Martin Altmeyer / Dick HowarD
Moral, Festigkeit, Stärke: Willens- gegen Urteilskraft
»Flip-Flop-Kerry« versus »a solid character«
Mit Dick Howard – er lehrt
politische Philosophie an der State University of New York – sprach Martin
Altmeyer über die zur Wahl stehenden Politikoptionen, Amerikas Spaltung, die
Demokratie und die Paradoxien der Gleichheit.
Martin Altmeyer: Das
liberale Amerika ist geschockt. Das alte Europa kann es nicht begreifen und
lamentiert: Warum ist George W. Bush so populär geblieben? Warum hat die
amerikanische Bevölkerung diesen Präsidenten nicht ausgewechselt? Eine
Katastrophe – war dein erster spontaner Kommentar, Dick. Ich selbst war nicht
überrascht, dass eine Nation, die sich bedroht fühlt, einen Präsidenten im Amt
hält, der ihr Schutz und Sicherheit verspricht. Warum also darf ein Mann wie
Bush als Führer der westlichen Welt im Amt bleiben?
Dick Howard: Was
Europäer und Kanadier an Bushs Wirkung nicht verstehen, kam in den Debatten mit
Kerry heraus: eine Politik der Willenskraft gegen eine Politik der
Urteilskraft. Und der Wille muss in einer solchen Situation eindeutig und fest
sein – eine gespaltene Willenskraft kann nicht wollen, kann nicht standhalten.
Das ist Bushs große Stärke, das macht seine Popularität aus: »a solid character«.
Zähl’ noch dazu, dass er darauf besteht, dass – wie bei einem Football-Match –
Amerika in der Offensive sein muss, nicht in der Defensive, dann erkennt man
seine Anziehungskraft. Dasselbe gilt auch für das religiöse Moment …
Was meinst du mit einer
»Politik der Willenskraft«, die du dem Präsidenten zuschreibst? Und was ist im
Vergleich dazu eine »Politik der Urteilskraft«?
Beides sind
grundsätzliche Politikoptionen, die erst mit der Geburt der Demokratie
auftauchen. Weil es keine externe Rechtfertigung für politische Entscheidungen
gibt, die uns Gewissheit liefern – weder Gott noch Götter, weder Wissenschaft
noch Technik –, gibt es diese beiden Möglichkeiten: Entweder man tritt in einen
Prozess der Beurteilung ein, ein Räsonnement der Gleichen über ihre
verschiedenen Auffassungen (wie bei der Beurteilung von Schönheit im Sinne der
ästhetischen Urteilskraft bei Kant). Oder man findet einen Ersatz für den
Mangel an externen Rechtfertigungskriterien, insbesondere einen Weg, sich der
Einheit zu versichern – ungeachtet des für die Demokratie konstitutiven Rechts
auf Differenz. An dieser Stelle hält eine Politik der Willenskraft Einzug. Das
kann in Gestalt eines Moralismus geschehen oder als politischer Voluntarismus
(der an Carl Schmitt erinnert, ohne mit dessen Position identisch zu sein).
Und was ist dann John
Kerry? Ein Politiker mit Urteilskraft?
In der Tat
vertritt Kerry die andere Variante von Politik, etwa in der Abtreibungsfrage
oder in der Außenpolitik: Er berücksichtigt Differenzen, die Gesichtspunkte von
anderen und so fort. Die Schwierigkeit einer Politik der Urteilskraft ist, dass
sie nicht nur Differenzen anerkennt, sondern auch die Vorstellung, dass es
keine endgültige Wahrheit gibt.
Glaubst du wirklich,
Amerika sieht in seinem Präsidenten »a solid character« und hat in seinem
Herausforderer so etwas wie eine gespaltene Person gesehen, eben den
»Flip-Flop-Kerry«, zu dem ihn die republikanische Wahlkampfstrategie gezielt
gemacht hat?
Natürlich ist
Bushs Charakter der Schlüssel – er stellt Einheit dar, pure moralische Absicht,
ungeachtet dessen, was er tatsächlich tut. Und Kerry? Noch mal: Gerade weil er
abwägt, weil er beurteilt, kann er wirklich als Flip-Flopper gesehen werden,
weil ein abwägendes Urteil nämlich die Perspektive des anderen und wechselnde
Umstände in Betracht zieht.
Was aber ist mit Bushs
Alkoholsucht oder mit den Betrugsmanövern, um den Irakkrieg zu rechtfertigen?
Passt das zum »soliden Charakter«?
