Ende der Willensfreiheit?
Die moderne Neurobiologie und die Gefahren von Reduktionismus und Determinismus
Müssen wir uns vor den Fortschritten der Neurobiologie fürchten? Bedroht sie unser Selbstverständnis von der Freiheit des Individuums und seiner Eigenverantwortung? Was hat es mit dem Diktum eines so namhaften Forschers wie Gerhard Roth auf sich, der behauptet, der freie Wille sei »nur eine nützliche Illusion«? Was sind die wissenschaftsimmanenten Voraussetzungen, die philosophischen Grundlegungen der Positionen von Wolf Singer? Unzulässige Grenzüberschreitungen oder nur medialer Reizstoff? Unser Autor sichtet kritisch Denkmuster aus der Neurobiologie, ortet eine Reihe von Widersprüchen und entwickelt dabei eigene Fragestellungen.
Die Neurobiologie hat vor
allem in den letzten Jahrzehnten im Verständnis gehirnphysiologischer Vorgänge
große Schritte gemacht. Sie ist nicht mehr, wie das früher der Fall war,
angewiesen ausschließlich auf im Labor isolierte Gehirnzellen, auf
Gehirnläsionen, auf erst post mortem erfasste Gehirnveränderungen oder auf
»invasive« (chirurgisch eindringende und Schmerzen verursachende) Versuche mit
lebenden Tieren. Sie kann sich stützen auf die Revolutionierung der technischen
Mittel, vor allem die bildgebenden Verfahren, mittels derer sie »in das
lebendige und aktive Gehirn hineinsehen« kann. Sie kann sich stützen auf die
Verrechnung von Millionen Daten, welche ohne Computer nicht denkbar wäre. War
es in den Achtzigerjahren schon möglich, mittels schichtweise aufgenommener
Röntgenbilder (Computertomographie) den Ort und die Ausdehnung krankhafter oder
traumatisch bedingter Gehirnläsionen zu bestimmen – nicht ohne radioaktive
Belastung – so ist es heute zum Beispiel möglich, variable Abbilder normalen
oder pathologischen (physiologischen) Hirngeschehens – ohne radioaktive
Belastung – aufzunehmen. Dabei ergeben sich immer wieder Bilder, die visuell in
ihrer Farbigkeit eine große Faszination ausüben. Besonders interessant ist es, diese
Bilder in Beziehung zu setzen zu provozierten Tätigkeiten, Wahrnehmungen,
inneren Vorstellungen, realen oder bloß beabsichtigten Bewegungen (funktionelle
Kernspintomographie), also zu psychologischen Sachverhalten. (Siehe
die Abbildung »Kühe und Wahrnehmung«.)
Eine weitere Methode ist
die Ableitung von Hirnströmen aus einzelnen Zellen in Aktion. Welche Zellen und
Zellverbände »feuern« (werden elektrochemisch aktiv) bei welcher Wahrnehmung?
Es lassen sich dann (räumlich mit größeren Abständen voneinander verteilte)
Zellen ausmachen, die bei der Vorgabe bestimmter visueller Objekte in Aktion
sind: wenn bestimmte Formen oder Farben als Merkmale eines visuellen Objektes
vorgegeben werden oder Konturen oder Bewegungen und so weiter. So kann man dann
sagen: Das spezielle Erregungsmuster dieser Zellgruppen repräsentiere
einzelne Merkmale eines wahrgenommenen Gegenstandes. Man kann darüber
nachdenken, wie durch Zusammentragen der Informationen verschiedener
Zellgruppen, welche je einzelne Merkmale (Farbe, Form, Bewegung usw.)
repräsentieren, im Gehirn das von außen vorgegebene Objekt als inneres Bild
nachkonstruiert wird. Die aktuelle Wahrnehmung eines Gegenstandes (seine
Erkennung) besteht dann darin, dass die aktuellen Erregungsmuster mit den
habituell gespeicherten Mustern »abgeglichen« werden. Man kommt also sehr nahe
an »das Psychische« heran, und zwar mit naturwissenschaftlichen Methoden …
(siehe Abbildung »Gehirnbild«.)
Während auf der einen
Seite die geisteswissenschaftlich-akademische Tradition der Psychologie sich
nur oder vor allem in der subjektiv-phänomenalen Welt des einzelnen Menschen
umsieht, während auf der anderen Seite die vom angloamerikanischen
Wissenschaftsraum beeinflusste behavioristische Psychologie eben dieses
Subjektive ausklammert und gleichzeitig den »Organismus« (die körperliche
Ausstattung des Individuums) als »black box« behandelt und sich auch für die
inneren Vorgänge innerhalb des Gehirns nicht interessiert(1), fragt die
Neurobiologie also nach den Beziehungen zwischen den organischen
Strukturen und Prozessen des Nervensystems und den Wahrnehmungen, Kognitionen
und Emotionen. Die Neurobiologie hat auch keine Scheu mehr vor dem Begriff des Bewusstseins
und des Unbewussten, sie interessiert sich sogar für die emotionale
Seite der psychischen Vorgänge.(2) Manchmal kommt sie Aussagen der
Psychoanalyse näher als beabsichtigt, wenn sie zum Beispiel spezifische
Neuronen findet, die bei der Beobachtung etwa von Bewegung ähnlich aktiv sind
wie die Neuronen, die bei der Beobachtung der beobachteten realen Bewegung
aktiv sind. (»Identifikation« mit dem Beobachteten; ein Begriff, der
bekanntlich in der Psychoanalyse von großer Bedeutung ist.)
Praktisch arbeitet sie
Methoden kompensierender Techniken bei Sinnesbehinderungen wie Blindheit und
Rückenmarksverletzungen aus, und hier sind wohl Erfolge zu erwarten.(3) Für die
Heilung (in Verbindung mit Genetik und Gentechnik) von neurodegenerativen
Erkrankungen dürfte es einstweilen bei Versprechungen bleiben.(4)
Schließlich nimmt die Neurobiologie Einfluss auf die Entwicklung technischer
informationsverarbeitender Systeme.(5) (Siehe »Das Gehirn als
Organ der Freiheit«.)
Auf der Grundlage dieser
praktischen Erfolge und theoretischen Fragestellungen gelingt es der
Neurobiologie, sich im »Jahrzehnt des Gehirns« (2000–2010) in den anderen
Wissenschaften, in den Medien und vielleicht auch bald in der Politik eine
große Beachtung zu verschaffen. Meinem Eindruck nach eine größere Beachtung,
als die akademische (experimentelle) Psychologie sie jemals genossen hat. Eher
ist diese vergleichbar mit der zeitweiligen Beachtung der Psychoanalyse (zum
Zeitpunkt ihrer Entstehung und wiederum in den Sechzigerjahren). Nur umgab
diese der Nimbus des Subversiven, als sie weltanschauliche Tabus brach, vor
allem durch die Betonung der sexuellen Motiviertheit des Menschen. Die
Neurobiologie dagegen argumentiert sozusagen aus der Höhe technisch
fortgeschrittener Forschung in höchst angesehenen Instituten.
Die Neurobiologie äußert
sich zu Fragen der Pädagogik und begründet einen neuen Zweig: »Neuropädagogik«
– natürlich nicht ohne Widerspruch.(6) Theoretisch wendet sie sich auch dem
kreativen Prozess im künstlerischen Schaffen zu – ob von den Kunstschaffenden
gerufen oder nicht.(7) Sie äußert sich zu methodischen Problemen der Geschichtswissenschaften.(8)
Sie wird von Seiten der Psychoanalyse beachtet, und auch hier finden gemeinsame
Aktionen statt.(9) In der Theologie gibt es einen neuen Zweig: Neurotheologie,
bis dahin, dass Inhalte der Religion über die »Gehirn-Scan-Bilder« von Menschen
in religiösen Zuständen bewiesen werden sollen.(10) – Beiläufig wird die
Neurobiologie zum Gegenstand populärwissenschaftlicher Darstellungen bis hin zu
Zeitschriften, die sich dem Thema widmen.
