Christoph Fleischmann

Veränderungen im Diesseits – aber der neue Mensch muss warten

Über die christliche Tradition vom Reich Gottes

Hat die Aufklärung nicht bereits das Kapitel Religionskritik erledigt? Oder kommen wir in zugespitzteren historischen Situationen erst wieder verstärkt auf das Christentum zurück? Nur geistferne Pragmatiker können jedenfalls, so unser Autor, die beste aller Welten ins Hier und Jetzt stellen. Warum aber lebt, trotz aller Verkündungen vom »Ende der Utopien«, die Utopie vom »guten Leben« in der Gestalt des »Reiches Gottes« weiter?

 

»Religion ist Opium des Volkes.« Das war für viele Linke lange Zeit das Ergebnis der Aufklärung. Kompromittiert hatte sich die in Europa vorherrschende Religion, das Christentum, nicht nur dadurch, dass es immer wieder die herrschenden Mächte ideologisch stützte, sondern lange Zeit auch die Aufklärung ablehnte und bekämpfte – kurz: Es war ein Bundesgenosse der Reaktion. Damit war das Verhältnis zwischen den Kirchen als den offiziellen Institutionen des Christentums und der Linken bis weit in die Mitte des letzten Jahrhunderts festgelegt – für manche mag mit Marx’ Bonmot immer noch alles gesagt sein.

Nun hat die Dialektik der Aufklärung aber nicht nur negative Konsequenzen wie die Rationalisierung und Kapitalisierung der Lebenswelten mit sich gebracht, sondern auch neue Mystifizierungen: Die alten Götter wurden durch neue ersetzt. Die vermeintlich Religionslosen griffen zu quasi-religiösen Ersatzdrogen, wobei dahingestellt sein mag, ob die neuen Drogen schädlicher waren als das alte Opium. Am auffälligsten zeigt das der stalinistische Herrscherkult, aber keineswegs nur der.

Parallel entwickelten protestantische Theologen – der prominenteste war der Schweizer Karl Barth – eine theologische Religionskritik, mit der sie ihren eigenen Autoritäten zu Leibe rückten und später auch den Herrschern der Welt. Eines ihrer zentralen Motive war die Königsherrschaft Christi, die die ältere Metapher vom Reich Gottes aufnimmt.

 

Aber noch einmal einen Schritt zurück: Ist das Christentum tendenziell reaktionär und konservativ oder weisen seine Grundzüge in eine progressiv-freiheitliche Richtung? Das Problem dabei ist, dass nicht nur unterschiedliche Vertreter des Christentums zu ganz unterschiedlichen Positionen kommen – wie etwa George W. Bush und seine religiösen Unterstützer auf der einen Seite und der Papst mit seiner Meinung zu Krieg und Frieden auf der anderen Seite. Auch ein und derselbe Papst kann für Frieden im Irak und eine Landreform in Brasilien streiten und genauso Schwulendiskriminierung fördern und einen Gehorsam einfordern, wie es sonst nur noch Diktatoren möglich ist. Karol Wojtylas Äußerungen sind in ihrer Gesamtheit äußerst doppelgesichtig.(1)

Die Linken unter den Christen mögen darauf hinweisen, dass die Kirche sich und ihre ursprünglich freiheitliche Botschaft immer wieder an die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst und so korrumpiert hat.(2) In der Tat gibt es zahlreiche Beispiele in der Kirchengeschichte, in denen die Theorie den gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst wurde. Das Beispiel des Papstes zeigt aber auch, dass dies als Erklärung nicht ausreicht: Manche Borniertheiten werden von der Kirche gegen den herrschenden Mainstream durchgehalten. Sie haben ihre Ursache unter anderem darin, dass schon die normative Tradition des Christentums äußerst doppelgesichtig ist. Diese normative Tradition besteht aus unterschiedlichen Texten, die in der Bibel gesammelt wurden und Ausgangspunkt für unterschiedlichste Interpretationen waren und sind: entweder fundamentalistisch-reaktionär oder freiheitlich-progressiv. Die Vielfalt der Interpretationen ist ähnlich ernüchternd wie die Bilanz der sich korrumpierenden Kirche. Freilich sind daran nicht nur die Interpreten schuld. Denn schon innerhalb der Bibeltexte gibt es eine provozierende Vielfalt. Diese Erkenntnis hat sich seit der Aufklärung durchgesetzt, als erst die Theologie und später die Kirchen die historisch-kritische Erforschung ihrer Schriften betrieben und zuließen. Das Christentum hat eben nicht ein normatives Gründungsdokument, sondern fand in einer Vielzahl von Schriften, die unterschiedliche Probleme zu verschiedenen Zeiten auf ganz unterschiedliche Weise reflektierten, ihre normative Tradition. Gegen alle fundamentalistischen Vereinfacher, die eine eindeutige christliche Botschaft herstellen wollen, muss an der Vielstimmigkeit des christlichen Kanons festgehalten werden. Die Tatsache, dass viele Stimmen kanonisiert wurden, kann aber nur heißen, dass damit der Streit um die Wahrheit kanonisiert wurde. Von diesem Streit oder Dialog um das, was als christliche Botschaft gelten soll, kann auch kein Lehramt dispensieren: Der Streit um die richtige Interpretation der Tradition bleibt Aufgabe aller Christen – spätestens seit der Aufklärung.

