Victor Pfaff
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wurde in weiten Teilen der Öffentlichkeit als Ausdruck einer »feigen« Zurückhaltung begriffen. Die rechtliche Landschaft, mit der es das Gericht zu tun hat, zeigt aber, dass es sich um eine ungerechte Bewertung handelt. Denn das Gericht betonte in seiner Entscheidung gerade die Notwendigkeit einer öffentlichen Meinungsbildung. Der Streit um Verfassungsgrundsätze, Religions- und individuelle Freiheitsrechte ist also eine Notwendigkeit – wie auch die kontroversen Beiträge unserer Autoren verdeutlichen.
Es
sind die in der Abstimmung unterlegenen drei Richter des 2. Senats des
Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG), die, an die Adresse der Senatsmehrheit
gerichtet, von »Kampf« und »Schlacht« reden: »Es ist deshalb ein Irrtum zu
glauben, mit der Betonung grundrechtlicher Positionen ... könne ein weiteres
Mal – nach dem Kampf gegen das Institut des besonderen Gewaltverhältnisses
– eine Schlacht für die Freiheitsidee des Grundgesetzes geschlagen
werden.« Das Gegenteil sei der Fall, die Freiheit der Eltern und Schüler werde
verkürzt. Gleich mehrfach habe die Mehrheit des Senats mit seiner Entscheidung
gegen das Grundgesetz verstoßen. Hört! Das BVerfG wirft dem BVerfG
Verfassungsbruch vor. Hätte Frau Ludin je böse Absicht gehegt, sie könnte
triumphieren.
Der
Krach ist nur deshalb nicht ohrenbetäubend, weil er aufgeht im europäischen
Kopftuch-Schlachtenlärm. Schweden hat es im Augenblick am schlimmsten erwischt.
In einem Gymnasium in Göteborg sitzen Mädchen aus Somalia im »Nikab«:
Totalfinsternis mit Spähschlitz. Die Franzosen verteidigen in Schule und
Universität ihren Laizismus, indem sie Schülerinnen und Studentinnen das
Kopftuchtragen im Unterricht verbieten. Die Ata-Türken geben Stoff fürs
Kabarett: Präsident Sezer lädt zu sich nur diejenigen Abgeordneten mit Ehefrauen
ein, von denen er weiß, dass ihre Gemahlinnen kopftuchlos vor die Haustür
treten. In den Abruzzen steht das Kreuz auf verlorenem Posten: Ein Richter hat
es auf muslimische Klage hin aus dem Klassenzimmer verbannt.
Die
Kopftuch-Entscheidung des BVerfG hat die Presse bitter enttäuscht. Die
Journalisten hatten ihre Artikel auf den Oktroy vorbereitet, hü oder hott, ganz
egal, aber eben eins von beiden – und haben ihn nicht bekommen. »Feige
Richter«, »Drückeberger« sind die fünf gescholten worden – unisono in der FAZ
von R. Müller, in der Zeit von Klingst, in der SZ von Prantl,
in der FR von Gaserow – und anderswo. »Ratlos«, das war noch die
mildeste Schelte. – Das Gegenteil ist richtig: Ein mutiges und kluges Urteil
haben die fünf Weisen von Karlsruhe gefällt. Warum?
Offenbar
ist übersehen, jedenfalls nicht ausreichend bedacht worden, welche
tatsächlichen und rechtlichen Vorgaben das Gericht zu beachten hatte, abgesehen
von den Grundgesetznormen. In mehreren Bundesländern unterrichten betuchte
Musliminnen völlig unbeanstandet. In Nordrhein-Westfalen, in Hamburg. Wäre die
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes bestätigt worden, hätten diese
Lehrerinnen den Dienst quittieren oder das Tuch ablegen müssen und es
wäre eine wichtige Erfahrung gewaltsam beendet worden. Die von einer solchen
Entscheidung unmittelbar betroffenen Menschen hätten nicht verstanden, was
passiert wäre.
Andererseits
konnte das BVerfG nicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte (EGMR) ignorieren. Im Gegenteil, das Gericht hat in seinem
Urteil auf die Entscheidung der Straßburger Richter vom 15.2.01 hingewiesen.
