Balduin Winter
Der
nächste »Schurke«?
Glaubt man Stimmen aus dem American Enterprise Institute,
einem einflussreichen Think Tank der Neokonservativen, dann ist George W. Bush
ein zögerlicher Kriegsherr, der es längst versäumt habe in den Iran einzumarschieren.
Für AEI-Fellow Michael A. Lebeen ist der Iran »die Mutter des modernen
islamischen Terrorismus, der Schöpfer der Hizbollah, der Verbündete von
al-Qaida, der Förderer von Zarqawi, der langfristige Förderer der Fatah und das
Rückgrat der Hamas«. Er erinnert daran, dass Präsident Bush in seiner National
Security Strategy vom September 2002 dazu aufgerufen habe, gegen die
staatlichen Helfer der Terroristen genauso hart vorzugehen; das habe im Fall Afghanistan
sehr gut geklappt, jedoch nicht im Fall Irak. In irakischen Straßen führen
Iraner, Syrer und Saudis einen Regionalkrieg gegen die USA. In dieser
Argumentation spielt das iranische Atomprogramm nur eine Nebenrolle, lediglich
ein zusätzlicher Beweis für den Schurkenstatus der »Mullahkratie«. (AEI-Kommentare,
9.10.)
Tatsächlich stiftet der Iran einige Verwirrung in den
politischen Köpfen der USA. Es gibt – trotz »Achse des Bösen« – auch eine Reihe
hochrangiger Kontakte mit dem iranischen UN-Botschafter in New York,
Mohammad-Javad Zarif. Als erster offizieller Besucher seit 1979 kam der
republikanische Senator von Pennsylvanien, Arlen Specter, nach Teheran und
erklärte im April 2004: »Wir müssen einen Dialog mit dem Iran beginnen ... Wir
müssen eine ständige Kommunikation herstellen, um den Iran zu hindern
Atomwaffen zu entwickeln.« Das klingt sehr »europäisch« und wird wiederum von
den NeoCons mit Spott und Hohn belegt. Die US-Regierung selbst scheint gewillt
zu sein, dem Iran nach seinen taktischen Geplänkeln eine letzte Verhandlungschance
mit den Europäern einzuräumen, wiewohl diese von Washington sehr skeptisch
beurteilt wird. Stephen G. Rademaker, Berater Colin Powells für Rüstungskontrolle,
äußerte sich dazu: »Wir nehmen nicht an, dass sich der Iran auf lange Sicht an
jede Forderung, keine Atomwaffen zu entwickeln, anpasst (Washington Post,
9.11.).« Man wolle »den europäischen Verbündeten bei diesen Verhandlungen nicht
im Wege sein«, zu einem diplomatischen Ergebnis zu kommen. Doch ähnle der Fall
Iran sehr dem Nordkoreas: »Washington will eine Garantie der unbefristeten
Suspendierung«, wenn der Iran nicht zustimme, solle er auf den
UN-Sicherheitsrat verwiesen werden, »um möglichen Sanktionen ins Auge zu
blicken«.
Darf der Iran nicht über die Atomtechnologie verfügen? Ein
Argument besteht darin, dass es verdächtig sei, wenn ein reiches Ölförderland
ausgerechnet auf Atomenergie setze. »Der Iran verfügt über die viertgrößten Öl-
und die zweitgrößten Gasvorräte der Welt und ein beträchtliches Potenzial an
regenerativen Energiequellen«, schreibt Mohssen Massarat im Freitag
(29.10.). »Dass aber ausgerechnet die teuerste und risikoreichste
Energietechnologie ... die künftige Energieversorgung des Landes sichern soll,
stellt die Glaubwürdigkeit des offiziellen Iran am stärksten in Frage.«
Nun gibt es aber schon seit 1957 ein Kooperationsabkommen
des Iran mit den USA, »Atoms for Peace«, in dessen Rahmen 1967 Washington einen
kleinen Forschungsreaktor an Teheran lieferte. 1959 trat Iran der IAEA bei und
setzte 1974 sein Safeguards-Abkommen in Kraft, womit seine zivilen Kernanlagen
den IAEA-Kontrollen geöffnet wurden. Zugleich wurde ein Programm ausgearbeitet,
das bis Mitte der Neunzigerjahre den Bau von 23 Kernkraftwerken vorsah (alle
Informationen: Oliver Thränert: Der Iran und die Verbreitung von ABC-Waffen,
SWP-Studie, Berlin 2003).
