István Eörsi

Sontag und Kertész

 

Oder: Über ein entscheidendes Dilemma unserer Zeit

 

Reden von Susan Sontag und Imre Kertész sind der Ausgangspunkt für Fragen, die sich unserem Autor zur aktuellen Weltpolitik aufwerfen. Ist Saddam mit Hitler vergleichbar, gibt es Parallelen zwischen der Lage von 1938 und heute? Bedrohte Saddam den Weltfrieden, wie Kertész in seiner Rede andeutet? Kommt mit der Doktrin des präventiven Krieges eine Dynamik in Gang, die unter Umgehung völker- und kriegsrechtlicher Prinzipien in letzter Instanz auch staatsterroristische Aktionen begünstigen wie etwa das bewusste Inkaufnehmen der Tötung von Zivilpersonen bei israelischen Kommandoaktionen?

 

Ich beginne mit zwei Zitaten. Das erste stammt aus der Rede von Susan Sontag, die die Schriftstellerin am 30. März dieses Jahres gehalten hat. Anlass war die Verleihung des Oscar-Romero-Menschenrechtspreises an Ishai Menuchin, den Präsidenten der Bewegung israelischer Soldaten, die selektive Befehlsverweigerung üben – derjenigen Soldaten also, die nicht bereit sind, außerhalb der Grenzen von 1967 Dienst zu tun. »Es liegt nicht im Interesse von Israel, ein Unterdrücker zu sein.« Und: »Es liegt nicht im Interesse der Vereinigten Staaten, eine Hypermacht zu sein, die jedem anderen Land der Welt nach Belieben ihren Willen aufzwingen kann.«

Das zweite Zitat ist mit dem Namen Imre Kertész verbunden. Der Literaturnobelpreisträger richtete am 3. Oktober dieses Jahres in einer Rede zum Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands an seine Zuhörer die poetische Frage: »Wie konnte es kommen, dass der irakische Diktator, dieser späte Schüler Hitlers und Stalins, im Verlauf von pazifistischen Massenerhebungen zu einer fast annehmbareren Figur für Europa wurde als der verfassungsgemäß alle vier Jahre neu wählbare beziehungsweise ablösbare Präsident der USA?« Die Demonstrationen, die in Deutschland und auch weltweit stattfanden und den Irakkrieg verurteilten, vermittelten Kertész den Eindruck, »als stünde Europa heute vor den gleichen Fragen wie 1919 oder 1938 und ringe ebenso unsicher mit ihnen wie damals.«

Die Assoziation zu 1938, also München und die Auslieferung der Tschechoslowakei an Hitler, taucht in Kertész’ Rede später noch einmal auf, kann also kein Versprecher sein. Kertész denkt tatsächlich im Ernst, Saddam und Hitler hätten eine annähernd gleich große Gefahr für die Welt bedeutet. »Wie viele Amerikaner wissen [fragt Sontag], dass der Irak 24 Millionen Einwohner hat, von denen die Hälfte Kinder sind?« In Amerika leben 290 Millionen – fügt sie hinzu. Obendrein ist der Irak durch den Golfkrieg und das nachfolgende Embargo geschwächt und war zu einer Abrüstung von solchen Ausmaßen gezwungen, dass ihm – wie sich bei der Invasion schnell herausstellte – nicht einmal mehr wirksame Luftabwehrwaffen geblieben waren. Amerika wiederum ist militärisch stärker als alle anderen Länder der Welt zusammengenommen. Hitler und Saddam lassen sich nur insofern miteinander vergleichen, als beide sehr schlechte Menschen und dem Genozid nicht abgeneigt waren. Den Weltfrieden jedoch hat nur einer von ihnen bedroht.