Folgender Fall war zu entscheiden gewesen: Eine schweizerische Lehrerin war vom
Katholizismus zum Islam konvertiert und unterrichtete dann jahrelang mit
Kopftuch Kinder im Alter von vier bis acht Jahren, von keiner Seite
beanstandet, ganz wie in Deutschland. Dann hatte ihr die Schulverwaltung das
Tragen des Tuchs im Unterricht verboten. Gegen die Entscheidung des
schweizerischen Bundesgerichtes hatte sie Menschenrechtsbeschwerde erhoben
unter Berufung auf die in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention
verankerte Religionsfreiheit. Der EGMR entschied, dass das Verbot ein
»berechtigtes Ziel« verfolge, welches »in einer demokratischen Gesellschaft
notwendig« und »nicht unverhältnismäßig« sei und deswegen nicht gegen Art. 9
EMRK verstoße. Und nun muss man wissen: Die Rechtsprechung des EGMR ist von den
Mitgliedstaaten zu beachten. Das BVerfG konnte sich darüber nicht einfach
hinwegsetzen.
Die
Karlsruher Richter haben Gutachten in Auftrag gegeben und die Gutachter in mündlicher
Verhandlung befragt und gehört. Diese haben festgestellt, dass das Kopftuch,
was jeder aufmerksame Beobachter auch schon vorher wissen konnte, keineswegs
Zeichen einer religiös-politischen Haltung und schon gar nicht Ausdruck eines
Missionierungswillens sein muss. (Nicht der Islam, das Christentum
verpflichtet seine Anhänger zur Mission.) Zwar haben die Richter vom
Bundesverwaltungsgericht die unsinnige Feststellung übernommen, die Wirkung des
Kopftuches erreiche eine »besondere Intensität«, weil die Schüler ihr nicht
ausweichen könnten. Umgekehrt wird eher ein Stiefel draus: Am dritten Tag haben
die Schüler vergessen, dass die Lehrerin so ein Ding auf dem Kopf hat. Zugleich
aber haben die Richter darauf hingewiesen, dass der »religiöse Aussagegehalt
eines Kleidungsstücks von der Lehrkraft den Schulkindern differenzierend
erläutert und damit in seiner Wirkung abgeschwächt werden« kann. Die Richter
plädieren auf dem Weg zur Integration für gegenseitiges Verständnis: »Ein
tolerantes Miteinander mit Andersgesinnten könnte hier (in der Schule) am
nachhaltigsten durch Erziehung geübt werden. Dies müsste nicht die Verleugnung
der eigenen Überzeugung bedeuten, sondern böte die Chance zur Erkenntnis und
Festigung des eigenen Standpunktes und zu einer gegenseitigen Toleranz, die
sich nicht als nivellierender Ausgleich versteht. Es ließen sich deshalb Gründe
dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und
als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen
Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten.«
Mit
dieser Geisteshaltung knüpfen die Richter, anders als ihre Kollegen in
Straßburg, an beste europäische Tradition antiker Denkschulen und der
Aufklärung an. Oder anders: Hier hat Lessings Nathan gesprochen.
Frau
Ludin beruft sich auf Art. 4 Grundgesetz. Die Religionsfreiheit gehört zu den vorbehaltlosen
Grundrechten. Aber auch das elterliche Erziehungsrecht (Art. 7) ist im
Grundgesetz vorbehaltlos garantiert. Beharren beide Seiten auf Inanspruchnahme
ihrer verfassungsrechtlich garantierten Positionen, kann es – wie im
vorliegenden Fall behauptet – zu Konflikten kommen. Die Grenzen können dann nur
verfassungsimmanent bestimmt werden. Diese Grenzziehung habe, so die
Richter, der Gesetzgeber, nicht die Verwaltung vorzunehmen. Es könne nicht von
Fall zu Fall beliebig entschieden werden, was hinnehmbar und was nicht mehr
erträglich sei. Schließlich sei der Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten.
