Siegfried Knittel
Clash der Kulturen hier zu Lande
Das Kopftuch – kein Mehr an Selbstbestimmung
Verkehrte Welt. Eine nicht
geringe Zahl derjenigen, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum
Kruzifix im Klassenzimmer begrüßten, plädiert im Streit um das
Lehrerinnenkopftuch im Klassenzimmer für die Akzeptanz des Zur-Schau-Tragens
einer kulturell-religiösen Überzeugung. Dabei widerspricht das Kopftuch in
eklatanter Weise jenem aufklärerischen Geist, in dessen Namen der Kampf gegen
das Kruzifix im Klassenzimmer geführt wurde: Es ist Ausdruck einer aus Religion
und kultureller Tradition begründeten Ungleichheit von Mann und Frau. Diese
Botschaft ist mit dem für westliche Gesellschaften konstitutiven
Gleichheitsgrundsatz und dem Recht auf individuelle Selbstbestimmung nicht
vereinbar. Sie steht auch in diametralem Widerspruch zu den Errungenschaften
der Emanzipationsbewegung von 1968, dem erfolgreichen Kampf gegen eine
paternalistisch-autoritäre Gesellschaft.
In Interviews mit jungen Muslima ist immer wieder das
Argument zu hören, das Tragen des Kopftuchs verhelfe ihnen zu einem Mehr an
individueller Selbstbestimmung. Die zwei wichtigsten angeführten Gründe sind
das Bedürfnis nach einer Identität, die die Mädchen oder jungen Frauen in der
Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit westlicher Wertmaßstäbe nicht zu
finden glauben und die sie im Bezug auf eine strikte Orientierung vermittelnde
Lehre zu finden hoffen. Das Kopftuch ist dann Ausdruck der Einordnung in das
repressive, aber auch Orientierung vermittelnde Wertesystem vieler islamischer
Gesellschaften.
Zum andern wollen Frauen aus islamischen Gesellschaften
durch das Tragen des Kopftuchs verhindern, in der Öffentlichkeit zum Objekt
männlich-sexuellen Begehrens zu werden und auf diese Weise zu einer eigenen,
von den Männern unabhängigen Selbstbestimmung gelangen. Das mag eine kluge
Strategie sein, mittels derer die Frauen gewissermaßen Ort und Zeit der
sexuellen Begegnung bestimmen; und doch ist der Rahmen, innerhalb dessen sie
sich mit ihren Wünschen zeigen, durch ein patriarchalisches Ordnungssystem
vordefiniert. Das Verstecken mag selbstbewusste List sein, aber die List ist
die Waffe des Schwächeren, der damit seine Schwäche kompensieren muss. Von der
Idee einer Gesellschaft, die allen Individuen dieselben Vorraussetzungen zur
Realisierung ihrer Möglichkeiten bietet, ist ein solches Denken weit entfernt.
Allerdings
ist die Vorstellung von der Gleichheit der Geschlechter auch hier zu
Lande nur ein Sollwert. Im Berufsleben ist die faktische Chancengleichheit der
Geschlechter noch längst nicht realisiert, Frauen erhalten noch immer weniger
Lohn und haben die schlechteren Beförderungschancen. Der Gültigkeit des
Gleichheitsgrundsatzes und des Rechts zu individueller Selbstbestimmung und
freier Selbstentfaltung aber tut das keinen Abbruch. Er muss, wenn das Recht
auf Gleichheit und freie Selbstentfaltung universell gültige Menschenrechte
sind, meiner Ansicht nach auch für diejenigen gelten, die aus Gesellschaften zu
uns gekommen sind, in denen patriarchalische religiöse und kulturelle
Traditionen sehr viel weniger hinterfragt werden und die Menschen ihnen deshalb
noch weit stärker verhaftet sind.
Da Staat und Gesellschaft hier zu Lande auf dem
Gleichheitsgrundsatz aufbauen, handelt der Staat nach meinem Dafürhalten seiner
eigenen Wertegrundlage zuwider, wenn er es seinen Repräsentanten in ihrem
dienstlichen Auftreten gestattet, sich diesem Gleichheitsgrundsatz
entgegenzustellen. Besonders signifikant ist diese Notwendigkeit bei
Lehrerinnen, die für ihre Schüler eine besondere Vorbildfunktion haben und die
durch ihre äußere Erscheinung die für unser gesellschaftliches Zusammenleben
grundlegenden Werte der Gleichheit und des Rechts auf freie Selbstbestimmung
nicht negieren dürfen.
