die Schöpfung unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch
den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin. Deshalb wird auch sie - die
Schöpfung - freigelassen aus der Knechtschaft des Verderbens, um zur Freiheit der
Kinder-Gottes-Herrlichkeit zu gelangen." Wenn Paulus der Schöpfung die
Gotteskindschaft verheißen kann, hat er sicher keine neuzeitlich-pure
"Natur" im Auge, sondern eine menschliche Welt - die römische Welt.
77 So auch Barth (Note 74),
987 f.
78 Die Passionsberichte der
Evangelisten können geradezu als Anleitung gelesen werden, wie sich die Kirche
in "Endzeiten" verhalten soll: Selbst wenn sie stirbt, wird doch ihr
Wort bleiben und dieses wird ihren Leib auferstehen lassen. Die
"Auferstehung Jesu" meint nichts anderes. Wenn Jesus das Wort Gottes
"inkarniert", konnte doch nur die Auferstehung dieses Inkarnierten
von Interesse sein und nicht die Auferstehung seiner Haut, seines Atems, seiner
Sprache, seiner Art zu formulieren. "Wenn die Erscheinungstraditionen der
Evangelien den Auferstandenen in einer individuellen Leiblichkeit auftreten
lassen, so liegt darin eine Einseitigkeit, die der Korrektur durch den
paulinischen Gedanken der Kirche als des Leibes Christi bedarf." (Wolfhart
Pannenberg, Systematische Theologie
Bd. 3, Göttingen 1993, 676) Paulus schreibt zwar selber, der Messias habe sich
den zwölf Jüngern, 500 weiteren Personen und zuletzt auch ihm "zu schauen
gegeben" (1. Korinther 15, 5-8), aber da er Jesus nie zuvor gesehen hatte,
wird die "Schau" - seine und die der anderen - kaum dinglich zu
verstehen sein.
79 1. Timotheus 6, 13.
80 Siehe Note 74.
81 Der Zusammenhang der
Geschichte könnte "darin bestehen, dass das geschichtliche Scheitern eines
jeden dieser Modelle [von Erhaltungsordnung im oben angegebenen Sinn]
Ausgangspunkt für das jeweils folgende wäre", schreibt Pannenberg ([Note
78], 545).
82 Damit die Kirche
hegemonial wirken kann, ist neben ihrer Hörbarkeit auch ihre Sichtbarkeit von
Bedeutung, wobei es nicht allein um die Sichtbarkeit der vorbildlichen
Lebensführung einzelner Christen gehen kann. Deshalb sollte man es nicht als
eine Fehlentwicklung ansehen, dass aus der neutestamentlichen
"Volksversammlung", ekklesia,
seit Konstantin die Kirche geworden ist: kyriakon,
das "zum Herrn [Jesus Christus] gehörige" Haus. Das Wort ist nicht
biblisch, sondern breitet sich erst infolge der konstantinischen Bautätigkeit
aus, bringt aber das biblisch geforderte öffentlichkeitswirksame Sichzeigen gut
zum Ausdruck. Ekklesia und Kyriakon stehen für einen Entwicklungszusammenhang:
"Wenn sich [...] die Christen in hellenistischer Umwelt ekklesia nannten, so musste der Verzicht
auf die gängigen Bezeichnungen eines Kultvereins und die Ersetzung durch einen
politisch klingenden Terminus auffallen." (Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd.
3, Tübingen 31993, 336) Die christliche Basilika, die seit
Konstantin gebaut wurde, war dann "eine 'Gottesstadt', die sich scharf von
der antiken Stadt unterschied" (Peter Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit
am Anfang des Christentums, München Wien 1991, 454).
83 Die heutige Theologie ist
sich weithin einig, dass "der Begriff des Gottesvolks [...] keinen Plural
[duldet]: Der Vielfalt der Völker steht das eine Volk des einen Gottes
gegenüber", das also Judentum und
Kirche umfasst. In der Tat ist von einem "neuen" Gottesvolk im
Neuen Testament nirgends die Rede. (Pannenberg [Note 78], 508 f.) Man muss
sagen, dass diese Einsicht recht neu ist und sich keineswegs schon in den
wichtigsten kirchlichen Dokumenten niedergeschlagen hat. So begnügt sich Nostra aetate, die Erklärung des Zweiten
Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen
Religionen, mit einem absurden Formelkompromiss: "Gewiss ist die Kirche
das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen
[...] darstellen [...]." (vgl. Karl Rahner, Herbert Vorgrimmler [Hrsg.], Kleines Konzilskompendium, Freiburg i.
Br. 21966,358 f.) Ich nehme das Problem im zweiten Teil des Essays wieder auf.
Abzulehnen ist die Erfindung, "Volk Gottes" meine "das Volk der
Armen und Unterdrückten [...] sowie das Volk der Laien im Gegensatz zur
kirchlichen Hierarchie" (Peter Penner, Befreiung,
in: Historisch-kritisches Wörterbuch des
Marxismus Bd. 2 [Hrsg. Wolfgang Fritz Haug], Hamburg 1995, Sp. 136-144,
hier 139).
84 Für Reinhart Kosellek
gibt es eine Vorstellung von kontinuierlicher Geschichte, einen einheitlichen
Geschichtsbegriff erst seit der Philosophie der Aufklärung; vorher habe es nur
"Geschichten" gegeben, es seien nur exempla aus der Vergangenheit zur gegenwärtigen Nutzanwendung
gezogen worden (vgl. Vergangene Zukunft.
Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979). Mir scheint das
nicht plausibel zu sein. Einen einheitlichen Geschichtsbegriff gibt es doch
überall dort, wo man einen Anfang und ein Ende der Welt postuliert (oder beides
zu einem Kreislauf der Welt zusammenfallen lässt), also in jeder bekannten
Kultur. Nur die Namen, die man der Geschichte gibt, und die Diskurse, in denen
man sie denkt, unterscheiden sich. Wenn z.B. Melanchthon exempla bemüht, dann nicht als isolierte Punkte, sondern als
Elemente in der Erhaltungsordnung der "vier Monarchien", als die sich
ihm die profane Geschichte darstellt (Belege bei Klempt, [Note 59]). Was
Kosellek für den einzigen einheitlichen Geschichtsbegriff hält, ist nur dessen
Umformulierung im Aufklärungs-Diskurs.
85 Nur so viel zur
Illustration: In einem Verwandtschaftsdiskurs mag man es als Fortschritt
ansehen, wenn eine Familie sich irgendwo einheiratet, in einem staatlichen,
wenn eine Armee irgendwo einmarschiert, in einem naturwissenschaftlichen, wenn
eine Gleichungskette irgendwelche neuen Objekte sich einverleibt. Es ist klar,
dass dies in diesen Diskursen immerzu versucht wird - jedesmal auch im
übertragenden Sinn, denn es gibt z.B. auch einmarschierende Gedanken-Armeen -,
die nacheinander gewirkt haben und heute gleichzeitig wirken.
86 Ähnlich Max Weber, vgl. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie
Bd. 3, 81988, besonders 350.
87 Vgl. Exodus 22, 28 f. mit
34, 19 f.; Ezechiel 20, 25 f.
88 Dass Lebende von Gott nur
den Rücken sehen, nachdem er vorübergegangen, ist die elementare
geschichtstheologische Aussage (vgl. Exodus 33, 18-23). Der Rücken wird nicht
von allen bemerkt, denn für viele ist das Vorübergehen gleichbedeutend mit dem
Verschwinden - aber der Dornbusch verbrennt nicht (vgl. Exodus 3, 2).
89 In der
Johannes-Offenbarung wird Geschichtsunterbrechung als "Drachensturz"
gedacht: Die Sinnhegemonie einer geschichtlichen Kraft ist gebrochen, weshalb
sie "vom Himmel fällt", eben deshalb aber ihre sinnlos gewordene
Macht auf Erden entfalten kann. Sie wütet fürchterlich, gerade weil sie
verloren hat und ihr also "nur noch wenig Zeit bleibt" und sie das
selber weiß. (Vgl. 12, 7 ff.) Geschichtsunterbrechung ist hier diese
auslaufende Zeit des Drachen, in der die Kirche, wie wir sahen, nur
"ausharren" soll, nämlich auf der Sieger-Seite. Der Sieg ist ja schon
erreicht, was kann noch mehr geschehen? Er hat sich nur noch nicht allen
"offenbart"! Damit ist aber ganz ausdrücklich gesagt, dass eine
Geschichtsunterbrechung nur scheinbar
eingetreten ist. Sie kann im Diskurs der Johannes-Offenbarung nicht als realer
Sachverhalt behauptet werden. Dieser Diskurs geht nicht fragend und antwortend,
sondern subsumierend vor, er denkt sich wie den Staat so auch die Geschichte
als Zusammenhang von Befehl, Gehorsam und Ungehorsam. Schon dass der Drache
überhaupt im Himmel war, kann nur eine Art Täuschung gewesen sein, die in
diesem Fall von Gott selbst, der hier nicht als der widersprechend Antwortende,
sondern als der absolute Befehlshaber gedacht wird, zu irgendeinem wohltätigen
und zugleich geheimnisvollen Zweck ausgeübt wurde.
90 Vgl. Verf., Die Regeln der Entdeckung (Argument-Sonderband 137), Berlin 1985,
68 ff.
91 Dass die
Erhaltungsordnung als Erhaltungsordnung immer verlogen ist, ist ihre
"strukturelle Sünde", die zunächst verborgen bleibt. Ihre Aufdeckung
zeigt an, dass die Fragestellung der Erhaltungsordnung unbeantwortbar geworden
ist.
92 Geschichtsunterbrechung
ist also keine "Zwischenzeit" im Goetheschen Sinn - "Zeit,
welche der Same unter der Erde zubringt" (Werke Bd. 14 [Hamburger Ausgabe], München 1998, 47) -, und falls
Marx' Annahme richtig sein sollte, dass "neue höhere Produktionsverhältnisse
[...] nie an die Stelle [treten], bevor die materiellen Existenzbedingungen
derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind"
(MEW 13, 9), so führt doch gar kein Aspekt der Geschichtsunterbrechung, außer
ihrem Ende, von den "Bedingungen" des Neuen zu diesem selbst.
Besonders wenn man die Unterbrechung nicht einmal bemerkt, sondern nur den
"Samen" bemerkt, muss aus ihr eine Sackgasse werden.
93 Deshalb ist die
Geschichtsunterbrechung auch kein "Ausnahmefall", denn das würde implizieren,
dass die Regel, also der bis dato gegebene Sinnkontext, danach wieder gelten
könnte. Es kann nicht die Rede sein von einem "Fall äußerster [...]
Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen", wie Carl Schmitt
wollte, weil er glaubte, es könne besonders entschlossene Staatsmänner geben,
die der "Gefährdung" dann standhalten. Wenn das so wäre, wäre die
Geschichte ja gar nicht unterbrochen. Typisch für Geschichtsunterbrechungen
sind gerade solche Männer wie Hitler oder Diokletian, die behaupten, sie
könnten "die Ordnung" aufrechterhalten, und deren wahres Werk Folter,
Vernichtung und Zersetzung sind - oder um mit Schmitt selbst zu sprechen: die
"außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung stehen" (Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre
von der Souveränität [1922], Berlin (5) 1990, 12 f.).
Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
6/03, Dezember 2003.