Die amerikanische Regierung wollte den terroristischen Angriff, der die Vereinigten Staaten getroffen hat, leider nicht damit beantworten, dass sie die eigenen Geheimdienste zur Verantwortung zog, sondern durch einen raschen militärischen Triumph. Ich weiß nicht, warum sie gerade den Irak wählte – abscheuliche Diktaturen gibt es auch anderswo, auch unter den islamischen Ländern. Vielleicht hat das irakische Öl sie gereizt und auch der Umstand, dass der bis an die Ohren mit Blut verschmierte Saddam ohne großen Aufwand dämonisiert werden konnte. Die beiden Hauptmotive indes, in deren Namen die Offensive gestartet wurde, erwiesen sich binnen kurzem als aus der Luft gegriffen. Saddam konnte – im Gegensatz zu Amerika – auch nicht eine einzige Massenvernichtungswaffe einsetzen, in seinem Land wurde nichts dergleichen gefunden; und selbst bei Aufbietung aller Kräfte ließ sich nicht nachweisen, dass er Kontakte zu Bin Laden oder einer anderen terroristischen Organisation unterhält. Indem Amerika und seine Verbündeten Lügen aneinander reihten, um ihre Völker in den Krieg schicken zu können, traten sie die grundlegendsten Prinzipien des internationalen Rechts mit Füßen. Aber so ein Unsinn, dass man Saddam deshalb besiegen muss, weil er so gefährlich sei wie 1939 Hitler, kam weder Rumsfeld noch Cheney in den Sinn.

 

Aus mir spricht nicht der Pazifismus, wie auch Susan Sontag nicht von pazifistischen Motiven geleitet ist. Während der Kriege in Bosnien und im Kosovo, als es darum ging, ein gerade ablaufendes Genozidprogramm zu verhindern, wandte auch sie sich (ähnlich wie meine Wenigkeit) gegen die europäische Stümperhaftigkeit: »In Wahrheit hat das Europa-der-Wirtschaft-und-Geschäfte sich selber genau so geplant, dass es unfähig ist, der Bedrohung durch einen Diktator entgegenzutreten. Das ist kein Problem der Schwäche. Es ist ein Problem der Ideologie. Krieg ist kein Irrtum, keine Kommunikationspanne. Es gibt das radikale Böse auf der Welt, und es gibt deshalb gerechte Kriege. Und dies hier ist ein gerechter Krieg.« Diese während Clintons Präsidentschaft formulierte Stellungnahme erinnert auch in der Wortwahl an die von Bush junior: Sontag spricht über das Böse, aber dieses Böse entlarvte sich selbst vor aller Welt durch seine eigenen Aktionen. ... Der gegen dieses Böse begonnene Krieg rettete einer europäischen muslimischen Volksgruppe das Leben und mündete nicht in einer aussichtslosen Okkupation wie der gegen den Irak.

Die verhängnisvollste Folge des Irakkriegs ist, dass er jederzeit an anderer Stelle fortgesetzt werden kann. Dies hatte Susan Sontag im Sinn, als sie den Hypermachtstatus Amerikas verurteilte. Wenn ein Staat jederzeit einem beliebigen anderen Land seinen Willen aufzwingen kann, dann werden wir mitschuldig, wenn wir im Voraus versichern, dass wir ihn bedingungslos unterstützen, ganz gleich, was er tut. Es ist sehr gefährlich, den Eindruck zu erzeugen, als wäre der Entzug dieser Unterstützung aus moralischer und politischer Sicht a priori tadelnswert. Imre Kertész indes suggeriert uns etwas von dieser Art: »Ich gestehe offen, dass es für mich eines der erschütterndsten Erlebnisse der letzten Jahre war, als im ersten Augenblick des Irak-Krieges alles zerfiel, was man in Luxemburg, Straßburg und an anderen Schauplätzen des europäischen Zusammenschlusses geschaffen hatte.« Was Kertész also erschütterte, war die Tatsache, dass nicht alle europäischen Länder frohlockten, dass Amerika und seine Verbündeten trotz des Sicherheitsrats-Vetos und offenbar gestützt auf Lügen in ein Land einrückten, das sich nicht im Kriegszustand mit ihnen befand, und anfingen, dessen Städte zu bombardieren. Diese seine Erschütterung hat nichts mit dem irakischen Schauplatz zu tun, denn hier geht es nicht mehr nur um den Irak, sondern in erster Linie um das Im-Stich-Lassen, um den Verrat am Verbündeten. »Als sei in den vergangenen zehn Jahren überhaupt nichts geschehen, erwachten Nationalismen zu neuem Leben, die alten, selbstzerstörerischen Affekte kamen wieder hervor...« Mit anderen Worten, wenn wir keine selbstzerstörerischen Nationalisten sein wollen, müssen wir widerspruchslos der Hypermacht folgen, egal, welches Land sie zur Verkörperung des Bösen ernennt. Folgen wir Bush, dem Führer der Hypermacht, denn er ist abwählbar! Folgen wir Bush, bis er abgewählt wird! Und danach? Danach folgen wir seinem Nachfolger. Das ist ein wahrhaft effizientes und wohlbekanntes osteuropäisches Mittel gegen den Nationalismus.