Als Privatperson ist es einer im öffentlichen Dienst
beschäftigten Muslima freigestellt, das Kopftuch als Zeichen ihrer Unterordnung
unter den Mann zu tragen, gleich, frei und selbstbestimmt zu leben kann man
niemand aufzwingen. Sie muss aber zwischen dem, was sie privat glaubt oder aus sozialisationsbedingten
Gründen praktiziert, und dem, was sie von Amts wegen zu vertreten hat,
unterscheiden.
Nun ist auch die Religionsfreiheit, auf die sich Frau Ludin
und das Bundesverfassungsgericht beziehen, ein wichtiger Wert unserer
Gesellschaft, aber sie ist nach meinem Dafürhalten gegenüber der Gleichheit und
dem Recht auf individuelle Selbstbestimmung ein zweitrangiger Wert, weil die
freie Religionswahl sich erst aus dem Recht auf freie Selbstbestimmung ergibt.
Dort, wo die ausgeübte Religionsfreiheit mit diesen beiden Werten in Konflikt
kommt, müssen diese Vorrang haben.
Dies gilt auch im privaten Bereich, in dem das Recht auf
freie Religionsausübung sowie die Befolgung kultureller Normen am wenigsten in
Frage stehen. Wenn etwa Eltern ihre Kinder vom Sportunterricht glauben abmelden
zu müssen, weil dort das Tragen eines Kopftuchs nicht möglich ist, oder ihre
Kinder, wie im jüngsten Fall eines fundamentalchristlichen Ehepaares in Hessen,
wegen der dort gelehrten »unchristlichen« Inhalte gar nicht zur Schule
schicken, dann hat das Recht der Kinder auf die freie Selbstentfaltung ihrer
Persönlichkeit den Vorrang vor dem Recht auf freie Religionsausübung der
Eltern.
In einem
Interview mit der taz (22.9.03) erklärte Fereshta
Ludin, der Staat verhalte sich gegenüber dem Christentum neutral, sage aber den
Muslimen, »bitte raus, ihr seid uns fremd«. Frau Ludin hält wohl die Muslime
als eine in diesem Land auf Grund ihrer Normen und Werte nicht erwünschte
Gruppe, für die sie die Anerkennung ihrer religiös-kulturellen Eigenheit
fordert. Gruppensonderrechte aber kann es in einer Gesellschaft, die auf dem
Recht individueller Gleichberechtigung basiert, nicht geben.
Die Existenz verschiedener gleichberechtigter Gruppenrechte
aber berge die Gefahr einer Aufspaltung unserer Gesellschaft in
Teilgesellschaften mit divergierenden Selbstverständnissen in sich. Der soziale
Frieden wäre damit langfristig gefährdet, weil dies einer Entwicklung Vorschub
leisten würde, bei der soziale Gruppen mit divergierenden Wertesystemen, die
sie in verabsolutierender Weise vertreten, sich als Gegner gegenüberstünden.
Mir scheint, für Fereshta Ludin ist das Tragen des Kopftuchs
ein solch absoluter, nicht verhandelbarer Wert. Sie betrachtet das Verbot des
Tragens des Kopftuchs nicht als Verhaltenskritik, sondern sieht sich damit
unmittelbar als Person negiert. Damit wird die Kopftuchfrage zu einem
Alles-oder-nichts-Spiel. Das Zusammenleben von Gruppen aus sehr verschiedenen
Kulturen, Religionen und Wertsystemen kann, so denke ich, aber nur dann
funktionieren, wenn man zu einem diskursiven Umgang miteinander findet, das
heißt Argumente austauscht und nicht auf unverhandelbaren Wahrheiten beharrt.
Dazu aber bedarf es wiederum der Anerkennung des Gleichheits- und
Selbstentfaltungsgrundsatzes. Diese beiden Werte sind nicht verhandelbar,
sondern müssen a priori anerkannt werden.
Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
6/03, Dezember 2003.