Und
noch einen Gesichtspunkt haben die Richter genannt: »Nach der Verfassung sind
die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und der Ausgleich zwischen
kollidierenden Grundrechten aber dem Parlament vorbehalten, um sicherzustellen,
dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das
der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu
vertreten, und die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von
Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären.« (H. V. U.)
Auch
in dieser Passage wird die demokratiestärkende Haltung der fünf Richter, die
die Entscheidung verantworten, deutlich. Wenn die Landesregierungen Bayerns und
Baden-Württembergs jetzt ruck-zuck Gesetzentwürfe vorgelegt haben, dann zeigt
dies: Sie scheuen die öffentliche Debatte. Sie wollen mit ihren fetten
Mehrheiten schnell Landesgesetze verabschieden lassen, ohne dass der
Öffentlichkeit Gelegenheit eingeräumt wäre, sich eine Meinung zu bilden. Wir
wissen zum Beispiel aus der Walser-Bubis-Debatte, dass es Monate dauern kann
und vieler Beiträge bedarf, verschiedene Auffassungen zu beleuchten und eine
gefestigte öffentliche Überzeugung herauszubilden. Und hatten nicht, um ein
anderes Beispiel zu erwähnen, Willy Brandt und die SPD später bedauert, in der
ersten Hälfte der siebziger Jahre mit den so genannten
Ministerpräsidentenbeschlüssen kommunistisch gesinnte Personen aus dem
öffentlichen Dienst entfernt zu haben? Wahrlich, nicht weniger komplex ist die
Kopftuchdebatte. Erst allmählich erscheinen Beiträge, welche die Dimension der
Auseinandersetzung klar machen.
Zur
Polarisierung trägt die Begründung des baden-württembergischen Gesetzentwurfes
erfreulich bei: »Die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und
Kulturwerte oder Traditionen entspricht der Landesverfassung.« Also Kreuz rein,
Kopftuch raus. Mit diesem Satz greift die Teufel-Regierung nicht nur das
jüngste Urteil des BVerfG, sondern hinterrücks auch das Kruzifix-Urteil an. Das
Kopftuch dagegen, so weiter die Entwurfsbegründung, gehöre aus dem Schulunterricht
verbannt, weil es »bei Schülern und Eltern den Eindruck (!) hervorrufen kann,
gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verstoßen«. Das
Rotkäppchen aber – bekanntlich barg es das auf dem Kopf geknotete Haar unter
schwälmer Tracht – darf unterrichten: Bei ihm hätten wir nicht den Eindruck,
es verstieße gegen die Grundordnung ... Der Bundesaußenminister wird es in
Zukunft schwer haben, von Iran die Einhaltung der universell geltenden
Menschenrechte zu verlangen, wenn eine solche Auffassung Gesetzeskraft erlangt.
Mark Siemons hat es klar ausgesprochen: »Beim Kopftuch scheint es in
Wirklichkeit ja gar nicht um universalistische Prinzipien zu gehen, sondern um
die Vorherrschaft einer Kultur« (FAZ, 13.11.03). Spätestens jetzt ist es
Zeit, den parteienübergreifenden Drang nach einem »Integrationsgesetz« neu zu
bewerten.
Die »sexuelle Nichtverfügbarkeit«
Eine
der Sachverständigen, Frau Dr. Karakasoglu, trug vor Gericht vor, unter anderem
werde das Kopftuch getragen als Zeichen der sexuellen Nichtverfügbarkeit.
Greifen wir für die geforderte Debatte diesen Aspekt heraus. Es ist
erstaunlich: Bislang ist ein Thema fast ganz ausgespart worden, obwohl es dem
Kopftuch wahrlich am nächsten liegt: Das Haar. Das Kopftuch ist in aller Munde,
vom Haar redet niemand. Dabei stellen wir fest, dass die europäische Kultur und
das Haar fast Synonyme sind. Mit der Geburt der (geschrieben überlieferten)
Poesie ist auch das Haar geboren: Bei Archilochos, bei Sappho. Im Hohelied
Salomos wird das Haar besungen (»Dein Kopf auf dir/ wie der Karmel/ und das
offene Haar deines Kopfes/ wie Purpur-/ ein König ist verstrickt ins Gelock«,
VII 6 oder: »Dein Haar/ wie eine Herde Ziegen/ die herabwogen vom Gil’ad«, IV
1, Übersetzung Reichert). Man stelle sich die Freskenmalerei seit Pompei und
die Malerei seit Dürer ohne Haar vor. Ist das Buch über das Haar im Film schon
geschrieben? Das Haar spielt in der gesamten europäischen Kulturgeschichte eine
wichtige Rolle als erotische Metapher mit ihrer Spannweite bis zum Tod (Celan).