 

Auch die Großeltern von Susan Sontag sind aus Osteuropa nach Amerika ausgewandert, und auch sie ist jüdischer Herkunft. Sie wurde zwei Wochen nach Hitlers Machtantritt geboren, und mit zwölf Jahren betrachtete sie in einer Buchhandlung in Santa Monica die Fotos von Gerippen, die Dachau und Bergen-Belsen überlebt hatten. »Ich dachte vor diesen Bildern: Das ist Wirklichkeit. Wirklichkeit heißt, dass Menschen zu extremer Grausamkeit bereit sind. Ich dachte: Das darf ich nie vergessen.« Nach meinem Dafürhalten ist dies die angemessenste oder, wenn man so will, die humanste Reaktion auf den Holocaust. Susan Sontag, in der vielleicht bei dieser Gelegenheit das leidenschaftliche Interesse für das Foto und die Fototheorie erwachte, das sie das ganze Leben lang begleiten sollte, schloss vom Bild auf die Wirklichkeit und von der Wirklichkeit auf ihre moralischen Verpflichtungen. Von den Gerippen hat sie nicht die Rassensolidarität gelernt, sondern den Abscheu vor Grausamkeit und ganz besonders vor amtlich organisierter und geforderter Gewalt. Es ist also kein Wunder, wenn sie in ihrer oben genannten Rede ihre Meinung über die gegenwärtige Lage in Israel so zusammenfasst: »Israel, dieses verletzte und furchterregende Land, erlebt zur Zeit die größte Krise seiner turbulenten Geschichte, verursacht durch seine Politik der ständigen Vermehrung und Verstärkung von Siedlungen auf den Gebieten, die es durch seinen Sieg im Sechstagekrieg 1967 gewonnen hatte. Die Entscheidung aufeinander folgender israelischer Regierungen, die Kontrolle über die West Bank und Gaza zu behalten und so ihren palästinensischen Nachbarn einen eigenen Staat zu verweigern, ist eine Katastrophe für beide Völker – moralisch, menschlich und politisch. Die Palästinenser brauchen einen souveränen Staat. Israel braucht einen souveränen palästinensischen Staat.« Mit großer Sympathie zitiert Sontag aus der Erklärung der partiellen Befehlsverweigerer, die angekündigt haben, sie werden nicht jenseits der Grenzen von 1967 kämpfen, »um ein ganzes Volk zu beherrschen, zu vertreiben, verhungern zu lassen und zu demütigen.«