In ihrer Fragestellung hat
sich die Neurobiologie also vorgearbeitet zur Frage nach den
(biologisch-)organischen Grundlagen des Psychischen, letztlich nach den
materiellen Grundlagen des Geistigen. In den Worten des Neurobiologen Gerhard
Roth: »Es kann den Philosophen nicht gleichgültig sein, dass Teile der Neurowissenschaften
bzw. der Hirnforschung … in Bereiche vordringen, die zu den Kernbestandteilen
der Philosophie gehören, wie Erkenntnistheorie und Geist- und
Bewusstseinsphilosophie, oder sich gar mit Fragen der Moral, Ethik und
Willensfreiheit befassen.«(11) Das klingt nach Angriff, und so ist
es auch gemeint, wie sich herausstellt.
Von einzelnen
Neurobiologen werden Thesen aufgestellt, welche die Freiheit und
Eigenverantwortlichkeit des Menschen in Frage stellen. Muss sich die Menschheit
fürchten, dass die Sonderstellung des Menschen (wieder einmal) aufgelöst
(»entzaubert«) wird, wie einst von Galileo Galilei, für den die Erde nicht mehr
das Zentrum der Welt war, und von Charles Darwin, der die Abstammung der
Menschenart vom Tier und seine Verwandtschaft mit den Affen bewies? Ist das
Bewusstsein der Menschen (einschließlich ihres Gefühls von Willens-Freiheit)
erst naturwissenschaftlich erklärt, wo bleibt dann das selbstbestimmende und
eigenverantwortliche Individuum als Zelle der Gesellschaft und als weltanschauliche
Voraussetzung für ihre demokratische Verfassung?
Nur diese weit reichende
Bedeutung erklärt das breite Interesse, das die zunächst wissenschaftsimmanente
Frage nach der »Willensfreiheit« seit einigen Jahren in verschiedenen
Zeitschriften bekommt. Höhepunkt dürfte aber die Debatte in der FAZ seit
Oktober 2003 sein. – In dieser Debatte äußern sich Vertreter verschiedener
Fachdisziplinen (außer Neurobiologen vor allem Philosophen und
Rechtswissenschaftler; aber auch Literaturwissenschaftler). – Psychologen sind
in Leserbriefen(12) vertreten, es fehlen nach meinem Überblick – aus welchem
Grund auch immer – Äußerungen von Psychoanalytikern. Es fehlen auch Roth und
Singer widersprechende Beiträge von Wissenschaftlern, die sich als Naturwissenschaftler
verstehen. So mag der Eindruck entstehen, dass die Frontlinie der Debatte
notwendig zwischen den handfesten »Naturwissenschaftlern« und eher zur
Spekulation geneigten »Geisteswissenschaftlern« verlaufe. – Wolfgang Singer,
der wortmächtigere und bekanntere der beiden Protagonisten der Debatte, wurde
eingeladen, beim Fünfzigsten der CDU-Vorsitzenden zum Thema Neurobiologie und
aktuelle Fragen zu sprechen. Das wurde kommentiert: »Dass sich die Vorsitzende
der CDU zu ihrem Geburtstag als Festredner einen Forscher wünschte, der das
Christentum zu einer wissenschaftlich überholten Denkform erklärt, ist ein
historisches Datum.«(13) Ein Repräsentant der Kirche war zunächst nicht
anwesend, Kardinal Lehmann sei zu spät gekommen.
Aber der Reihe nach. Was
für Skandalöses genau wird behauptet? – Was steht am Anfang einer Handlung oder
bloß einer einzelnen Bewegung? Das bewusste Wollen, wie es unser aller Erleben
sagt? Oder innere körperliche Vorgänge, deren wir uns nicht bewusst sind? G.
Roth vertritt, dass nicht der Willensakt Ursache einer Bewegung sei,
sondern die vorhergehenden physiologischen Prozesse, und zwar das so genannte
Bereitschaftspotenzial im Gehirn, das sich durch technisch fortgeschrittene
Methoden ableiten lässt.(14) Er stützt sich dabei auf den amerikanischen
Psychologen Libet (siehe »Libets Experimente«), wenn er seine Auffassung
zugespitzt und echt positivistisch so ausdrückt: »Mir scheint der Satz ›Nicht
das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden‹ [in dem Experiment: Hand bewegen
oder nicht bewegen – F. D.], um in der Formulierung korrekt zu sein,
denn ›eine Entscheidung treffen‹ ist ein Vorgang, dessen Auftreten objektiv
überprüfbar ist.«(15) »Sofern wir unter ›Willensfreiheit‹ ein bestimmtes
beobachtbares Verhalten verstehen und nicht nur ›Es gibt keine
Willensfreiheit.‹ …«(16)
Singer stimmt damit
überein oder folgt dem. Er lässt sich – im Unterschied zu Roth – über die
sozialen Entstehungsbedingungen von Bewusstsein aus. Er verneint nicht nur die
reale Existenz von Willensfreiheit, sondern bietet eine Erklärung dafür an, wie
die falsche Vorstellung von Willensfreiheit sich herausbildet, in der frühen
Phase der Kindheit, in der die Sprache noch nicht ausgebildet ist und sich
deshalb keine Erinnerungsspuren herausbilden können: »Eltern bedeuten den
Kleinen fortwährend, sie sollten dies tun und jenes lassen, weil andernfalls
diese oder jene Konsequenzen einträten. Diese Verweise und die mit ihnen
verbundenen Sanktionen erzwingen den Schluss, man könne auch anders und müsse
nur wollen.«(17) Dass diese Erfahrung später nachwirke, ohne auch
als Erinnerung präsent zu sein, liege bloß daran, dass sie in dem frühen
Stadium der Entwicklung stattfand, als noch kein sprachlicher Code für die
bewusste Erinnerung ausgebildet war.
Die Kontroverse in den
Medien folgte dann darauf, dass Roth in einem Interview mit Spektrum der
Wissenschaft »die Behauptung gewagt [hat],unser freier Wille existiere
eigentlich gar nicht und sei nur eine nützliche Illusion«.(18)
Man wird die Aufregung,
die auf diese Äußerungen folgt, erst ermessen, wenn man ihre bewussten
Schlussfolgerungen aufnimmt. Singer formuliert diese so: »Sollte diese
Interpretation zutreffen, dann wäre unsere Erfahrung, frei zu sein, eine
Illusion, die sich aus zwei Quellen nährt: 1. der durch die Trennung von
bewussten und unbewussten Hirnprozessen widerspruchsfreien Empfindung, alle
relevanten Entscheidungsvariablen bewusst gegeneinander abwägen zu können, und
2. der Zuschreibung von Freiheit und Verantwortung durch andere Menschen.«(19)
Vereinzelt ist die Debatte
in die juristische Fachliteratur eingedrungen. A. Schieman(20) berichtet
darüber, stellt einzelne Positionen von Roths und Singers Kritikern dar und
fertigt sie mal eben ab, mit ungeheurer Leichtfertigkeit. In die aktuelle
Justizreform hat sie – erwartungsgemäß – keinen Eingang gefunden.(21)
Es erscheint notwendig,
sich mit ihrer erkenntnistheoretischen Attraktion, mit ihrem gesellschaftlichen
Appeal und ihren Folgerungen, dann auch mit ihren Grundlagen auseinander
zu setzen. Man muss zunächst fragen: Was macht die Aussagen von Roth und Singer
für manche (Natur-)Wissenschaftler attraktiv? Über das Spektakuläre, die
»knappe Ressource Aufmerksamkeit« heischende, hinaus?
