Veränderungen im Diesseits – aber der neue Mensch muss warten
Hat die Aufklärung nicht bereits das Kapitel
Religionskritik erledigt? Oder kommen wir in zugespitzteren historischen Situationen
erst wieder verstärkt auf das Christentum zurück? Nur geistferne Pragmatiker
können jedenfalls, so unser Autor, die beste aller Welten ins Hier und Jetzt
stellen. Warum aber lebt, trotz aller Verkündungen vom »Ende der Utopien«, die
Utopie vom »guten Leben« in der Gestalt des »Reiches Gottes« weiter?
»Religion
ist Opium des Volkes.« Das war für viele Linke lange Zeit das Ergebnis der
Aufklärung. Kompromittiert hatte sich die in Europa vorherrschende Religion,
das Christentum, nicht nur dadurch, dass es immer wieder die herrschenden
Mächte ideologisch stützte, sondern lange Zeit auch die Aufklärung ablehnte und
bekämpfte – kurz: Es war ein Bundesgenosse der Reaktion. Damit war das
Verhältnis zwischen den Kirchen als den offiziellen Institutionen des
Christentums und der Linken bis weit in die Mitte des letzten Jahrhunderts
festgelegt – für manche mag mit Marx’ Bonmot immer noch alles gesagt sein.
Nun hat
die Dialektik der Aufklärung aber nicht nur negative Konsequenzen wie die
Rationalisierung und Kapitalisierung der Lebenswelten mit sich gebracht,
sondern auch neue Mystifizierungen: Die alten Götter wurden durch neue ersetzt.
Die vermeintlich Religionslosen griffen zu quasi-religiösen Ersatzdrogen, wobei
dahingestellt sein mag, ob die neuen Drogen schädlicher waren als das alte
Opium. Am auffälligsten zeigt das der stalinistische Herrscherkult, aber
keineswegs nur der.
Parallel
entwickelten protestantische Theologen – der prominenteste war der Schweizer
Karl Barth – eine theologische Religionskritik, mit der sie ihren eigenen
Autoritäten zu Leibe rückten und später auch den Herrschern der Welt. Eines
ihrer zentralen Motive war die Königsherrschaft Christi, die die ältere
Metapher vom Reich Gottes aufnimmt.
Aber noch
einmal einen Schritt zurück: Ist das Christentum tendenziell
reaktionär und konservativ oder weisen seine Grundzüge in eine
progressiv-freiheitliche Richtung? Das Problem dabei ist, dass nicht nur
unterschiedliche Vertreter des Christentums zu ganz unterschiedlichen
Positionen kommen – wie etwa George W. Bush und seine religiösen Unterstützer
auf der einen Seite und der Papst mit seiner Meinung zu Krieg und Frieden auf
der anderen Seite. Auch ein und derselbe Papst kann für Frieden im Irak und
eine Landreform in Brasilien streiten und genauso Schwulendiskriminierung
fördern und einen Gehorsam einfordern, wie es sonst nur noch Diktatoren möglich
ist. Karol Wojtylas Äußerungen sind in ihrer Gesamtheit äußerst doppelgesichtig.(1)
Die Linken
unter den Christen mögen darauf hinweisen, dass die Kirche sich und ihre
ursprünglich freiheitliche Botschaft immer wieder an die herrschenden
gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst und so korrumpiert hat.(2) In der Tat
gibt es zahlreiche Beispiele in der Kirchengeschichte, in denen die Theorie den
gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst wurde. Das Beispiel des Papstes
zeigt aber auch, dass dies als Erklärung nicht ausreicht: Manche Borniertheiten
werden von der Kirche gegen den herrschenden Mainstream durchgehalten. Sie
haben ihre Ursache unter anderem darin, dass schon die normative Tradition des
Christentums äußerst doppelgesichtig ist. Diese normative Tradition besteht aus
unterschiedlichen Texten, die in der Bibel gesammelt wurden und Ausgangspunkt
für unterschiedlichste Interpretationen waren und sind: entweder
fundamentalistisch-reaktionär oder freiheitlich-progressiv. Die Vielfalt der
Interpretationen ist ähnlich ernüchternd wie die Bilanz der sich korrumpierenden
Kirche. Freilich sind daran nicht nur die Interpreten schuld. Denn schon innerhalb
der Bibeltexte gibt es eine provozierende Vielfalt. Diese Erkenntnis hat sich
seit der Aufklärung durchgesetzt, als erst die Theologie und später die Kirchen
die historisch-kritische Erforschung ihrer Schriften betrieben und zuließen.