Diese Sympathie ist eine organische Fortsetzung und eine Folge ihres Erlebnisses von Santa Monica. Der Anblick wandelnder Gerippe lebt in der Schriftstellerin fort. »Häuser sind zerstört, Haine entwurzelt, die Buden eines dörflichen Markts niedergewalzt, ein Kulturzentrum ist geplündert; und jetzt werden nahezu täglich Zivilisten jeden Alters beschossen und getötet.« Sontag konnte in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennehmen. In seiner Laudatio sagte Ivan Nagel – der auch jüdischer Herkunft ist und 1947 gleichfalls aus Osteuropa, genauer gesagt, aus Ungarn, emigrierte – unter anderem über sie: »Sontag fuhr nach Nord-Vietnam während der Luftangriffe von 1968 und 1972, nach Palästina während des Jom-Kippur-Kriegs 1973 und wiederholt nach Bosnien von 1993 bis 1995. Sie hat die Angst vor starr rhythmisierten Bombeneinschlägen gelernt und die größere Angst vor verrückten Heckenschützen. Sie hat ein Recht zu sagen: Die Welt ist gespalten in Menschen, die den Krieg kennen – und die, die ihn nicht kennen.« Die größte Angst aber in diesen letzten Jahren gilt einer unaufhaltsam fortschreitenden Gefahr: »dass die Herrschaft über Völker, Armeen, Konzerne in die Hände von Menschen übergeht, die den Krieg nicht kennen.« In diesem Zusammenhang wies sie auf den gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten, der am ersten Mai dieses Jahres an Deck eines Kriegsschiffs in der Kampfuniform der Piloten paradierte, obwohl er sich in jungen Jahren, als der Vietnamkrieg tobte, vor dem Krieg gedrückt hatte, aber nicht als prinzipienfester Kriegsdienstverweigerer, sondern als Sohn eines überaus wohlhabenden und einflussreichen Ölmagnaten und Politikers.

 

Der israelische Schriftsteller David Grossman berichtet in der Zeit vom 16. Oktober über die Erschütterung, die letzthin die Entscheidung von 27 israelischen Piloten, die sich allgemeiner Wertschätzung erfreuen und bisher als Helden gefeiert wurden, verursacht hatte und nach der sie künftig nicht mehr bereit sind, palästinensische Industriezentren zu bombardieren, auch dann nicht, wenn eindeutig identifizierte Terroristen das Ziel sind. Diese Entscheidung erklärt Grossman so: »Und wenn ein Staat, der seinen Piloten befiehlt, Raketen von enormer Sprengkraft auf ein Auto abzufeuern, das zwischen Passanten hindurchfährt, so ähnelt ein solches Vorgehen dem von Terrororganisationen – auch dann, wenn man die Passanten nicht absichtlich treffen will.«

Damit kommen wir zu einem der entscheidenden Dilemmas unser Zeit. Gibt es im moralischen Sinn einen Unterschied zwischen privatem und staatlichem Terrorismus? Bei der Beantwortung dieser Frage muss man berücksichtigen, dass der staatliche Terrorismus (zumeist unberechtigt) mit dem Anspruch der Legitimität auftritt und deshalb strengeren Kriterien genügen muss als der private. Der Anspruch der Legitimität bringt es nämlich mit sich, dass der im Namen des Staats handelnde Terrorist die Verantwortung für seine mit Folgen einhergehende Tat auf alle gesetzestreuen Staatsbürger überträgt. Vermutlich hat diese Erkenntnis die teilweise den Befehl verweigernden Piloten der israelischen Armee motiviert. Außerdem haben bei dieser Entscheidung möglicherweise auch die moralischen Lehren der Weltgeschichte der jüngsten Vergangenheit eine Rolle gespielt. Susan Sontag sieht es so, dass die jüdischen Befehlsverweigerer jene Grundprinzipien ernst nehmen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Nürnberger Prozessen formuliert wurden. »Nämlich dass ein Soldat nicht verpflichtet ist, ungerechtfertigte Befehle zu befolgen, Befehle, die das Kriegsrecht verletzen – tatsächlich hat man die Pflicht, sie zu verweigern.« Die Tötung von Passanten verletzt das Kriegsrecht. Staatlich angeordnete Bombardierungen sind Kriegsverbrechen.

Herrn Kertész kommt so etwas nicht einmal zufällig in den Sinn. Er, der nach der Befreiung der Todeslager nicht nur auf Fotos die überlebenden Gerippe anstarren konnte, sondern auch im Spiegel, falls es in seinem Lager einen Spiegel gab; er, der ein Opfer des am sorgfältigsten geplanten Staatsterrorismus der Weltgeschichte war, nimmt heute keine Notiz von der Existenz von Staatsterrorismus. So wie der Held seines hervorragenden Romans, der fünfzehnjährige Junge: Er begreift von seinem Leiden nur das, was ihn selbst unmittelbar betrifft oder was er aus seinen Erlebnissen analog rekonstruieren kann. Was jenseits dieses Horizonts liegt, berührt ihn nicht. Möglicherweise verdankt der Roman eines Schicksallosen seinen künstlerischen Erfolg der Tatsache, dass der Autor beim Schreiben nicht versuchte, Denkweise und Erlebnisse seines halbwüchsigen Helden mit dem Verstand des Erwachsenen zu korrigieren oder zu kommentieren.