Dialog über die christliche Botschaft heißt freilich nicht, dass dieselbe der Beliebigkeit preisgegeben wäre. Die alten Texte provozieren – wie jeder bedeutungsvolle Text – viele Interpretationsmöglichkeiten. Oder um es mit Umberto Eco zu sagen, sie geben ein »Feld von Relationen« vor.(3) Ein Feld ist aber begrenzt und nicht unendlich. Manche Interpretationen können als abwegig ausgeschlossen oder eben als Akkommodationen an die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Interessen der Mächtigen entlarvt werden.(4)

Um sich in dem »Feld von Relationen« besser zu orientieren, suchten und suchen Theologen einen hermeneutischen Leitfaden für die Interpretation der vielstimmigen Bibeltexte. Ein Schüler von Karl Barth, der Berliner Theologe Helmut Gollwitzer, hat vorgeschlagen, die Metapher »Reich Gottes« als einen solchen Leitfaden zu nehmen.(5) In den biblischen Texten gehe es nämlich fast durchweg um das Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Metapher, die dieses Verhältnis am umfassendsten beschreibe, sei die des Reiches Gottes. In Gollwitzers Definition ist das Reich Gottes die »Durchsetzung des gnädigen Willens Gottes gegen alle Widerstände«. »Gottes Wille geht auf das gute Leben der Menschen, und zwar jetzt schon in der Vorläufigkeit des gegenwärtigen Lebens, vorausblickend auf die künftige Vollendung.«(6) Inhaltlich ist dieses »gute Leben« in Details unterschiedlich beschrieben worden, in Grundzügen ist aber unstrittig, dass die Utopie darauf zielt, dass alle Menschen gleiche Würde und damit gleiche Rechte und Lebenschancen haben sollen. So gesehen kann sich der christliche Glaube eigentlich nie mit dem Bewahren von Werten und dem ideologischen Absichern des Bestehenden zufrieden geben, auch für ihn gilt der Marx’sche Imperativ, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«(7). Der Glaubende peilt »Veränderungen im Diesseits«(8) an, in der Erwartung einer radikalen Veränderung durch Gott.

Das Reich Gottes ist nicht nur eine zentrale Metapher vieler biblischer Texte, sondern ein Bild, das auch außerhalb der Kirchen eine reiche Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Die Vorstellung des Reiches Gottes ist eine der geistesgeschichtlichen Wurzeln des utopischen Denkens: Dass es einmal ein besseres Leben geben soll, dass es eine radikale Erneuerung der Lebensverhältnisse geben kann, dass Leid und Entbehrungen in irgendeiner Weise aufgehoben werden, diese Idee faszinierte viele Denker der Neuzeit in Europa. Die Orientierung auf ein Ziel der Geschichte ist nicht selbstverständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass dies dem fernöstlichen Denken zum Beispiel völlig abgeht. Es lohnt auch an Carl Schmitt zu erinnern, nach dem ja die meisten politischen Begriffe säkularisierte theologische Begriffe sind. Ohne damit irgendwen in irgendein Reich heimholen zu wollen, kann man doch sagen, dass auch die meisten linken Theoretiker in dieser geistesgeschichtlichen Tradition standen und stehen. Karl Marx sah dies sehr deutlich: In einem seiner Briefe parallelisiert er den »Traum der primitiven Christen« im Römischen Reich vom nahen Untergang der Welt mit seiner »wissenschaftlichen Einsicht in die unvermeidbare und stetig unter unseren Augen vorgehende Zersetzung der herrschenden Gesellschaftsordnung«(9). Und genau wie die ersten Christen hatte Marx eine Nah-Erwartung, dass das neue Reich noch zu seinen Lebzeiten entstehen werde.