Das Christentum hat eben nicht ein normatives Gründungsdokument, sondern fand
in einer Vielzahl von Schriften, die unterschiedliche Probleme zu verschiedenen
Zeiten auf ganz unterschiedliche Weise reflektierten, ihre normative Tradition.
Gegen alle fundamentalistischen Vereinfacher, die eine eindeutige christliche
Botschaft herstellen wollen, muss an der Vielstimmigkeit des christlichen
Kanons festgehalten werden. Die Tatsache, dass viele Stimmen kanonisiert
wurden, kann aber nur heißen, dass damit der Streit um die Wahrheit kanonisiert
wurde. Von diesem Streit oder Dialog um das, was als christliche Botschaft
gelten soll, kann auch kein Lehramt dispensieren: Der Streit um die richtige
Interpretation der Tradition bleibt Aufgabe aller Christen – spätestens seit
der Aufklärung.
Dialog
über die christliche Botschaft heißt freilich nicht, dass dieselbe der
Beliebigkeit preisgegeben wäre. Die alten Texte provozieren – wie jeder
bedeutungsvolle Text – viele Interpretationsmöglichkeiten. Oder um es mit Umberto
Eco zu sagen, sie geben ein »Feld von Relationen« vor.(3) Ein Feld ist aber
begrenzt und nicht unendlich. Manche Interpretationen können als abwegig
ausgeschlossen oder eben als Akkommodationen an die gesellschaftlichen Verhältnisse
und die Interessen der Mächtigen entlarvt werden.(4)
Um sich in
dem »Feld von Relationen« besser zu orientieren, suchten und suchen Theologen
einen hermeneutischen Leitfaden für die Interpretation der vielstimmigen
Bibeltexte. Ein Schüler von Karl Barth, der Berliner Theologe Helmut
Gollwitzer, hat vorgeschlagen, die Metapher »Reich Gottes« als einen solchen
Leitfaden zu nehmen.(5) In den biblischen Texten gehe es nämlich fast durchweg
um das Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Metapher, die dieses Verhältnis am
umfassendsten beschreibe, sei die des Reiches Gottes. In Gollwitzers Definition
ist das Reich Gottes die »Durchsetzung des gnädigen Willens Gottes gegen alle
Widerstände«. »Gottes Wille geht auf das gute Leben der Menschen, und zwar
jetzt schon in der Vorläufigkeit des gegenwärtigen Lebens, vorausblickend auf
die künftige Vollendung.«(6) Inhaltlich ist dieses »gute Leben« in Details
unterschiedlich beschrieben worden, in Grundzügen ist aber unstrittig, dass die
Utopie darauf zielt, dass alle Menschen gleiche Würde und damit gleiche Rechte
und Lebenschancen haben sollen. So gesehen kann sich der christliche Glaube
eigentlich nie mit dem Bewahren von Werten und dem ideologischen Absichern des
Bestehenden zufrieden geben, auch für ihn gilt der Marx’sche Imperativ, »alle
Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein
geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«(7). Der Glaubende
peilt »Veränderungen im Diesseits«(8) an, in der Erwartung einer radikalen
Veränderung durch Gott.
Das Reich Gottes ist nicht nur eine zentrale Metapher vieler biblischer Texte, sondern ein Bild, das auch außerhalb der Kirchen eine reiche Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Die Vorstellung des Reiches Gottes ist eine der geistesgeschichtlichen Wurzeln des utopischen Denkens: Dass es einmal ein besseres Leben geben soll, dass es eine radikale Erneuerung der Lebensverhältnisse geben kann, dass Leid und Entbehrungen in irgendeiner Weise aufgehoben werden, diese Idee faszinierte viele Denker der Neuzeit in Europa. Die Orientierung auf ein Ziel der Geschichte ist nicht selbstverständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass dies dem fernöstlichen Denken zum Beispiel völlig abgeht. Es lohnt auch an Carl Schmitt zu erinnern, nach dem ja die meisten politischen Begriffe säkularisierte theologische Begriffe sind. Ohne damit irgendwen in irgendein Reich heimholen zu wollen, kann man doch sagen, dass auch die meisten linken Theoretiker in dieser geistesgeschichtlichen Tradition standen und stehen. Karl Marx sah dies sehr deutlich: In einem seiner Briefe parallelisiert er den »Traum der primitiven Christen« im Römischen Reich vom nahen Untergang der Welt mit seiner »wissenschaftlichen Einsicht in die unvermeidbare und stetig unter unseren Augen vorgehende Zersetzung der herrschenden Gesellschaftsordnung«(9). Und genau wie die ersten Christen hatte Marx eine Nah-Erwartung, dass das neue Reich noch zu seinen Lebzeiten entstehen werde.