Das Psychische (das
Bewusstsein, das Geistige, das Immaterielle) existiert auf der Grundlage des
Organischen; das Bewusstsein auf der Grundlage des organismischen Geschehens,
das Geistige auf der Grundlage des Materiellen; die jeweils eine Seite (das
Immaterielle) hat keine eigene unabhängige, sozusagen gallertförmige oder
ätherische Existenz. – Die Auffassungen, welche diese Voraussetzungen implizit
(naturwissenschaftliche Denkweise) oder explizit (philosophische Reflexionen) machen,
leben sozusagen von der Ablehnung einer von der Materie unabhängigen Seele, von
der Ablehnung eines explizit dualistischen Standpunktes in der Frage von
»Leib und Seele« oder also von Materie und Geist.(22)
Dieser »dualistische«
Standpunkt wird aber von Neurowissenschaftlern, Psychologen und
Psychoanalytikern so gut wie nicht vertreten.(23) – Er wird auch in der
Neuro-Debatte gar nicht eingenommen.(24)
Singer geht in seinen
Schlussfolgerungen erheblich weiter, indem er sich, wie er es gewohnt ist, auch
zu den gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Wissenschaft äußert. – Ich
zitiere ausführlich, da nur dann verständlich wird, welche Aufregung ausgelöst
wurde (und auch, weil manchmal nicht geglaubt wird, dass Singer das so vertritt
oder vertreten habe):
»Diese Sicht hat
Konsequenzen für die Beurteilung von Fehlverhalten. Ein Beispiel: Eine Person
begeht eine Tat, offenbar bei klarem Bewusstsein, und wird für voll
verantwortlich erklärt. Zufällig entdeckt man aber einen Tumor in Strukturen
des Frontalhirns, die benötigt werden, um erlernte soziale Regeln abzurufen und
für Entscheidungsprozesse verfügbar zu machen. Der Person würde Nachsicht
zuteil. Der gleiche ›Defekt‹ kann aber auch unsichtbare neuronale Ursachen
haben. Genetische Dispositionen können Verschaltungen hervorgebracht haben, die
das Speichern oder Abrufen sozialer Regeln erschweren, oder die sozialen Regeln
wurden nicht rechtzeitig und tief genug eingeprägt, oder es wurden von der Norm
abweichende Regeln erlernt, oder die Fähigkeit zur rationalen Abwägung wurde
wegen fehlgeleiteter Prägung ungenügend ausdifferenziert. Diese Liste ließe
sich nahezu beliebig verlängern. Keiner kann anders, als er ist.
Diese Einsicht könnte zu
einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen,
die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen
funktionelle Architektur ihnen kein angepasstes Verhalten erlaubt. Menschen mit
problematischen Verhaltensdispositionen als schlecht oder böse abzuurteilen,
bedeutet nichts anderes, als das Ergebnis einer schicksalhaften Entwicklung des
Organs, das unser Wesen ausmacht, zu bewerten. Überschreitet das Fehlverhalten
eine Toleranzgrenze, drohen wir mit Sanktionen. Interessanterweise fallen diese
Maßnahmen umso drastischer aus, je mehr wir davon ausgehen können, dass dem
Delinquenten die Variablen, auf denen die Entscheidung basierte, bewusst sein
müssten. Offenbar ahnden wir Verstöße dann besonders streng, wenn sie gegen
explizit Gewusstes begangen werden, gegen Wertordnungen also, die über
Erziehungsprozesse im deklarativen Gedächtnis [sprachlich kodierten; F. D.]
verankert wurden. Wir begründen dies, indem wir bewussten Entscheidungen ein
besonderes Maß an Freiheit zuschreiben und daraus besondere Schuldfähigkeit,
Verantwortlichkeit und Sanktionsnotwendigkeit ableiten.
Diese Sichtweise trüge der
trivialen Erkenntnis Rechnung, dass eine Person tat, was sie tat, weil sie im
fraglichen Augenblick nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders
gehandelt. Da im Einzelfall nie ein vollständiger Überblick über die
Determinanten einer Entscheidung zu gewinnen ist, wird sich die Rechtsprechung
nach wie vor an pragmatischen Regelwerken orientieren. Es könnte sich aber
lohnen, die geltende Praxis im Lichte der Erkenntnisse der Hirnforschung einer
Überprüfung auf Kohärenz zu unterziehen.«(25)
Und: »Ein kaltblütiger
Mörder hat eben das Pech, eine so niedrige Tötungsschwelle zu haben. Das heißt
natürlich nicht, dass man tatenlos zusehen sollte. Natürlich muss die
Gesellschaft reagieren. ... Schulungs- und Therapieprogramme … Außerdem muss
sich die Gesellschaft vor gefährlichen Menschen schützen, indem sie deren
Freiraum begrenzt. Auch das Strafmaß bliebe variabel, man würde allerdings
nicht mehr von ›Strafmaß‹ sprechen, sondern von Verwahrungsmaß oder
›Schutzmaß‹. Es müsste sich nach der Schwere der Normverletzung richten, aber
auch danach, wie niedrig die Schwelle zum Fehlverhalten eingeschätzt wird.«(26)
Eine Provokation, welche
in vieler Hinsicht einen Angriff darstellt auf das Selbstverständnis
benachbarter Wissenschaftsdisziplinen, auf das Selbstverständnis der
Gesellschaft. Ein Angriff sozusagen von oben, aus der gehobenen Position der
institutionalisierten Wissenschaft.(27) – Nicht nur in dieser Hinsicht anders
als über 100 Jahre früher der Angriff aus einer einzelnen Praxis eines
Neurologen in Wien, der dann weltberühmt wurde.
Singer postuliert auf der
einen Seite »Prävention« von Kriminalität. So kann er sich in Bezug auf die
gesellschaftlich-praktischen Folgerungen eventuell mit einem sozialpolitischen
Touch umgeben: Reformen, welche geeignet wären, die (determinierende) soziale
und materielle Umwelt zu verbessern, um so einen Einfluss auf die sonst negativ
determinierten Individuen auszuüben. Und: »Therapie statt Strafe;
Therapieprogramme für Straftäter«. Forderungen wurden und werden immer wieder
erhoben, und was Therapieprogramme angeht, so gibt es wohl in den letzten
Jahrzehnten eine Stimmung der Desillusionierung. Forderungen in dieser Hinsicht
sind keineswegs neu. Neu ist der geforderte Paradigmenwechsel in der Beurteilung
von Straftaten vor Gericht, also nach begangener Tat.
Seine Position entzieht
dem modernen Strafrecht, welches vom Schuldprinzip ausgeht, die Grundlage. Das
wurde in der Willensfreiheitsdebatte häufig eingewendet.(28) Es entzieht der
forensischen Psychiatrie/Psychologie ihre Fragestellung: Da jeder sowieso nur
so handelt, wie er »kann«, und weil er »nicht anders kann«, als er »tut«,
bleibt für die juristische Beurteilung nur die Schwere der Tat, gemessen
an üblichen Wertmaßstäben. Es erübrigt sich die Frage nach den Bedingungen und
Umständen der Tat, die Unterscheidung nach gesundheitlichen und psychologischen
Umständen. Angedeutet ist: Die »prospektive Sicherheitsverwahrung«. Aber: Wer
bestimmt, welche Menschen »problematische Verhaltensdispositionen« haben, wer
bestimmt die »Schwelle zum Fehlverhalten« im Voraus und wie wird sie bestimmt?
Eine gerade in Verbindung mit einer deterministischen Sozialauffassung (das
heißt im Prinzip 100-prozentiger Vorhersagbarkeit; dazu siehe unten)
gefährliches Gebräu. – Singer, der brillante Wissenschaftler, wird sich darüber
im Klaren sein.(29) Sollten die Andeutungen von »Verwahrungsmaß und Schutzmaß«
der sozialpolitische Kern seiner Auffassungen sein?
