Martin Altmeyer

 

Was sind die Alternativen zu einer Realpolitik der Angst?

 

Fünf Thesen zur Wiederwahl von George W. Bush

 

1. Safety first

Das Sicherheitsbedürfnis in Verbindung mit einer christlich-konservativen Werteorientierung hat diese Wahl dominiert. Insofern hat Bushs strategische Selbstinszenierung als »Kriegspräsident« und wiedergeborener Christ glänzend funktioniert. Seine Mehrheit wäre noch größer gewesen, wenn nicht eine stagnierende Wirtschaft, fehlende soziale Sicherungssysteme, der kritische Verlauf des Irakkriegs sowie die mit sexuellen Perversionen verbundenen Folterpraktiken in den Gefängnissen von Guantànamo und Abu Ghraib Stimmen gekostet hätten. Zwar ist die Präferenz für die beiden großen Parteien gleichmäßig verteilt, und die Polarisierung stabil geblieben, die schon bei Bush versus Gore die Nation teilte. Aber eine tiefer gehende Analyse des Wahlverhaltens zeigt: Erstens wird Bush von 88 Prozent bei der Terrorbekämpfung favorisiert. Zweitens: Selbst wer den Irakkrieg nicht billigt und seinen Verlauf für eher schlecht hält (jeweils eine leichte Mehrheit), hält ihn dennoch für einen Teil des von Bush proklamierten Krieges gegen den Terrorismus und traut – drittens – diesem eher zu, ihn erfolgreich zu Ende zu bringen. Das Bild eines geradlinigen, entschlossen handelnden, sich auf feste moralische Überzeugungen stützenden Präsidenten, der die angegriffene Nation zu beschützen verspricht, hat diese stärker geeint, als es die Rede von der Spaltung des Landes suggeriert. Bin Ladens Wahlkampf-Video, an die Rhetorik antiamerikanischer Globalisierungskritik und an Michael Moores Filme erinnernd, hat das Seine dazu beigetragen.

 

2. Politics of Fear

Eine Nation, die sich bedroht und zur Selbstverteidigung genötigt fühlt, verteidigt ihren Präsidenten: Die Politik der Angst hat Früchte getragen. Fürchtet euch nicht, ist freilich die falsche Gegenparole. Der 11. September 2001 hat das Sicherheitsgefühl der USA nachhaltig und in einem Maße erschüttert, das in Europa kaum verstanden wird: Die Anschläge auf New York und Washington waren eben keine paranoide Fantasie, sondern Realität – auch psychische Realität. Dieses Ereignis hat traumatische Spuren im mentalen Gefüge der Nation hinterlassen. Und das kollektive Trauma verlangt, wie jede individuelle traumatische Erfahrung auch, nach unbedingter Anerkennung dessen, was wirklich geschehen ist. Wer diese verweigert, aus welchen Motiven auch immer – aus Ignoranz, aus Zynismus, aus politischem Kalkül, aus ideologischen Gründen, aus Angst vor dem »Feindbild Islam« –, leidet nicht nur an Antiamerikanismus oder an einer Empathiestörung. Er macht sich auch blind für die Gefahr, der sich die Weltgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgesetzt sieht: einen Totalitarismus islamischer Machart, der ideologisch nicht nur den Koran plündert, sondern auch das verrottende Doppelerbe des europäischen Totalitarismus. Seine Blutspur zieht sich seit einem Vierteljahrhundert durch die Länder eines erweiterten Mittleren Ostens, von Nord- und Ostafrika bis nach Zentralasien und hat den Westen längst erreicht. Auf einem paranoiden Weltbild beruhend, verfügt dieses totalitäre Projekt über eine beträchtliche Massenbasis in der arabisch-islamischen Welt. Die Vorstellung neokonservativer Weltverbesserer, dieser Islamofaschismus ließe sich durch einen »Krieg gegen den Terror« austreiben wie der Teufel durch den Exorzismus, ist freilich ebenso fatal wie die Verharmlosung, wenn nicht Verleugnung der totalitären Herausforderung, der wir in Europa zu lange zugeneigt waren.