Bushs
Trinkervergangenheit ist geradezu ein Zeichen für seinen Willen, Schwächen und
vielleicht sogar Irrtümer in seinem früheren Verhalten zu überwinden. Was
zählt, ist der gute Wille, die Absicht ist wichtiger als das Handeln, wie das
Persönliche wichtiger ist als das Politische. Es klingt paradox, aber eine
Politik der Urteilskraft kümmert sich um die Folgen des Handelns. Und diese
Folgen entstehen in einer Demokratie eben nicht als unmittelbares Ergebnis
guten Willens, sondern dadurch, dass Differenzen ausgetragen werden vor dem
Hintergrund wechselnder Umstände. Deshalb ist Demokratie immer repräsentative
Demokratie, eine Lektion, die Amerika mit der Revolution von 1800 gelernt hat,
wie in meinem Buch beschrieben (Die Grundlegung der amerikanischen
Demokratie, Frankfurt 2001).
Europäer neigen dazu, Bush
als einen gescheiterten Sohn zu charakterisieren, als einen konvertierten Heuchler,
der von starken religiösen und wirtschaftlichen »pressure groups« protegiert
wird. Ist er nur ein Hampelmann, eine bloße Marionette?
Nein, er ist
viel gefährlicher als eine Marionette, er scheint wirklich daran zu glauben.
Wieder einmal: der Wille und die Einheit. Mehr noch, von den drei Dingen, um
die sich ein Politiker kümmert, nämlich Außenpolitik, Innenpolitik und
Wahlkampf, interessiert sich Bush für die ersten beiden nicht, aber er liebt
das »campaigning«. Die Frage ist, ob er jetzt, wo es darauf ankommt, in die
Geschichte einzugehen, die beiden anderen Bereiche ernst nimmt. Der Tod von
Arafat eröffnet gewisse Möglichkeiten … Auf der anderen Seite betrifft die
Ernennung neuer Richter die Innenpolitik – hier mag er eine Marionette sein
(für die Ziele des Strippenziehers Karl Rove).
Zurück zur Popularität
George W. Bushs. Du hast erwähnt, Amerika sei nicht gerne defensiv, brauche das
Gefühl, in der Offensive zu sein. Meinst du dieses Offensiv-sein-Müssen in
einem mentalen Sinne, als Bestandteil des amerikanischen »Sozialcharakters«.
Oder im höchst realen Sinne von präemptiver Kriegsführung und Demokratieexport,
zum Beispiel?
Ich beziehe
mich dabei auf die Art und Weise, wie die USA während des Kalten Krieges gegen
den Kommunismus nicht wirklich in die Offensive gegangen sind. Zumindest nicht
bis zur Stationierung von Pershings und Cruise Missiles in Europa – und wir
erinnern uns alle an die Reaktionen darauf in Europa. Allgemeiner ausgedrückt:
Offensive als Gegenmodell zu Westdeutschlands Politik des »Wandels durch
Anbiederung« (D. H. wörtlich im Original – nicht etwa »Wandel durch
Annäherung«; M. A.). Deshalb konnten die Neocons eine solch bedeutende Rolle
spielen.
Und der Glaube! Weshalb
spielt die Religion eine so große Rolle in den USA, der Führungsnation des
westlichen Säkularismus, Materialismus, Kapitalismus? Eine Reaktionsbildung
oder eine kollektive Regression im psychoanalytischen Sinne – oder der »common
ground«, das einigende Band einer tief religiösen Einwanderergesellschaft?
Die Rolle der
Religion ist kompliziert und schwer zu beurteilen. Es gibt ein ganzes Kapitel
über dieses Thema in Das Gespenst der Demokratie (Dick Howards neuestes
Buch The Specter of Democracy, s. Kommune, 4/2004; M. A.).
Allerdings sollte man zwischen Religion und Moral unterscheiden. Meiner Ansicht
nach steht die Moral im Vordergrund – für den Augenblick und in Form einer
Politik der Willenskraft, um es noch einmal zu betonen.
Das Hauptinteresse nach der
Wahl gilt in Europa wie auch in den USA der Frage nach der Spaltung des Landes.
Es scheint so, als ob wir es mit zwei Amerikas zu tun haben: einem liberalen,
säkularen, eher städtisch-weltoffenen Amerika und einem konservativen,
christlichen, eher ländlich-bornierten Amerika. Gibt es diese Spaltung? Können
wir nun einen Kulturkampf erwarten? Droht möglicherweise gar eine
Balkanisierung des Landes, wie ein Kommentator in der New York Times ernsthaft
befürchtet?