»Ohne Zweifel ist der Krieg gegen den Terrorismus aber für Europa mindestens von ebenso vitalem Interesse wie für Amerika.« Auch aus dieser Formulierung hört man heraus, dass der Staatsterrorismus für ihn nicht existiert. In seiner Rede geht er auf diesen Problemkreis nur insofern ein, als er feststellt: »... die Kritik an der israelischen Regierungspolitik erscheint manchmal als Vorwand für antisemitische Zwischentöne.« Manchmal. Also nicht immer. Das stimmt. Er hätte aber sagen müssen, bei wem. Bei Susan Sontag, bei Ivan Nagel oder zum Beispiel bei mir? Oder bei dem israelischen Schriftsteller David Grossman? Oder bei dem israelischen Schriftsteller Amos Oz, der kürzlich an einer israelisch-palästinensischen Versöhnungskonferenz in Jordanien teilgenommen hat und in seinem Bericht darüber (in der FAZ vom 20.10.) in ein und demselben Satz ein palästinensisches Selbstmordattentat und eine israelische Vergeltungsaktion verurteilt?

Kertész hat im April vergangenen Jahres an einer Holocaust-Konferenz in Jerusalem teilgenommen. Sein Erlebnisbericht hat mich verwundert (ich habe auch darüber in der Zeit 29/02 geschrieben), weil – obwohl die israelische Armee gerade in jenen Tagen palästinensische Flüchtlingslager dem Erdboden gleichgemacht hatte – es ihm nicht gelungen war, auf dem gesamten Territorium Israels auch nur ein einziges arabisches ziviles Opfer zu finden, er hatte nur Augen für die jüdischen Opfer der Selbstmordattentate. Angesichts dieser erschütternd selektiven Wahrnehmung habe ich formuliert, dass sich aus dem Holocaust zwei Lehren ziehen lassen: Wir erzeugen Solidarität entweder mit dem bewusst heraufbeschworenen jüdischen Leid oder mit jedem bewusst heraufbeschworenen Leid, unabhängig davon, wen es trifft.

 

Sontag und Kertész beurteilen den Irakkrieg auf unterschiedliche Weise, weil sie aus dem Holocaust jeweils unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen haben. Sontag assoziiert die Gerippe, das menschliche Leiden schlechthin, Kertész dagegen München. Nur Amerika kann Israel, das sich seit Jahrzehnten den Beschlüssen des Sicherheitsrats und vor allem der Vereinten Nationen widersetzt, verteidigen. Deshalb ist der wie auch immer geartete amerikanische politische Widerstand eine Kurzsichtigkeit à la München. Denn aus heutiger Sicht wurde in München nicht nur die Tschechoslowakei geopfert, sondern auch das Lebensrecht des gesamten Judentums. Kertész’ München-Syndrom resultiert daraus, dass er seine historischen Erfahrungen aus allzu engem Gesichtswinkel aufgearbeitet hat.

»Was im wahren Interesse einer modernen Gesellschaft liegt, ist das Recht.« Das sagt Susan Sontag. Und fügt hinzu: »Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Widerstandsaktionen das Unrecht nicht aufhalten können, nimmt es dir nicht ab, so zu handeln, wie es nach aufrichtiger und reiflicher Überlegung deiner Meinung nach für deine Gesellschaft am besten ist.« So formuliert man ein Niederlagen in Aussicht stellendes, erfrischend optimistisches Programm.

 

Der Artikel erschien am 31. Oktober in der ungarischen Wochenzeitschrift Élet és Irodalom. Aus dem Ungarischen von Angela Plöger.

 

Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 6/03, Dezember 2003.