 

In der christlichen Tradition entwickelten sich zwei unterschiedliche Vorstellungen, wie das Reich Gottes zu den Menschen käme: Entweder durch eine Katastrophe oder durch eine langsame Entwicklung. Der erste Gedanke wurde besonders in den Apokalypsen entfaltet. Entstanden im Kontext unterdrückter Glaubensgemeinschaften konnten sich die Schriftsteller apokalyptischer Werke eine Wende zum Besseren nur so vorstellen, dass das Reich des Bösen in einer finalen Endschlacht oder in einem fürchterlichen Weltenbrand zugrunde gehen würde. Ein langsames Wirken zum Besseren lag nicht in ihrem Horizont, weil die gesellschaftliche Gestaltungsmacht ihrer Gemeinden zu gering war. Aus der Marginalisierungserfahrung wuchsen Omnipotenzfantasien. Denn die Schreiber dieser Werke sahen ihre Gemeinschaften als den heiligen Rest, der dank eines göttlichen Wunders durch die Katastrophe hindurch gerettet wird.

Aber ebenso tief in der Tradition verwurzelt ist die Vorstellung einer allmählichen Entwicklung zu einem Reich Gottes. Das Reich Gottes ist schon »mitten unter euch«(10) und es wächst wie eine Pflanze, so wird es in Gleichnissen Jesu beschrieben.(11) Also kein völliger Bruch oder Untergang der bösen Welt, sondern eine Veränderung des alten Lebens, eine Weiterführung des Neuen, das schon mitten im Alten angebrochen ist. Nach dieser Vorstellung gibt es doch schon wahres Leben im falschen. Die sichtbaren Ansätze geben Ziel und Richtung eines neuen Lebens vor. Allein ex negativo ließe sich kaum eine Utopie entwickeln, Ansätze des Guten müssen für die Hoffnung vorhanden sein, argumentieren moderne Theologen, die in der großen Mehrheit diese Variante der christlichen Reich-Gottes-Hoffnung favorisieren.(12)

Die säkularisierten Formen dieser theologischen Denkmuster liegen auf der Hand: Für die Apokalyptiker unter den Linken kommt die neue Gesellschaft erst mit einer gewalttätigen Revolution oder mindestens einer Übergangszeit, die dem eigentlichen Ziel entgegensteht: der Diktatur des Proletariats. Dabei dürften diese Vorstellungen oftmals aus einer Schwäche heraus entwickelt worden sein. Je machtloser man war, desto eher wurde auf eine Revolution gehofft. Was freilich nicht der Marx’schen Vorstellung entsprach, der den revolutionären Umschlag am Zielpunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung gesehen hat; also beide Muster dialektisch aufeinander bezogen hat.

Diejenigen, die auf langsame Reformen zum Besseren gesetzt haben, wurden in der Linken lange diffamiert. Ihnen wurde unterstellt, dass sie mit dem friedlichen Weg den radikalen Gehalt des Zieles aufgegeben hätten, was in vielen Fällen sicher auch so war, aber nicht zwangsläufig so sein muss.

Heute liegt die Herausforderung eher darin, dass manche überhaupt auf eine Zielformulierung zugunsten eines rein pragmatischen Operierens im Hier und Jetzt verzichten wollen. Schon der »demokratische Sozialismus« ist den SPD-Oberen zu jenseitig. Die Forderung, das alte Ziel offiziell zu verabschieden, verrät, dass sich die reale Politik längst von den Idealen der Bewegung abgekoppelt hat. Das ist nicht nur entlarvend, es ist auch dumm: Das historische Bewusstsein im Westen – die eben beschriebenen Traditionen zeigen das – denkt immer linear, also Geschichte als eine fortschreitende Entwicklung. Wenn die Menschen aber keinen Fortschritt auf ein Ziel hin sehen – weil das Ziel aufgegeben oder diskreditiert wird oder weil das »Ende der Geschichte« sowie die Alternativlosigkeit der herrschenden Politik erklärt wird –, dann wird die Entwicklung zwangsläufig als Dekadenz wahrgenommen, als Verfall von einem guten Zustand zu einem schlechteren.(13) Vulgo: Den Mallorca-Alten gehts viel besser als den nachfolgenden Generationen. So gut wie früher, wirds nie wieder. Dass diese Stimmung nur sehr begrenzt durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstandes gedeckt wird, zeigt, dass sie eben viel mehr durch die Entwicklung der ideologischen Produktion bestimmt ist. Daran haben die vermeintlich pragmatischen Prediger der Alternativlosigkeit ihren Anteil.