Das ist jedoch nicht
alles. In der gesellschaftlichen Kommunikation treten sich Personen
gegenüber, als Urheber von Handlungen und Träger von Handlungsabsichten. Sie
sprechen darüber, machen einen Unterschied zwischen bewussten Absichten und
zufälligen oder unbeabsichtigten Folgen. Sie sprechen in diesem Sinne psychologisch
miteinander (und nicht physiologisch). Sie streiten sich, lassen
Entschuldigungsgründe gelten oder nicht und so weiter. Nicht nur der Delinquent
vor Gericht (oder sein Anwalt) kann, Singer folgend, einwenden, er habe so
gehandelt, »weil er nicht anders konnte«. Das Argument lässt sich schließlich
in jedem alltäglichen Diskurs anwenden. Es bliebe in der Konsequenz von Singer
nur die Kommunikation mit quasi uneigentlichen Aussagen (analog Singers
Vorschlägen zur Begründung von Strafen). – Die Individuen sind eben Opfer der
(physiologischen) Verhältnisse; sie haben immer eine bequeme Erklärung für ihre
Handlungen (oder auch ihre Nichthandlung). Schuldgefühle braucht es
nicht zu geben, da diese Einsicht über Verantwortung und Verantwortlichkeit voraussetzen.
Weil es auch keine Schuld gibt, sowieso ein quasi altmodischer Begriff,
der aus dem religiösen Denken stammt, der aber auch auf dem Hintergrund
nichtreligiöser (humanistischer) Wertvorstellungen seine Bedeutung hat. –
Jegliche psychologischen Überlegungen, die in den letzten vier Jahrzehnten
Eingang gefunden haben in die Rechtspraxis und in die Kriminologie,(30) sind
außer Kraft gesetzt.
Und: Da das Bewusstsein
nur ein »Beiprodukt« unbewusster (physiologischer) Prozesse ist, ist jeglicher
Psychotherapie, die immer in irgendeiner Form bewusst machen oder
Handlungsspielräume (-freiheiten) eröffnen will, der Boden entzogen. Letzteres
gilt allgemein, über psychotherapeutische Intervention hinaus. Erziehung zu
»Eigenverantwortung in Freiheit« kann es nicht geben, da diese »Gerede« sei.
Wenn Eigenverantwortung nur Selbsttäuschung ist, dann können die Menschen sich immer
auf ihr physiologisches Opfer-Dasein herausreden.
Sind die Auffassungen von
Roth und Singer dadurch erledigt, dass ihre gesellschaftlichen Konsequenzen
aufgezeigt und sie von diesen her kritisiert werden? – Worin bestehen, über
diesen gesellschaftlich-praktischen Gesichtspunkt hinaus, die
wissenschaftsimmanenten Voraussetzungen von Roth und Singer? Ich nenne zwei
Merkmale, die in der FAZ-Debatte kaum eine Rolle spielen: Den
physikalistischen Reduktionismus und den Determinismus. Hinsichtlich beider
Merkmale stehen Roth und Singer in einer wissenschaftstheoretischen und
philosophischen Tradition, die sie selbst nicht reflektieren.
Der Logische
Positivismus oder Neopositivismus der Wiener Schule (Carnap, Neurath
usw.), welcher die angloamerikanische behavioristische Psychologie beeinflusst
hat, vertrat die Utopie der Einheit der Wissenschaft und das
wissenschaftstheoretische Programm des Physikalismus.(31) Danach waren
die Wissenschaften hierarchisch angeordnet. Das Soziologische hatte seine
Grundlage und erklärte sich aus dem Psychologischen, das Psychologische aus dem
Physiologischen, das Physiologische aus dem Biochemischen, ja und woraus
erklärte sich dieses? Aus dem Physikalischen (»Physikalismus!«). Dieses
Physikalische also ist die Grundlage nicht nur der Naturwissenschaften, sondern
letztlich aller Wissenschaften. Eine hierarchische Wissenschaftsauffassung,
welcher nur folgen kann, wer die je eigene Wissenschaft durch ausschließlichen
Bezug auf die »höher stehende« (oder tiefer stehende, molekulare, wenn man so
will) Wissenschaft begründen will, da sie die höhere ist und nur daraus ein
wissenschaftliches Selbstbewusstsein entwickelt.(32) Reduktionistische
Erklärung nimmt dem komplexen Gegenstand der eigenen Wissenschaft seine
eigenständige Existenz und damit dieser Wissenschaft ihren eigenständigen
Charakter. In der Regel aber wehrt sich die reduktionistisch vereinnahmte
Wissenschaft: Die Ökonomie gesteht zwar zu, dass wirtschaftliche Erwartungen
und Ängste (also individuell-psychologische Faktoren) für eine konjunkturelle
Entwicklung eine Rolle spielen. Sie würde sich aber bedanken, wenn alles
aus diesen Faktoren erklärt würde, und eigenständige ökonomische
Gesetzmäßigkeiten (übergeordnete Beziehungen zwischen Produktion und
Konsumption, die sich nicht psychologisch ausdrücken lassen) nicht zugelassen
würden. Diese reduktionistische Auffassung von Erklärung verschiebt immer nur
das Problem auf die untere Ebene. Aber wo erklären sich die Sachverhalte auf
der untersten Ebene? – Die reduktionistische Erklärung führt zum unendlichen
Regress, und das wurde schon häufig kritisiert. (Siehe die Abbildung:
»Alles Klar? – Das visuelle System«.)
Im wissenschaftlichen
Experiment findet notwendig eine Reduktion (in einem anderen Sinne) von
Faktoren, ein eingeengter Blick auf isolierte Objekte und deren quantitative
Dimensionen (»Variablen«) statt. Die Objekte werden als gegeben vorausgesetzt.
Ihr Kontext, ihre Entstehung und ihre Geschichte werden außer Acht gelassen.
Solange es bloß um das Experiment geht, ist diese Reduktion nicht nur legitim,
sondern notwendig. Die theoretisch verallgemeinernde Deutung ist aber nicht
verpflichtet, diese notwendige Einengung mitzumachen, anstatt den Gegenstand
ihrer Deutung im Rahmen des »Ganzen« und seiner Geschichte zu sehen. – Jede
reduktionistische Denkweise gibt den Gesamtzusammenhang des analysierten
Vorganges und seiner Entwicklungsgeschichte auf. Sie muss sich den Vorwurf
mechanistisch eingeengten Denkens gefallen lassen.
Allerdings ist Singer in
dieser Hinsicht nicht konsequent, eher in sich (ungereimt-)widerspruchsvoll. Er
spricht davon, dass das Zusammenwirken komplexer neurobiologischer Faktoren
eine neue Qualität der Vorgänge schafft (Singer spricht – wie auch sonst
üblich – hier von »Emergenz«.).(33) Ein großer Teil seiner Forschung handelt
davon, wie die gegenständliche Erfahrung die Entwicklung der neuronalen
Erregungsmuster der Wahrnehmung (sein Hauptforschungsgebiet) prägt. Er betont
die Bedeutung sozialer und kulturell-traditioneller Faktoren.(34) Bewusstsein
hat er immer wieder aus dem sozialen Miteinander von Individuen, aus ihrer
wechselseitigen Wahrnehmung, erklärt.(35) Gleichwohl bindet er die
»Repräsentationen« (die innere Darstellung wahrgenommener Objekte) an die je
einzelnen physiologischen Erregungsmuster. Für ihn sind die bestimmten
(einzelnen) Erregungsmuster deckungsgleich mit der psychischen Repräsentanz
einzelner wahrgenommener Objekte.