In der
christlichen Tradition entwickelten sich zwei unterschiedliche
Vorstellungen, wie das Reich Gottes zu den Menschen käme: Entweder durch eine
Katastrophe oder durch eine langsame Entwicklung. Der erste Gedanke wurde
besonders in den Apokalypsen entfaltet. Entstanden im Kontext unterdrückter
Glaubensgemeinschaften konnten sich die Schriftsteller apokalyptischer Werke
eine Wende zum Besseren nur so vorstellen, dass das Reich des Bösen in einer
finalen Endschlacht oder in einem fürchterlichen Weltenbrand zugrunde gehen
würde. Ein langsames Wirken zum Besseren lag nicht in ihrem Horizont, weil die
gesellschaftliche Gestaltungsmacht ihrer Gemeinden zu gering war. Aus der
Marginalisierungserfahrung wuchsen Omnipotenzfantasien. Denn die Schreiber
dieser Werke sahen ihre Gemeinschaften als den heiligen Rest, der dank eines
göttlichen Wunders durch die Katastrophe hindurch gerettet wird.
Aber ebenso
tief in der Tradition verwurzelt ist die Vorstellung einer allmählichen
Entwicklung zu einem Reich Gottes. Das Reich Gottes ist schon »mitten unter
euch«(10) und es wächst wie eine Pflanze, so wird es in Gleichnissen Jesu beschrieben.(11)
Also kein völliger Bruch oder Untergang der bösen Welt, sondern eine
Veränderung des alten Lebens, eine Weiterführung des Neuen, das schon mitten im
Alten angebrochen ist. Nach dieser Vorstellung gibt es doch schon wahres Leben
im falschen. Die sichtbaren Ansätze geben Ziel und Richtung eines neuen Lebens
vor. Allein ex negativo ließe sich kaum eine Utopie entwickeln, Ansätze des
Guten müssen für die Hoffnung vorhanden sein, argumentieren moderne Theologen,
die in der großen Mehrheit diese Variante der christlichen Reich-Gottes-Hoffnung
favorisieren.(12)
Die
säkularisierten Formen dieser theologischen Denkmuster liegen auf der Hand: Für
die Apokalyptiker unter den Linken kommt die neue Gesellschaft erst mit einer
gewalttätigen Revolution oder mindestens einer Übergangszeit, die dem
eigentlichen Ziel entgegensteht: der Diktatur des Proletariats. Dabei dürften
diese Vorstellungen oftmals aus einer Schwäche heraus entwickelt worden sein.
Je machtloser man war, desto eher wurde auf eine Revolution gehofft. Was
freilich nicht der Marx’schen Vorstellung entsprach, der den revolutionären
Umschlag am Zielpunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung gesehen hat; also
beide Muster dialektisch aufeinander bezogen hat.
Diejenigen,
die auf langsame Reformen zum Besseren gesetzt haben, wurden in der Linken
lange diffamiert. Ihnen wurde unterstellt, dass sie mit dem friedlichen Weg den
radikalen Gehalt des Zieles aufgegeben hätten, was in vielen Fällen sicher auch
so war, aber nicht zwangsläufig so sein muss.
Heute
liegt die Herausforderung eher darin, dass manche überhaupt auf eine Zielformulierung
zugunsten eines rein pragmatischen Operierens im Hier und Jetzt verzichten
wollen. Schon der »demokratische Sozialismus« ist den SPD-Oberen zu jenseitig.
Die Forderung, das alte Ziel offiziell zu verabschieden, verrät, dass sich die
reale Politik längst von den Idealen der Bewegung abgekoppelt hat. Das ist
nicht nur entlarvend, es ist auch dumm: Das historische Bewusstsein im Westen –
die eben beschriebenen Traditionen zeigen das – denkt immer linear, also
Geschichte als eine fortschreitende Entwicklung. Wenn die Menschen aber keinen
Fortschritt auf ein Ziel hin sehen – weil das Ziel aufgegeben oder
diskreditiert wird oder weil das »Ende der Geschichte« sowie die
Alternativlosigkeit der herrschenden Politik erklärt wird –, dann wird die
Entwicklung zwangsläufig als Dekadenz wahrgenommen, als Verfall von einem guten
Zustand zu einem schlechteren.(13) Vulgo: Den Mallorca-Alten gehts viel besser
als den nachfolgenden Generationen. So gut wie früher, wirds nie wieder. Dass
diese Stimmung nur sehr begrenzt durch die Entwicklung des gesellschaftlichen
Wohlstandes gedeckt wird, zeigt, dass sie eben viel mehr durch die Entwicklung
der ideologischen Produktion bestimmt ist. Daran haben die vermeintlich pragmatischen
Prediger der Alternativlosigkeit ihren Anteil.