Zunächst
einmal: Kulturkampf und Balkanisierung stammen natürlich aus dem europäischen
Vokabular – wenn auch das, was Du mit Kulturkampf meinst, auf ein Ereignis in
den USA passen könnte, das 1928 stattfand. Damals präsentierte sich zum ersten
Mal ein katholischer Kandidat. Al
Smith aus New York. Er wurde in der Tradition des »wahren«
protestantischen Amerika behandelt, als Vertreter von »Rum, Riots and Rome«.
Erst mit Kennedy, der dann schließlich gewählt wurde, kam wieder ein
katholischer Bewerber. In seiner legendären Rede in West Virginia – die Kerry
während seiner eigenen Kampagne übrigens imitierte – beteuerte er, dass er
niemals seine politischen Entscheidungen durch seine persönliche Religion
beeinflussen lassen würde. Kennedy half diese Position, für Kerry ging der
Schuss nach hinten los – was zeigt, wie sich die Vereinigten Staaten geändert
haben.
Zurück zur Frage nach der
gegenwärtigen kulturellen und politischen Spaltung Amerikas.
Die Landkarte mit den
blauen (demokratischen) und roten (republikanischen) Bereichen täuscht insofern,
als es in jedem Staat eine starke Minderheit für die unterlegene Partei gibt.
Man könnte genauso gut auch an andere Spaltungslinien denken – Stadt gegen
Land, Vorstadtbewohner gegen ehemalige Stadtbewohner, Männer gegen Frauen,
Verheiratete gegen Singles und so weiter. Es scheint übrigens so, dass
ausgerechnet in Gegenden mit niedrigem Lohnniveau republikanisch gewählt worden
ist – gegen ihr unmittelbares ökonomisches Interesse.
Was ist mit den »working
poor«, was mit den Latino-Immigranten zum Beispiel in New Mexico, die nicht in
dem Ausmaß für Kerry stimmten, wie das nötig und auch erwartet worden war?
Weshalb haben sie den demokratischen Kandidaten nicht stärker unterstützt –
trotz einer dümpelnden US-Wirtschaft, trotz großer Jobverluste, trotz fehlender
Gesundheitsversorgung?
Diese Frage führt uns zu
dem Problem, warum die Leute gegen ihre »Interessen« stimmen. Sie wirft den
alten marxistischen Topos des Klassenbewusstseins auf. Lukacs sprach vom
»zugeschriebenen« Klassenbewusstsein. Aber er hat nicht verstanden, dass wir es
sind, die politischen Intellektuellen, die anderen etwas zuschreiben –
moralisch, rational oder ihre Interessen betreffend. Warum sollte man von den
Leuten annehmen, dass sie nur an ihre »unmittelbaren Interessen« denken? Achte
auf den Begriff unmittelbar – und erinnere dich an Hegels Phänomenologie des
Geistes: Unmittelbar ist das, was uns nur gewiss erscheint; tatsächlich
ist es das, was sich ständig ändert (z. B. sehe ich immer eine andere
Unmittelbarkeit, sobald ich den Kopf drehe, jede Minute bringt etwas Neues …).
Wie lässt sich diese
Erkenntnis auf die Politik anwenden?
Besser als Marx und Hegel
ist Tocqueville, der im zweiten Band seines Demokratiebuchs über das Paradox
der Gleichheit spricht: Weil wir alle gleich sind, gibt es keine überlegene
Position, keine Klasse oder Gruppe, die einen direkten Zugang zur Wahrheit
hätte. Insofern beruft sich jeder auf sein eigenes Interesse. Aber das zweite
Element in diesem Paradox ist, dass wir genau aus demselben Grund über unsere
eigenen Ansichten unsicher sind. Warum sollte meine Auffassung wahr sein, wenn
du, der du mir gleich bist, eine andere Auffassung vertrittst? Deshalb neigen
wir dazu, gerade weil wir alle gleich sind, uns vorzustellen, es gäbe etwas,
was unserem beschränkten Selbst überlegen ist. Das könnte etwa eine gemeinsame
Auffassung sein, wie wir sie in der Idee von der »volonté générale« haben, also
die Verkörperung all dessen, was der Souverän »will«. Und dieser Volkswille
lässt sich eben nur durch Repräsentation erfahren, das ist das Entscheidende in
der repräsentativen Demokratie. Lukacs’ Gedanke war brillant, aber er irrte.