 

Beiden Formen der christlichen Hoffnung gemein ist die Erwartung, dass das Reich Gottes nicht durch das Engagement der Menschen geschaffen werden kann: Reich Gottes hieß immer auch, dass Gott dieses Reich heraufführen muss. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat dafür den Begriff »eschatologischer Vorbehalt« geprägt. Dieser Vorbehalt gegenüber den letzten Dingen (griechisch: Eschata) wirkt in zwei Richtungen. Das Bestehende kann nicht ideologisch abgesichert werden, da es noch nicht das Reich Gottes ist: Die Menschen müssen nach Veränderungen schauen. Aber auch: Menschen können nur Annäherungen an das Reich Gottes erreichen. Eine letzte Erfüllung ist menschlichen Mühen versagt: Gott wird das neue Reich bringen und wie er es tun wird, weiß kein Mensch. Von daher sind Überlegungen von Rudolf Bahro, die »Sünde abzuschaffen«, genauso maßlos und überzogen wie die Überlegungen des jungen Marx, dass mit dem Aufheben der Entfremdung »der neue Mensch« erscheinen werde. Unter die Kritik des eschatologischen Vorbehaltes fallen auch die Versuche der Menschenzüchtung – sei es mit biotechnologischen Mitteln, sei es mit Mitteln einer exklusiven Pädagogik.

Dass Gott in seinem Handeln unverfügbar bleibt, war auch einer der Punkte der christlichen Religions- und Herrschaftskritik, die Karl Barth und seine Kollegen nach dem ersten Weltkrieg gegen die eigenen Leute richteten. Sie geißelten die Selbstgewissheit der Kirchen, die viel zu genau wussten, auf welcher Seite Gott steht und es während des Weltkrieges ja auch immer wieder deutlich gesagt hatten, dass Gott »mit uns« ist. Dagegen hielten die jungen Theologen: Gott ist der ganz Andere. Wenn Gott, der ganz Andere, Herrscher seines Reiches ist, dann kann keine andere Macht diesen Herrschaftsanspruch usurpieren und es kann auch keiner sagen, mit welcher Methode und mit welchem Zeitplan Gott dieses Reich schaffen wird. Überspitzt formuliert: Gott sorgt dafür, dass die Stelle des Herrschenden leer bleibt. Dass Gott irgendwann eine Erlösung heraufführen wird, ist Gegenstand christlicher Hoffnung. Wie er das tun wird, das weigert sich die christliche Tradition – bis auf wenige Ausnahmen – zu wissen. Aber diese Weigerung hält einen Platz frei, den eben nur Gott füllen kann. Kein Mensch, keine Theorie, keine Partei kann diese Stelle einnehmen und eine Umsetzung des neuen Lebens herbeiführen. Sie muss sich an ihrem Anspruch verheben und scheitern, indem sie unmenschlich wird. Dem Mensch bleibt nur das bescheidene Operieren im Vorletzten. Dort ist er der Diskussion und Kritik nach Maßgabe menschlicher Vernunft ausgesetzt und kann sich eben nicht auf einen wie auch immer gearteten göttlichen Willen berufen, dem die anderen sich unterzuordnen hätten. Bei der Säkularisierung der Reich-Gottes-Utopie ging dieser herrschaftskritische Aspekt leider oft verloren, weil Gott sozusagen ersatzlos gestrichen wurde, aber dann unbemerkt etwas anderes diesen Platz einnahm. Wenn es keinen gibt, der den Stuhl des Herrschers freihält, setzt sich wohl früher oder später doch irgendjemand darauf.