Das
ist aber nur die eine Hälfte. Die andere: Die erotische Imagination hat sich in
dieser europäischen Tradition als öffentliche Kraft etabliert. Eros als
Liturgie: Liturgie bedeutete ursprünglich: Der Beitrag der Mitglieder der
Gemeinde zum Wohlergehen des Ganzen; man kann es so formulieren: Erotik als
öffentlicher Dienst. Aphrodite hat viele Beinamen, aber eben auch diesen:
Aphrodite Pandemos: Die dem ganzen (attischen) Volk Gemeinsame. Properz,
Catull, Ovid – sie haben geistreich und witzig das Spiel mit erotischen
Phantasien gespielt.
Also
ist das Kopftuch ein Atavismus. Der Vorstellung, es bedürfe des Kopftuches als
Zeichen der »sexuellen Nichtverfügbarkeit« (BVerfG), liegt aus europäischer
Sicht ein Missverständnis zugrunde. Das Haar ist zwar nicht Zeichen der sexuellen
Verfügbarkeit, wohl aber der erotischen. Der Schritt zur öffentlichen
Darstellung und gleichzeitigen Sublimierung der erotischen persona, den
das Altertum nicht erst mit Praxiteles’ Aphrodite von Knidos, der ersten völlig
unbekleideten Aphrodite-Skulptur, gemacht hat, ist von den meisten
Gesellschaften des Vorderen und Mittleren Orients unter dem Islam nicht
mitgegangen worden. In Europa hat das Christentum zeitweise versucht, diese
Lebenskraft umzumünzen in fromme Unterwürfigkeit. Die Renaissance hat dem ein
Ende gesetzt.
Und
zweitens: Die Selbstbestimmung bewährt sich nicht durch Kaschieren des
Weiblichen, wofür das Kopftuch steht. Octavio Paz, damals schon 80 Jahre alt,
hat in seinem Buch Die doppelte Flamme – Liebe und Erotik nachgezeichnet,
dass die Emanzipation der Frau im hellenistischen Griechenland, im Rom der
Antike, in der Zeit der höfischen Liebe stets ein subversiver Akt, eine Häresie
war, die mit freierem Leben der Frau und mit unverhohlenem
Selbstbekenntnis zur Weiblichkeit einherging. Übrigens spielte dabei die
arabische Form der cortesia, die die Kreuzzügler in Spanien kennen
gelernt haben, eine besonders fruchtbare Rolle (Paz, 97 f.).
Ganz
ohne Häme: Lassen wir Frau Ludin (mit Kopftuch) unterrichten über die persische
und arabische Liebeslyrik der islamischen Zeit. Die Schüler würden entdecken,
dass die Augenbraue von großen Poeten des Vorderen und Mittleren Orients
in immer neuen und immer kühneren Bildern besungen wurde, von Hafis, von Nezami
– genau wie das Haar in Europa. Der winzige Haarstreifen über dem Auge, über
dem Eingang zur Seele, genügte, eine Kultur verführerischer Phantasie gedeihen
zu lassen und sie öffentlich zu machen. Diese orientalische Poesie lehrt
uns: Das Kopftuch ist unzulänglich, es erfüllt seinen Zweck gar nicht.
Konsequent ist allein die Burqa.
Alles
das sind freilich weder Argumente gegen diese oder jene Frau, die es vorzieht,
ihr Haar in der Öffentlichkeit zu bedecken, noch sind es Argumente, das Tragen
des Kopftuches im Unterricht zu verbieten. Auch das Verbot des Kopftuchs ist
ein Atavismus.
Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
6/03, Dezember 2003.