Beiden
Formen der christlichen Hoffnung gemein ist die Erwartung, dass
das Reich Gottes nicht durch das Engagement der Menschen geschaffen werden
kann: Reich Gottes hieß immer auch, dass Gott dieses Reich heraufführen muss.
Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat dafür den Begriff
»eschatologischer Vorbehalt« geprägt. Dieser Vorbehalt gegenüber den letzten
Dingen (griechisch: Eschata) wirkt in zwei Richtungen. Das Bestehende kann
nicht ideologisch abgesichert werden, da es noch nicht das Reich Gottes ist:
Die Menschen müssen nach Veränderungen schauen. Aber auch: Menschen können nur
Annäherungen an das Reich Gottes erreichen. Eine letzte Erfüllung ist
menschlichen Mühen versagt: Gott wird das neue Reich bringen und wie er es tun
wird, weiß kein Mensch. Von daher sind Überlegungen von Rudolf Bahro, die
»Sünde abzuschaffen«, genauso maßlos und überzogen wie die Überlegungen des
jungen Marx, dass mit dem Aufheben der Entfremdung »der neue Mensch« erscheinen
werde. Unter die Kritik des eschatologischen Vorbehaltes fallen auch die
Versuche der Menschenzüchtung – sei es mit biotechnologischen Mitteln, sei es
mit Mitteln einer exklusiven Pädagogik.
Dass Gott
in seinem Handeln unverfügbar bleibt, war auch einer der Punkte der
christlichen Religions- und Herrschaftskritik, die Karl Barth und seine
Kollegen nach dem ersten Weltkrieg gegen die eigenen Leute richteten. Sie
geißelten die Selbstgewissheit der Kirchen, die viel zu genau wussten, auf
welcher Seite Gott steht und es während des Weltkrieges ja auch immer wieder
deutlich gesagt hatten, dass Gott »mit uns« ist. Dagegen hielten die jungen
Theologen: Gott ist der ganz Andere. Wenn Gott, der ganz Andere, Herrscher
seines Reiches ist, dann kann keine andere Macht diesen Herrschaftsanspruch
usurpieren und es kann auch keiner sagen, mit welcher Methode und mit welchem
Zeitplan Gott dieses Reich schaffen wird. Überspitzt formuliert: Gott sorgt
dafür, dass die Stelle des Herrschenden leer bleibt. Dass Gott irgendwann eine
Erlösung heraufführen wird, ist Gegenstand christlicher Hoffnung. Wie er das
tun wird, das weigert sich die christliche Tradition – bis auf wenige Ausnahmen
– zu wissen. Aber diese Weigerung hält einen Platz frei, den eben nur Gott
füllen kann. Kein Mensch, keine Theorie, keine Partei kann diese Stelle einnehmen
und eine Umsetzung des neuen Lebens herbeiführen. Sie muss sich an ihrem
Anspruch verheben und scheitern, indem sie unmenschlich wird. Dem Mensch bleibt
nur das bescheidene Operieren im Vorletzten. Dort ist er der Diskussion und
Kritik nach Maßgabe menschlicher Vernunft ausgesetzt und kann sich eben nicht
auf einen wie auch immer gearteten göttlichen Willen berufen, dem die anderen
sich unterzuordnen hätten. Bei der Säkularisierung der Reich-Gottes-Utopie ging
dieser herrschaftskritische Aspekt leider oft verloren, weil Gott sozusagen
ersatzlos gestrichen wurde, aber dann unbemerkt etwas anderes diesen Platz
einnahm. Wenn es keinen gibt, der den Stuhl des Herrschers freihält, setzt sich
wohl früher oder später doch irgendjemand darauf.