Dabei kommt die
»Emergenz«, die neue Qualität des Gesamtgeschehens, nur durch die
wechselseitige Beeinflussung der Einzelfaktoren zu Stande. Bestimmte synchron
auftretende Erregungsmuster mögen im Einzelfall die Wahrnehmung eines einzelnen
wahrgenommenen Objektes oder Merkmals bedeuten. Das ist aber nur möglich
auf dem Hintergrund des Gesamtgeschehens der Vorgänge im (tierischen oder
menschlichen, das ist hier nicht von Bedeutung) Gehirn, welches das
Einzelgeschehen bestimmt und von ihm bestimmt wird. – Dass ein Erregungsmuster
isoliert (von seinem Kontext von Gehirnvorgängen) und also allgemein schon die
psychische Repräsentation ist, das sollte – für einen Wissenschaftlicher mit
lautem naturwissenschaftlich-empirischem Anspruch – erst noch im Versuch mit
anderen Individuen bewiesen werden. Der Versuch würde schon auf der
Ebene des Vergleichs der anatomischen Struktur von Individuum zu Individuum
scheitern. Nicht einmal strukturell (anatomisch, morphologisch) sind die
Gehirne von Individuen miteinander identisch. Um wie viel weniger in ihren
physiologischen Vorgängen und Erregungsmustern …
Über Determinismus
Singer vertritt, dass in
der dinglichen Welt »deterministische Gesetze«(36) herrschen. »Dass wir, was
tierische Gehirne betrifft, keinen Anlass haben, zu bezweifeln, dass alles
Verhalten auf Hirnfunktionen beruht und somit den deterministischen Gesetzen
physiko-chemischer Prozesse unterworfen ist«,(37) das ist für ihn so
selbstverständlich, dass darüber gar nicht diskutiert werden braucht. Es sind
aber schon auf dieser Ebene Einwände zu formulieren (was in der Debatte nicht
explizit gemacht wird.). »Deterministische« Vorgänge (also solche, bei denen
aus den Bedingungen die Folgen mit 100-prozentiger Sicherheit vorhersagbar
sind) sind auch in der Natur die Ausnahme. »Deterministisch« fällt ein Körper
im (mühsam hergestellten) Vakuum. In der vorgefundenen Realität kommen immer
»Störungen« dazwischen, sozusagen der Einfluss der vorgefundenen Welt.
»Deterministisch« ist das Uhrwerk, das unter denkbarer Präzision hergestellt
ist. »Deterministisch« ist jedoch nicht einmal der Computer, dieses Produkt von
deterministisch-digitaler Mathematik und möglichst reinen Materialien. Er
erweist sich als lebendiger Quasiorganismus mit großen Schwankungen, die nicht
nachvollziehbar sind, und überraschend-eigenständigen Veränderungen – auch
unterhalb der Schwelle des gefürchteten »Absturzes«. Ich habe mir von
Computerspezialisten sagen lassen, dass es nicht möglich ist, fehlerfrei
arbeitende Computer zu bauen, und zwar grundsätzlich nicht.
Statistische Methoden sind
längst in den Biowissenschaften (in den Sozialwissenschaften sowieso) üblich,
und sie müssen sogar in Zweigen der Physik (z. B. Kalorik) angewendet werden.
»Deterministisch« ist die Mathematik beziehungsweise sind bestimmte Zweige
davon. Wird sie auf »die Realität« angewendet, dann verderben Beimengungen aus
der platten Wirklichkeit (»Störvariable«) das reine Spiel. Die Mathematik
reagiert darauf, indem sie längst statistische Methoden und deren
Weiterentwicklung, die Chaos-Forschung, entwickelt hat. Sie kommt ohne den
Begriff des Zufälligen nicht aus, sie hat sich zur Fragestellung gemacht, wie
sich aus Zufälligem Gesetzmäßiges entwickelt. In der formalen Logik gibt es
einen neuen Zweig, die »fuzzy logic«, die nicht mit
Entweder-oder-(Wahrheits-)Werten, sondern mit ungefähren Annäherungen arbeitet.
Die Naturwissenschaften greifen diese Entwicklungen auf und profitieren davon.
Der Einwand: Zufälliges
gibt es nur, solange wir nicht alles gesetzmäßig Zugrundeliegende kennen. Das
Zufällige sei nur unserer (vorläufigen) Unkenntnis geschuldet. Der Zufall
verschwinde sozusagen, für denjenigen, der alle Gesetzmäßigkeiten und
Ausgangsbedingungen kenne. Bekanntlich wurde dieser Alleskenner von dem
Physiker Laplace erfunden, als er es unternahm, das Funktionieren der Welt als
eine große Maschine zu erklären, um aufklärerisch »Gott« aus dem Spiel lassen
zu können. Er benötigte in diesem Zusammenhang den alle Ausgangsbedingungen
kennenden Geist, der dann auch nach ihm benannt wurde (»Laplacescher
Weltgeist«). »Zufällig« sind in diesem Denken – und es ist noch weit verbreitet
– Ereignisse nur, solange nicht alle gesetzmäßigen Verknüpfungen und Ausgangsbedingungen
bekannt sind. – Seitdem gibt es eine Debatte darüber.(38) Die Physik hat – seit
ihren modernen Übervätern Planck und Heisenberg – davon Abstand genommen.(39)
Weder Roth noch Singer beziehen sich in der Debatte darauf. Das befremdet, bei der
ausführlichen Darstellung ihrer Positionen in einem Heft der Deutschen
Zeitschrift für Philosophie (2/04).
Ist es schon im
konstruierten Experiment nicht möglich, ohne den Begriff des Zufalls
auszukommen, so erst recht nicht, wenn es um die Darstellung, (Deutung,
Erklärung …) von Entwicklung geht, und zwar auch im natürlichen Bereich. Ohne
dass die vorgefundenen (also gegenüber den sich Entwickelnden zufälligen)
Bedingungen einbezogen werden, ist das Nachvollziehen und Erklären der
Entwicklung einer Tierart oder eines einzelnen Tieres gar nicht möglich. Daran
scheitern auch die Hoffnungen von »Eugenik«(40), der gentechnischen
Beeinflussung der Entwicklung von menschlichen Individuen.(41) In der Biologie
gibt es den Begriff des »Driftens« für einen Prozess, in dem sich über eine
lange Frist und die vielen Zufälligkeiten der Zwischenzustände eine Tendenz ausbildet,
sodass dann zum Beispiel eine neue Pflanzen- oder Tierart entstehen kann.
Es kann der Einwand
vorgebracht werden, bei der historischen Entwicklung und entsprechend
der historischen Forschungsmethode komme man nicht ohne
den Zufall aus, nicht aber bei der Erforschung des systematisch-gesetzmäßigen
und der experimentellen Methode. Was aber im Experiment (systematisch,
nichthistorisch) untersucht wird, hat selbst seine Entwicklung, seine
Geschichte; es hat sich entwickelt unter vorgefundenen (also zufälligen)
Bedingungen. Nicht nur die einzelnen Substanzen oder Objekte, die in das
Experiment eingehen, haben ihre Geschichte, auch die Gesetzmäßigkeiten, die an
sie gebunden sind. Mutation und Variation, Adaptation und Selektion (um nur
einige Beispiele zu nennen) als Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Arten
sind ohne die Organismen, auf die sie bezogen sind, nicht denkbar. Diese
Gesetzmäßigkeiten von den biologischen Wesen, auf die sie sich beziehen,
loslösen und ihnen eine unabhängige Existenz zusprechen, sind auch eine Art
Dualismus; Dualismus deswegen, weil er eine eigenständige Existenz der
Naturgesetze voraussetzt – außerhalb von den dinglichen, historisch
entstandenen Wesen dieser Welt.