Sein brillanter Irrtum hat mich übrigens erst dazu gebracht, die Ziele von Marx
in kantschen Begriffen zu reformulieren, insbesondere in einer politischen
Wendung des Begriffs der Urteilskraft (in: From Marx to Kant, London und
New York, 2. Aufl., 1993; M.A.).
Gibt es also in den USA
diese »gemeinsame Auffassung« von der terroristischen Bedrohung (und wie man
gegen sie vorgehen kann), die Bush geholfen hat? Verkörpert er so etwas wie die
»volonté générale« in einer Situation massiver nationaler Verunsicherung?
Das Paradox der Gleichheit
bedeutet ja: Niemand weiß von vorneherein, was richtig ist, und wir wissen auch
nicht, wer das Recht hat, für andere zu sprechen. Das kann dazu führen, dass
wir jemanden mit »Charakter« suchen, einen, der beständig und fest bleibt,
ungeachtet wechselnder Meinungsumfragen – und genau das hat Bush so erfolgreich
getan. Er hat gesagt: Möglicherweise liege ich falsch, aber ihr wisst, was ich
denke und ich lasse mich durch Umfragewerte nicht umstimmen (du und ich, wir
würden sagen, dass man die Umstände in Betracht ziehen sollte). Bush bleibt
fest, komme was wolle – und das funktioniert bei all der Ungewissheit, die an
der Basis von Demokratie liegt.
Bushs Botschaft war also
klar und beruhigend, in einer unruhigen Zeit – auch für die »working poor«?
Man muss dazu sagen, dass
eine Demokratie – wegen der Gleichheit, die nicht zulässt, dass es Gruppen mit
von Natur aus überlegenem (»aristokratischem«) Status gibt –, keine
»natürlichen« Grenzen dafür kennt, was jemand werden kann. Auch die »working
poor« können sich gut vorstellen, dass eines Tages sie selbst oder ihre Kinder
zu den neuen Herrschenden gehören werden. Und deshalb wollen sie das Boot nicht
auf den Felsen setzen. Es ist eigenartig, dass man gerade wegen der Gleichheit
als der Voraussetzung von Demokratie (gegenüber aristokratischen oder statusorientierten
Systemen) die eigenen »unmittelbaren« Interessen nicht wahrnimmt. Natürlich
muss man hinzufügen, dass es in der Realität nicht so ist, dass die Chancen zum
Aufstieg minimal sind. Aber, und das ist ein wichtiger Punkt: Es gibt keinen
Grund, weshalb ich selbst, diese einzigartige Person, nicht derjenige sein
sollte, der aufsteigt, ungeachtet des Schicksals meiner Klasse. Während also
Marxisten in Begriffen des Klasseninteresses denken, denkt ein demokratisches
System in individualistischen Begriffen.
Einmal unterstellt, dass
die terroristische Bedrohung mental eine große Rolle gespielt hat: Was hat dann
bin Ladens Video zum Wahlausgang beigetragen? Welche Wirkung hatte es auf die
amerikanische Bevölkerung?
Was dieses Band anbetrifft,
sagen die ersten Umfragen: kein Einfluss. Ich selbst würde ganz einfach auffordern,
ergänzend bin Ladens Text zu lesen. Er klingt merkwürdigerweise wie Michael
Moore – ein Punkt, der es wert ist, besonders betont zu werden, weil Michael
Moore viel Zeit mit dem Wahlkampf verbracht hat. Warum hat es nichts genützt?
In der eigenen Gemeinde lässt sich gut predigen – das ist ein altes, immer noch
gültiges Sprichwort. Wie aber gewinnt man Stimmen außerhalb des Kreises seiner
natürlichen Verbündeten?
Hat das etwas mit dem
Problem zu tun, über das wir gesprochen haben: dass eine tief beunruhigte
Nation in einer Situation, in der sie sich angegriffen sieht, nach Einheit
sucht – und nicht nach Selbstkritik?
Ein letzter Punkt dazu: Die
Politik der Angst, auf die Bush gesetzt hat, war darauf ausgerichtet,
Solidarität unter den in einer Demokratie »gleichen« Einzelnen herzustellen. Es
ist aber das, was Durkheim ganz richtig eine »mechanische« Solidarität genannt
hat (wie zwischen den Teilen einer Maschine), eben keine »organische«
Solidarität (basierend auf Zusammenarbeit, wo jeder davon abhängig ist, wie der
andere seine Rolle spielt). Das ist zugegebenermaßen ein ziemlich abstrakter
Hinweis. Aber er enthält einen Grund dafür, dass die Bush-Koalition, wie
sich herausstellen könnte, womöglich von kurzer Dauer sein wird.