 

3. Two Nations Under God

Europa hat der flachen amerikanischen »Zivilisation« gerne die Tiefe europäischer »Kultur« gegenübergestellt. Nun zeigt sich neben dem säkular-weltoffenen Amerika ein mehrheitsfähiger christlicher Wertefundamentalismus, der tief im uramerikanischen Herzland verankert ist und dem wir fassungslos gegenüberstehen. Die Religionsgläubigkeit in den USA reicht paradoxerweise gerade deshalb weit in den gesellschaftlichen und politischen Raum hinein, weil man sich zu ihr als einer Privatsache öffentlich bekennt. So konnte sich Bush – im aufgeklärten Europa undenkbar, oder? – als wiedergeborener Christ anbieten, der persönlich im göttlichen Auftrag handelt. Darauf muss auch das andere, das liberale Amerika mit einer Werteoffensive reagieren, die sich dem unvollendeten Projekt der Moderne verpflichtet weiß, aber auch auf Sinnfragen, die mit der Säkularisierung nicht erledigt sind, Antwort geben muss. Auf die Zumutungen der Moderne mit ihrer instrumentell verkürzten Vernunft und Zweckrationalität lassen sich – hoffentlich – auch religiöse Alternativen zum gegenmodernen Chiliasmus finden.

 

4. US-Fascism?

Die USA befinden sich nicht auf dem Weg in den autoritären Staat. Bei aller berechtigten Kritik an Patriot Act, Homeland Security und sonstigen Einschränkungen der Freiheits- und Bürgerrechte: Das Land steht nicht am Rande des Faschismus. Wer das behauptet, unterliegt entweder einer Sinnestäuschung oder einer interessierten Wahrnehmungsverweigerung: Kein Land des Westens, das seine Immigranten so herzlich einlädt und empfängt, kein Land das in seinem Inneren so wenig fremdenfeindlich ist wie die Vereinigten Staaten von Amerika, kein Land, das im Alltag des Zusammenlebens der Ethnien, Religionen und Hautfarben so viel Toleranz beweist (der Umgang mit der schwarzen und indianischen Bevölkerung hat mit einer ebenso langen wie verwickelten Mentalgeschichte zu tun). Und die Gewaltenteilung funktioniert. Die Denunziation der beständigsten Demokratie der Welt als adoleszent und unreif, ja als Kind, das die ödipale Lektion der Selbstbegrenzung noch lernen muss – nebenbei gesagt: ein wilder Missbrauch psychoanalytischer Begriffe, wie er auch im gängigen Vergleich zwischen Bush und Bin Laden seine Volten schlägt – ist selbst Ausdruck eines unbegriffenen Antiamerikanismus. Nach dem projektiven Gehalt dieser Denkfigur muss man nicht lange suchen: Mehr Verantwortung für den Zustand der Welt zu übernehmen, sich deren Krisenherden zu widmen und die eigenen gesellschaftlichen Integrationsprobleme zu lösen, würde Europa besser anstehen, als seine weltpolitische Unreife im Lamento vom rückständigen Amerika zu überjammern.

 

5. Democracy rolls on!

Wir alle, diesseits und jenseits des Atlantik, werden George W. Bush überleben. So wie wir Ronald Reagan überlebt haben, der in der Sowjetunion das »Reich des Bösen« ausgemacht hatte, nach seiner Wiederwahl mit Gorbatschow Freundschaft schloss und so entscheidend zum Zusammenbruch des realsozialistischen Traums beitrug, der längst zum Albtraum geworden war. Der Gang der Geschichte, der bekanntlich nach vorne ebenso unerforschlich ist wie die Wege Gottes, bedient sich gelegentlich einfacher Menschen. Auch der im Amt bestätigte US-Präsident, der bekanntlich die »Achse des Bösen« erfunden hat, wird Amerika weder ans Licht noch die Welt ins Dunkel führen. Aber er könnte gerade in seiner Schlichtheit dazu beitragen, die wirkliche Gefahr für die Welt zu erkennen, vor der Europa im Traum von Dritte-Welt-Idealismus und Multikulturalismus so lange die Augen verschlossen hat. Spätestens der Fememord an dem Filmemacher Theo van Gogh, der in Holland den Islamofaschismus (aber nicht nur den, auch »andersgläubige« Fundamentalismen) radikal, aber eben mit künstlerischen Mitteln angeprangert hatte, sollte uns die Augen dafür öffnen: Das europäische Modell einer freiheitlich-säkularen Gesellschaft, die ihren Mitgliedern Religionsfreiheit gewährt, ist auch bei uns ins Visier der Gotteskrieger geraten. Dass auch Europa darauf mit Rechtspopulismus oder Rechristianisierung oder mit beiden reagieren wird, kann nicht ausgeschlossen werden. Aber eine entschiedene Besinnung auf den Universalismus humanistischer Werte, auf die zivilgesellschaftlichen Regeln des Umgangs miteinander und auf die alle Kulturen und Ehtnien verpflichtenden Normen des demokratischen Rechtsstaats wäre der bessere Weg.