Nicht einmal das Wetter,
ein vergleichsweise unhistorischer und unbiologischer Gegenstand, ereignet sich
»deterministisch«. Die Wettervorhersage hat klugerweise darauf reagiert, indem
sie ihre Vorhersage statistisch-wahrscheinlichkeitsmäßig formuliert
(»Regenwahrscheinlichkeit 60 % ...«). Selten kann man in der Presse lesen, dass
zeitgeschichtliche Vorhersagen der Wissenschaft nachgeprüft werden, und wenn,
dann häufig genug mit negativem Ergebnis. Die pessimistischen Vorhersagen des
Club of Rome sind (zum Glück) nicht so eingetreten, und das sicher nicht
ausschließlich aus dem Grund, dass sie praktische Konsequenzen hatten, die ihre
Vorhersagen in Teilbereichen zu »selbstwiderlegenden Prophezeiungen« machten. –
Die psychometrisch orientierte Testpsychologie ist scharf darauf, hohe
Korrelationen zwischen Testwerten und Indikatoren von Leistung und so weiter,
die in der Zukunft liegen, zu erhalten. Schon mittelhohe
Korrelationskoeffizienten (statistischer Kennwert der Vorhersagegenauigkeit)
sind für sie ein gutes Ergebnis, und häufig muss sie sich begnügen mit
»signifikanten« Korrelationen. Diese aber hängen ab von der Stichprobengröße,
eine sehr niedrige Korrelation kann schon »signifikant« sein, wenn die
Stichprobe nur groß genug ist. Das wird häufig in der journalistisch-populären
und auch manchmal in der wissenschaftlichen Wiedergabe von
Forschungsergebnissen nicht mitgeteilt.
Freilich gibt es im
Vergleich von Ereignisreihen und ihren Zusammenhängen große Unterschiede in der
(mathematisch-)deterministischen Beschreibbarkeit und Vorhersagbarkeit. In
bestimmten Bereichen gibt es deterministische Vorhersagbarkeit; aber werden
diese Bereiche verlassen, so verkehrt sich der Zusammenhang von Ursache und
Wirkung. Minimale Unterschiede in den Ursachen haben sprunghafte Änderungen auf
der Seite der Wirkungen zur Folge, und diese potenzieren sich in Bezug auf
mittelbare Wirkungen, sodass die Stabilität einer Entwicklung aufhört, woraus
sich dann Zerstörung oder aber Neues ergeben kann – das Paradigma der
Krise in der Entwicklung von Natur- und gesellschaftlich-historischen
Prozessen.
Auch im Zusammenhang mit
dem Determinismusproblem argumentiert Singer in sich widerspruchsvoll. Er
spricht immer wieder von komplexen Systemen. Die Komplexität komplexer
Systeme und überhaupt von Systemen besteht aber darin, dass sie sich in ihrer
Gesamtdeutung der einseitig kausalen Denkweise entzieht. Bei Systemen
vermischen sich Wirkung und Rückwirkung, es wirken die verschiedenen Faktoren
aufeinander ein, und der Teil auf das Gesamte und umgekehrt, und eine einseitig
kausale Denkweise kann nur Momentaufnahmen erbringen, die in sich die Spur der
eingeengten Sichtweise tragen. Sie für das Ganze auszugeben, verfälscht
den Gegenstand.
Tenor der Kritik von
philosophischer Seite ist, dass Roth und Singer in ihren Aussagen unzulässig
die Begriffsebenen wechseln, wenn sie aus ihren experimentellen Ergebnissen
Schlussfolgerungen ziehen, die andere Sphären betreffen und einer anderen
(sozialen oder philosophischen) Begrifflichkeit bedürfen. Es handele sich um
unzulässige Grenzüberschreitungen. »Deshalb scheint mir der Gegenvorwurf, dass
sich die Hirnforschung bei der Determinismus-Diskussion nicht ernsthaft auf
Philosophie und Geisteswissenschaften einlässt, gewichtiger (als der Vorwurf,
»dass sie die Determinismus-Diskussion führen, ohne sich ernsthaft auf die
Hirnforschung einzulassen«; F.<|>D.), denn sie greift in deren
traditionelle Felder ein, in denen sie ein entscheidendes Wort zu sprechen hat,
und sie tut das nicht ohne Arroganz.«42
Diese Kritik unzulässiger
Grenzüberschreitung ist schlüssig. Aber: Handelt es sich bloß um einen
wissenschaftsmethodischen Fehler – oder ist die Auffassung von Roth und
Singer, gemessen an der Wirklichkeit, einfach falsch? Anders gefragt: Was ist
die Realität der Willensfreiheit? Singer »überschreitet« nicht nur »die
Grenzen«, er hat eine falsche Antwort auf die Frage der Willensfreiheit: Sie
sei Illusion. Das aber ist zu prüfen.
Jeder Mensch kann in
Entscheidungssituationen an sich selbst erleben, daß er entscheiden
kann. Freilich beeindruckt das die Verneiner der Willensfreiheit nicht, sie
deuten es als subjektive Illusion, von denen es zahlreiche gibt. Sie lehnen den
Blick »nach innen«, auf das eigene Erleben, mit diesem Argument ab. Folgen wir
ihnen für einen Augenblick und nehmen den Blick »von außen« ein.
Auf der einen Seite ist
hier zunächst zu nennen, was nicht dem Willen (und daher dessen
Freiheit) unterworfen ist: Der epileptische Anfall, der den kranken Menschen
»überfällt«. Der Traum im Schlaf. – Noch keine besonders guten Beispiele, da
beide mit anderen Bewusstseinszuständen (bzw. Bewusstlosigkeit) verbunden sind.
Nehmen wir Beispiele, bei denen das Bewusstsein gegeben ist: Der nervöse Tic,
den ein Mensch im Augenblick nicht kontrollieren kann; das »Vergessen« des
Bestandteils einer automatisierten Handlungskette; die Handlung »im Affekt«, in
einem extremen emotionalen Zustand, bei der die »Selbstkontrolle«,
ausgeschaltet ist. (Weitere Beispiele siehe »Über Freiheit, Zwang, Fantasie«.)
– Es ist dieser »Affektdurchbruch«, bei dem nicht mehr das (oben genannte)
»Ganze« des Gehirns (Wertvorstellung, Reflexion, Erfahrung) eingeschaltet zu
sein scheint, welches der allerdings eingeschränkten Willensfreiheit in
der forensischen Medizin und Psychologie ihre Bedeutung gibt.
Auf der anderen Seite: Die
Auswahl eines Essens auf einer Speisenkarte, eine Berufswahl, eine politische
Entscheidung und so weiter. Bei diesen Beispielen gehen Erfahrungen, Überlegungen
und Wertvorstellungen in die Handlung ein. Für Willenshandlungen dieser Art
gibt es einen besonderen Begriff: Es handelt sich um Entscheidungen.
Solche können sich auf Ziel- und Wertvorstellungen beziehen und sind dann
»substanziell«. Oder bloß einzusetzende Mittel bei feststehender Zielsetzung
und sie sind dann mehr oder weniger alltäglich. Erst der Umstand, dass
Erfahrungen, Wertvorstellungen, Reflexionen über Folgen in sie eingehen, macht
sie in der Innenansicht des Erlebens und in der Außensicht des Beobachters zu Willenshandlungen.