Mit
anderen Worten: Auch wer den christlichen Glauben nicht teilt, könnte und
sollte sich dem Imperativ des Philosophen Christoph Türcke anschließen: Man
muss die Welt so interpretieren, als ob es Gott gäbe. Die Hoffnung eines guten
Lebens ist kaum angemessen, ohne so etwas wie einen transzendenten Überschuss
zu formulieren; das heißt ohne das Wissen darum, dass sich die Herbeiführung
des wahren Lebens menschlichen Bemühungen entzieht. Dies heißt nun aber eben
gerade nicht, dass solche überschießenden Hoffnungen und ihre säkularen
Pendants auf den ideologischen Müllhaufen gehören zugunsten von vermeintlich
pragmatischen – in Wahrheit aber ebenso ideologischen – Orientierungen. Im
Gegenteil: Solche Hoffnungen sind dringend vonnöten, um die Unverfügbarkeit des
neuen Lebens vor übergriffigen Machtansprüchen zu bewahren, um einen Raum für
Kritik und Diskussion um den richtigen Weg zum Ziel offen zu halten. Es muss
nicht an die alles ändernde Revolution oder die alles klärende Theorie geglaubt
werden. Aber es darf auch nicht das Bild des wahren Lebens aufgegeben werden,
weil sonst keine neuen und besseren Annäherungen an oder Entsprechungen zu
diesem wahren Leben erreicht werden können. Ohne diese Perspektive wird die
Macht des Faktischen, also die gerade faktisch existierende Macht,
sanktioniert. Ohne solche Hoffnung wird die Welt als die beste aller möglichen
Welten ausgegeben, was sie eben nicht sein kann, solange der »Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.
Das neue
Leben des Reiches Gottes befindet sich nach christlicher Tradition in der
Dialektik von »schon jetzt« und »noch nicht«. Es gibt Anfänge des neuen Lebens
»mitten unter euch«, und doch steht die Vollendung noch aus. Darum geht der Vorwurf,
eine Reich-Gottes-Hoffnung vertröste die Menschen auf ein Jenseits, am Gehalt
dieser Hoffnung vorbei. Das neue und gute Leben kann ja in Ansätzen schon jetzt
gelebt werden. Dies hat durchaus auch eine lebenspraktische Bedeutung. Sehr
schön kommt die in der Geschichte von Bertolt Brecht zum Ausdruck, in der Tu
kämpfen lernen will, und stattdessen sitzen lernt(14):
»Tu kam zu
Me-ti und sagte: ich will am Kampf der Klassen teilnehmen. Lehre mich. Me-ti
sagte: Setze dich. Tu setzte sich und fragte: Wie soll ich kämpfen? Me-ti
lachte und fragte: Sitzt du gut? Ich weiß nicht, sagte Tu erstaunt, wie soll
ich anders sitzen? Me-ti erklärte es ihm. Aber, sagte Tu ungeduldig, ich bin
nicht gekommen, sitzen zu lernen. Ich weiß, du willst kämpfen lernen, sagte
Me-ti geduldig, aber dazu musst du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen und
sitzend lernen wollen. Tu sagte: Wenn man immer nur danach strebt, die
bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz,
wenn man nach Genuss strebt, wie soll man da kämpfen? Me-ti sagte: Wenn man
nicht nach Genuss strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will
und nicht die beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?«
1
Vgl. die
verschiedenen Kommentare von Christian Semler zu päpstlichen Äußerungen in: taz
vom 4.5.91, taz vom 13.3.00 und taz vom 14.7.03.
2
So sehr
deutlich Helmut Gollwitzer: Befreiung zur Solidarität. Einführung in die
Evangelische Theologie, München 1978, 99–120.
3
Umberto Eco:
Das offene Kunstwerk, Frankfurt/Main 1977.
4
Ein
Beispiel dafür habe ich in der Kommune 2/03 gegeben (Die Rückkehr des
gerechten Krieges. Über die aktuelle Verwendung eines traditionellen Topos).
5
Helmut
Gollwitzer, a. a. O., 141–154.
6
Helmut
Gollwitzer, a. a. O., 141.
7
Karl Marx:
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx /
Friedrich Engels: Studienausgabe. Band 1, hg.v. I.Fetscher, Frankfurt / Main,
1966, 24.
8
So der
Titel eines Aufsatzes von Helmut Gollwitzer, erschienen in: ders., Ich frage
nach dem Sinn des Lebens, München 1974, 34-64.
9
Karl Marx /
Friedrich Engels: Über »Das Kapital«. Briefwechsel, hg.v. H.Skambraks, Berlin
1985, 299. Beide Vorstellungen »feuerten« bzw. feuern nach Marx »die
Siegesgewissheit an«.
10
Lukasevangelium
17, 21.
11
Markusevangelium
4, 27–32 u.ö.
12
So z.B.
Jürgen Moltmann: Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995.
13
Sehr gut hat diesen Zusammenhang Robert Misik: Mythos
Weltmarkt. Vom Elend des Neoliberalismus, Berlin 1997, beschrieben.
14
Bertolt
Brecht: Buch der Wandlungen, in: ders., Werke. Band 18, hg. v. W. Hecht u. a.,
Berlin und Frankfurt 1995, 176f.
Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
6/03, Dezember 2003.