Mit anderen Worten: Auch wer den christlichen Glauben nicht teilt, könnte und sollte sich dem Imperativ des Philosophen Christoph Türcke anschließen: Man muss die Welt so interpretieren, als ob es Gott gäbe. Die Hoffnung eines guten Lebens ist kaum angemessen, ohne so etwas wie einen transzendenten Überschuss zu formulieren; das heißt ohne das Wissen darum, dass sich die Herbeiführung des wahren Lebens menschlichen Bemühungen entzieht. Dies heißt nun aber eben gerade nicht, dass solche überschießenden Hoffnungen und ihre säkularen Pendants auf den ideologischen Müllhaufen gehören zugunsten von vermeintlich pragmatischen – in Wahrheit aber ebenso ideologischen – Orientierungen. Im Gegenteil: Solche Hoffnungen sind dringend vonnöten, um die Unverfügbarkeit des neuen Lebens vor übergriffigen Machtansprüchen zu bewahren, um einen Raum für Kritik und Diskussion um den richtigen Weg zum Ziel offen zu halten. Es muss nicht an die alles ändernde Revolution oder die alles klärende Theorie geglaubt werden. Aber es darf auch nicht das Bild des wahren Lebens aufgegeben werden, weil sonst keine neuen und besseren Annäherungen an oder Entsprechungen zu diesem wahren Leben erreicht werden können. Ohne diese Perspektive wird die Macht des Faktischen, also die gerade faktisch existierende Macht, sanktioniert. Ohne solche Hoffnung wird die Welt als die beste aller möglichen Welten ausgegeben, was sie eben nicht sein kann, solange der »Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Das neue Leben des Reiches Gottes befindet sich nach christlicher Tradition in der Dialektik von »schon jetzt« und »noch nicht«. Es gibt Anfänge des neuen Lebens »mitten unter euch«, und doch steht die Vollendung noch aus. Darum geht der Vorwurf, eine Reich-Gottes-Hoffnung vertröste die Menschen auf ein Jenseits, am Gehalt dieser Hoffnung vorbei. Das neue und gute Leben kann ja in Ansätzen schon jetzt gelebt werden. Dies hat durchaus auch eine lebenspraktische Bedeutung. Sehr schön kommt die in der Geschichte von Bertolt Brecht zum Ausdruck, in der Tu kämpfen lernen will, und stattdessen sitzen lernt(14):

»Tu kam zu Me-ti und sagte: ich will am Kampf der Klassen teilnehmen. Lehre mich. Me-ti sagte: Setze dich. Tu setzte sich und fragte: Wie soll ich kämpfen? Me-ti lachte und fragte: Sitzt du gut? Ich weiß nicht, sagte Tu erstaunt, wie soll ich anders sitzen? Me-ti erklärte es ihm. Aber, sagte Tu ungeduldig, ich bin nicht gekommen, sitzen zu lernen. Ich weiß, du willst kämpfen lernen, sagte Me-ti geduldig, aber dazu musst du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen und sitzend lernen wollen. Tu sagte: Wenn man immer nur danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz, wenn man nach Genuss strebt, wie soll man da kämpfen? Me-ti sagte: Wenn man nicht nach Genuss strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will und nicht die beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?«

 

1

Vgl. die verschiedenen Kommentare von Christian Semler zu päpstlichen Äußerungen in: taz vom 4.5.91, taz vom 13.3.00 und taz vom 14.7.03.

2

So sehr deutlich Helmut Gollwitzer: Befreiung zur Solidarität. Einführung in die Evangelische Theologie, München 1978, 99–120.

3

Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/Main 1977.

4

Ein Beispiel dafür habe ich in der Kommune 2/03 gegeben (Die Rückkehr des gerechten Krieges. Über die aktuelle Verwendung eines traditionellen Topos).

5

Helmut Gollwitzer, a. a. O., 141–154.

6

Helmut Gollwitzer, a. a. O., 141.

7

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Studienausgabe. Band 1, hg.v. I.Fetscher, Frankfurt / Main, 1966, 24.

8

So der Titel eines Aufsatzes von Helmut Gollwitzer, erschienen in: ders., Ich frage nach dem Sinn des Lebens, München 1974, 34-64.

9

Karl Marx / Friedrich Engels: Über »Das Kapital«. Briefwechsel, hg.v. H.Skambraks, Berlin 1985, 299. Beide Vorstellungen »feuerten« bzw. feuern nach Marx »die Siegesgewissheit an«.

10

Lukasevangelium 17, 21.

11

Markusevangelium 4, 27–32 u.ö.

12

So z.B. Jürgen Moltmann: Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995.

13

Sehr gut hat diesen Zusammenhang Robert Misik: Mythos Weltmarkt. Vom Elend des Neoliberalismus, Berlin 1997, beschrieben.

14

Bertolt Brecht: Buch der Wandlungen, in: ders., Werke. Band 18, hg. v. W. Hecht u. a., Berlin und Frankfurt 1995, 176f.

 

 

Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 6/03, Dezember 2003.