Zwischen den beiden
Extremen gibt es zahlreiche Übergänge. Und es gibt äußere und innere Umstände,
welche den Spielraum der Entscheidungen bestimmen und ihn einengen
können: Zeitlicher Druck, die Gelegenheit, Erfahrungen gemacht zu haben, die
gesundheitlichen Voraussetzungen. Es ist eben etwas verschieden, ob eine
psychische Erkrankung oder eine frontale Hirnverletzung vorliegt (mit der Folge
»mangelnder Impulskontrolle«) oder nicht. Im Großen und Ganzen kann man sagen:
Krankheiten, die in irgendeiner Weise das Gehirn betreffen, und psychische
Ausnahmezustände (situationsbedingt, ohne hirnorganische Erkrankung) können den
Spielraum von Entscheidungen mehr oder weniger einengen, und zwar mehr oder
weniger. Die gesellschaftlichen äußeren Umstände (die Staatsform usw.)
können den Menschen (politisch) unfrei machen, indem sie den äußeren
Handlungsspielraum einengen. Die Willensfreiheit heben sie nicht auf. (Siehe »Woyzeck«.)
Nicht einfach das subjektive
Gefühl von Willensfreiheit ist schon der Beweis für dessen Existenz,
sondern es sind die objektiven Unterschiede zwischen den Extremen, von
dem Nullpunkt (überhaupt keine Entscheidung möglich) bis zur reflektierten
Entscheidung bei günstigen Umständen, ohne Zeitdruck und so weiter, welche dem
Begriff wissenschaftlich-psychologischen Realitätsgehalt geben. Auf sie
lassen Roth und Singer sich nicht ein.
In diesem Zusammenhang ist
noch ein innerer Widerspruch in Singers Argumentation zu nennen. Singer
verweist darauf, dass die Tat eines Kriminellen bestimmt sein kann »durch einen
Gehirntumor in den Strukturen des Frontalhirns, die benötigt werden, um
erlernte soziale Regeln abzurufen und für Entscheidungsprozesse verfügbar zu
machen.« (Siehe oben) – Will Singer die kühl überlegte Tat eines gesunden
Kriminellen (oder geachteten Bürgers und beispielsweise Wirtschaftskriminellen)
mit der Tat unter Bedingungen einer Gehirnerkrankung gleichsetzen? Ausgerechnet
mit dem pathologischen Ausnahmebeispiel begründet Singer seine
allgemeine Aufhebung von Verantwortlichkeit und Freiheit.
Was bleibt von Roths und
Singers Position? Die Auffassung, dass der Wille und das Gefühl von
Willensfreiheit ihre Grundlage in materiellen Vorgängen haben. Soweit ein
wissenschaftlicher Gemeinplatz. Sie gehen aber darüber hinaus: Man tut, was man
tut, weil man nicht anders kann. Diese Auffassung lässt sich auf wissenschafts-
und erkenntnistheoretischer Ebene in mehrfacher Weise kritisieren: unzulässig
die Grenzen der Wissenschaften überschreitend; reduktionistisch,
deterministisch, mechanistisch. Alles häufig verwendete Begriffe der
Wissenschaftskritik, die noch nicht ausreichen, ihre reale Falschheit zu
beweisen. Die Positionen von Roth und Singer sind unzutreffend, da sie nicht
den realen Unterschieden gerecht werden. Sie sind gleichzeitig in sich
ungereimt-widersprüchlich. Gegenüber der passiven Kreativität der
Naturentwicklung, gegenüber der aktiven Kreativität des Menschen, gegenüber den
Lebensläufen »großer Persönlichkeiten« und »einfacher Menschen«, die sich unter
ungünstigen oder widrigsten Bedingungen behaupteten, haben sie nur den
langweiligen physiologischen Determinismus zu bieten.
Wie ist dieser Angriff auf
das demokratische Menschenbild des eigenverantwortlich handelnden Individuums motiviert?
Sicher stehen sie im Kontext eines Denkens, das von der Überbetonung
psychischer und sozialer Bedingungen (Sechziger-, Siebzigerjahre) eine
Kehrtwende macht zur Betonung naturhafter Gegebenheit des Menschen und der
Hoffnung oder dem Versprechen, diese (hoch-)technisch beeinflussen zu können.
Reicht die Erklärung? Sind die Motive bloß
sensationslüstern-aufmerksamkeitsheischend? Bloß forschungs-(finanz-)politisch?
Dass sie wissenschaftliche Begleitrhetorik für eine qualitative Verschiebung
des Strafrechts in Richtung Vorbeugehaft seien, mag ich nicht glauben. Oder
haben die Autoren, fasziniert von den suggestiven bunten Bildern der
Gehirnvorgänge, sich bloß vergaloppiert – und werden dafür medial mit großer
Aufmerksamkeit belohnt? Und kommt die weite Debatte erst dadurch zu Stande,
dass es sich um so namhafte Wissenschaftler handelt? Für mich bleibt ein Rest
von Unerklärtem.
1
Und dadurch, am Rande gesagt, die wissenschaftliche
Entwicklung hemmte und auf die gesellschaftliche Praxis vergleichsweise wenig
Einfluss (wenig Einfluss auf die Psychotherapie) und vor allem
bürokratisierenden Einfluss auf den pädagogisch-sozialen Bereich) nehmen
konnte. Um die Beziehungen zwischen psychischen und zu Grunde liegenden
physischen (funktionell-anatomischen und physiologischen) Phänomenen zu
untersuchen, mussten sich erst besondere Wissenschaftsdisziplinen etablieren:
Physiologische Psychologie, Neuropsychologie.
2
Am berühmtesten in dieser Hinsicht: Damasio und Ledoux.
3
Vgl. W. Singer: »Hoffnung für Querschnittsgelähmte«, in:
Singer: Ein neues Menschenbild?, Frankfurt 2002.
4
Vor voreiligen Hoffnungen auf die Anwendungen der Genetik
warnt auch Wolf Singer, von dem hier vor allem die Rede sein wird. Die
Entdeckung des Genoms durch Craig Venters Forschungsgruppe sieht er in der
politischen Bedeutung der Forschungsorganisation. Im Übrigen: »Soweit ich das
überblicken kann, kommen die euphorischen Zukunftsherbeiredner vor allem aus
den Ingenieurwissenschaften. Die kommen also aus einem Bereich, der erfolgsgewohnt
ist. Wenn ein Problem analytisch gelöst ist, dann ist die Konstruktion eines
guten Produktes nur noch eine Frage des Designs, der Zeit.« Dann verweist
Singer auf die forschungsfinanzpolitische Bedeutung von diesbezüglicher
»Propaganda«. In: »Ein Gespräch mit Wolf Singer«, in: FAZ, 24.8.00.
5
Vgl. W. Singer: »Ignorabimus? Ignoramus.«
In der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaften findet die Verschränkung
von Neurobiologie und Computerwissenschaft schon seit zwei Jahrzehnten
Beachtung.
6
Vgl. Stern, in: Die Zeit, 40/03.
7
Tagung in Loccum, vgl. FAZ, 5.7.04.
8
Vgl. C. Geyer: »Frieds
Brainstorming. Jetzt ist auch die Geschichtswissenschaft aufs Gehirn
gekommen«, in: FAZ, 5.7.04. – Vor einigen Jahren war Singer auf einem
Historikerkongress eingeladen und hielt den großen Plenumvortrag.
9
M. Solms: »Freuds Wiederkehr«, in: Spektrum der
Wissenschaft 10/2004. – Seit 2000 gibt es die Zeitschrift Neuropsychoanalysis.
Bei den Herausgebern wiederum der renommierte Wolf Singer. Siehe auch: M.
Solms: »Was bleibt von Freud«, in: Spiegel Extra 4/04.
10
Vgl. F. W. Graf: »Denk mal höher. Gibt es einen
neurobiologischen Gottesbeweis?«, in: FAZ, 23.7.04.
11
G. Roth: »Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher
Weise?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004) 2, S.
223–234; hier: S. 223.
12
Der Neuropsychologe Markowitsch, Singer zustimmend. Anders
der Neuropsychologe Niels Birbaumer: »Bescheidene Zurückhaltung bei der Deutung
neurobiologischer Daten ist vielmehr notwendiger denn je, vor allem auf Seiten
jener Hirnforscher, die auf lukrative molekulare oder genetische Therapien
hoffen oder scheinbar einleuchtende Erklärungen für philosophische, politische,
biografische oder soziale Tatbestände den Medien liefern«, in: FAZ,
8.7.04. Besser kann man das nicht sagen.
13
FAZ, 21.7.04.
14
G. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive
Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt 1997, S. 307 ff.
15
G. Roth: siehe Fußnote 11, hier S. 229.
16
Ebenda S. 223.
17
W. Singer: »Selbsterfahrung und neurobiologische
Fremdbeschreibung. Zwei Konfliktträchtige Erkenntnisquellen«, in: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie, 52 (2004) 2, S. 235–255; S. 245.
18
»Das Ende des Freien Willens«, in: W. Singer: Ein neues
Menschenbild, a. a. O., S. 24–34, hier: S. 24.
19
W. Singer: siehe Fußnote 17, S. 247.
20
A. Schiemann: »Kann es einen freien Willen geben? – Risiken
und Nebenwirkungen der Hirnforschung für das deutsche Strafrecht«, in: NJW
29/2004, S. 2056–2059. – Den Hinweis verdanke ich der Rechtsanwältin Annett Löwe
aus Berlin.
21
FAZ, 8.9.04.
22
»Diese Befunde [von Libet; F. D.] zeigten, dass
zwischen neuronalen und mentalen Prozessen keineswegs ›nur‹ eine strikte
Parallelität herrscht, sondern dass dem bewussten Erleben notwendig und
offenbar auch hirnreichend unbewusste neuronale Geschehnisse vorausgehen.« Die
»strikte Parallelität«, gegen die sich Roth hier äußert, ist eine solche
dualistische Auffassung. In: G. Roth, siehe Fußnote 11, hier S. 226
(Hervorhebung G. R.).
23
Die berühmte Ausnahme: K. R. Popper, J. C. Eccles in dem
faszinierenden Buch: Das Ich und sein Gehirn. München 1982.
24
Nicht einmal von dem Theologen E. Schockenhoff (FAZ,
19.11.2003), der ebenso wie die an der Debatte teilnehmenden Philosophen
erkenntnistheoretisch oder erkenntnismethodisch argumentiert (und nicht
ontologisch).
25
W. Singer: »Keiner kann anders als er ist«, in: FAZ,
8.1.04 – Fast wörtlich ähnliche Formulierungen in: »Unser Wille kann nicht frei
sein«, in: Spiegel Spezial 4/04.
26
W. Singer: »Das falsche Rot der Rose«, in: W. Singer, Ein
neues Menschenbild, S. 54–66.
27
W. Singer ist Direktor des Max-Planck-Instituts für
Hirnforschung in Frankfurt am Main.
28
Vgl. G. Kaiser: »Die Folgen einer deterministischen Sicht
des Menschen (sind) viel radikaler, als die deterministischen Neurobiologen zu
meinen scheinen. Ohne Wollen gibt es kein Sollen, und ohne Urteilen und Handeln
nach Gründen – und nicht lediglich nach Ursachen – kein Richtig und kein
Falsch. Wir können zwar, wie Singer es für angebracht hält, unsere Kinder für
einen dummen Streich verantwortlich machen und Verbrecher ohne Urteil aus
bloßer Zweckmäßigkeit wegsperren, aber das wäre in sich unlogisch und der
etablierte Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. Wir würden nicht toleranter
und demütiger gegenüber Abweichlern, sondern es gäbe keine Abweichler mehr,
oder wir wären alle welche.« – »Wär’s möglich?/Gehirnzwang ist Glaubenssache«,
in: FAZ, 17.4.04.
29
Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, dass die beiden
Wissenschaftler nicht ausschließlich an dem gemessen werden sollten, was sie in
diesem Zusammenhang vertreten. Singer äußert sich zum Beispiel
verantwortungsvoll-vorsichtig zu den Möglichkeiten der Gentechnik.
30
Vgl. z. B. W. Rasch: Forensische Psychiatrie,
Stuttgart 1999.
31
Vgl. H. J. Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie,
Frankfurt am Main: Fischer TB 2003, S. 773.
32
Viele Sozialwissenschaften haben für sich aus diesem
szientistischen Missverständnis ein Programm gemacht, indem sie sich
ausschließlich an der »naturwissenschaftlichen Methode« (oder was dafür
gehalten wird) orientieren.
33
Im Zusammenhang mit Bewusstsein: »Durch die zunehmende
Komplexität ist offenbar das passiert, was in komplexen Systemen nicht
ungewöhnlich ist: Quantitative Vermehrung führt zu neuen Qualitäten.« In:
»Unser Wille kann nicht frei sein«, In: Spiegel/Extra 4/04, S. 23.
34
Auf diesen Widerspruch weist H. P. Krüger hin. »Das Hirn im
Kontext exzentrischer Positionierungen«, in: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 52 (2004) 2, S. 257–293.
35
Z. B. im Spiegel Extra 4/04.
36
Eine entsprechende Formulierung: »Wir haben kein Problem mit
der Einsicht, dass tierisches Verhalten vollkommen determiniert ist, dass die
jeweils folgende Aktion notwendig aus dem Zusammenspiel zwischen aktueller
Reizkonstellation und mittelbar vorausgehenden Gehirnzuständen resultiert.« W.
Singer: »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei
konfliktträchtige Erkenntnisquellen«, in: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie, 52 (2004).
37
»Wir können das Verhalten einfacher Organismen schon heute
nahezu lückenlos auf die Vorgänge in deren Nervensystem zurückführen …
Vollkommen deterministisch ... Ich glaube nicht, dass wir da irgendwelchen
unverhofften Schwierigkeiten begegnen werden.« W. Singer: »Hoffnung für
Querschnittsgelähmte,« in: W. Singer: Ein neues Menschenbild – Gespräche
über Hirnforschung, Frankfurt am Main 2002, S. 46–53, Zitat S. 47.
38
Zusammenfassend prägnant dargestellt z. B. in: M. Spitzer: Selbstbestimmen.
Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun?, Heidelberg/Bonn 2004,
S. 292 ff.
39
»In der Quantentheorie führen probabilistische [=
mathematisch-statistische; F. D.] Zustandsbeschreibungen von
Mikroobjekten zu indeterministischen Auffassungen der Kausalität«, Enzykolopädie
und Wissenschaftstheorie, J. Mittelstraß und S. Blasche, Stuttgart/Weimar
1995, Band II, S. 375. Kausalität und Determinismus werden also nicht
gleichgesetzt.
40
Das Wort wird – nach seiner Karriere im
Nationalsozialismus, nicht gerne gebraucht. Dem Sachverhalt (der
Methode, den Zielen der Methode) wird wiederum Bedeutung beigemessen.
41
FAZ vom 21.7.04: Auf einer Tagung in Jena mussten sich
geisteswissenschaftliche Befürworter der Eugenik von Biologen sagen lassen,
dass es halt nicht so funktioniere, wie sie erwarten. »Tatsächlich meinten die
anwesenden Biologen zur Eugenik einheitlich, das funktioniere doch alles
ohnehin nicht. Die diagnostischen Methoden würden schnell zunehmen. Doch immer
handele es sich nur um Wahrscheinlichkeiten. Und das keineswegs nur als Folge
unserer noch unzureichenden Kenntnisse. Die Vorstellung, bestimmte
Molekülkonfigurationen glichen Schaltern, die man nur umzulegen brauche, sei
grundlegend falsch. Schon die Genexpression müsse man sich als prinzipiell
nicht eindeutig voraussagbare Anpassung des Gens an seine Umwelt denken.«
42
G. Kaiser, siehe Fußnote 28.