1979 waren in Buschehr zwei Reaktoren teilweise fertig
gestellt. Unter Khomeini galt die Atomenergie zunächst als westliche, »dem
Islam unwürdige« Energie. Erst Mitte der Achtzigerjahre wurde weitergeforscht
und -gebaut, teilweise jenseits internationaler Kontrollen. Gemeldet ist der
IAEA ein ziviles Programm, in dem auch der Bau von Schwerwasserreaktoren
vorgesehen ist. Wirtschaftlich lohnen sich diese nach Ansicht von Experten
nicht, machen jedoch Sinn in Kombination mit einer Wiederaufbereitungsanlage:
»Größere Mengen Plutonium würden anfallen, die zum Bau von Atombomben genutzt
werden könnten« (Internationale Politik, 8/03). Pakistan, China, später
Russland wurden die entscheidenden Lieferanten. Russland blieb nur beschränkt
im Geschäft und verpflichtete sich gegenüber der USA, kein für Atomwaffen
verwendbares Material zu liefern – woran es sich jedoch nicht gehalten haben
dürfte.
Den springenden Punkt formulierte Klaus-Dieter Frankenberger
in der FAZ (1.10.): »Die Frage lautet nicht wirklich, ob Iran ein Recht
auf Nuklearenergie habe. ... Entscheidend ist vielmehr die Frage: Kann man
hinnehmen, wenn Iran Uran anreichert, sich potenziell waffenfähiges Material
verschafft und den Schritt zur militärischen Atommacht vollzieht? Und wenn man
es nicht hinnehmen will: Was ist dagegen zu tun und von wem? Der Gedanke, dass
im Mittleren Osten ein (noch immer) islamisch-fundamentalistisches Regime über
Atomwaffen verfügt, hat nichts Beruhigendes an sich.« Und gar nicht beruhigend
ist es, wenn der im Ruf des Reformers stehende iranische Präsident Khatami den
drohenden Konflikt an die Wand malt: »Wir wollen verhindern, dass sich der
UN-Sicherheitsrat mit dem Iran befasst. Werden sie uns jedoch unser legitimes
Recht rauben, dann sollten wir und unser Volk auch bereit sein, den Preis für
die Wahrung des nationalen Rechts zu zahlen. Möge dieser Tag aber nicht kommen«
(Freitag, 29.10.).
Von der Möglichkeit eines solchen Tages X hatten schon
länger zuvor führende israelische Politiker gesprochen, die sich durch das
iranische Atomprogramm bedroht fühlen. Dass es eben nicht um die friedliche
Nutzung ging, brachten iranische Oppositionelle im Oktober 2002 ans Licht der
Weltöffentlichkeit, als sie auf eine Anlage zur Anreicherung von Uran in Natanz
hinwiesen, die der IAEA nicht gemeldet war. Postwendend reagierte Israels
Premier Ariel Scharon, der in einem Interview mit der Londoner Times am
5.11.02 erklärte, sofort nach dem Irak müsse man den Iran ins Visier nehmen.
Laut Sunday Times (18.7.) liegt ein erster Angriffsplan bereit, zudem
sei zu »Übungszwecken« der Atomreaktor Buschehr in der Negev-Wüste als Modell
nachgebaut worden. Hier trainieren israelische Luftwaffenpiloten den exakten Bombenabwurf.
»Allerdings würde sich ein Angriff auf iranische Atomanlagen nach Ansicht von
Experten als höchst kompliziert erweisen. Die Anlagen sind im ganzen Land
verteilt und die Geheimdienstinformationen über Iran spärlich. Dies bestätigte
Alex Vatanka vom Analysemagazin Jane’s Sentinel Security Assessments in
London. ›Es gibt keine guten Geheimdienstinformationen über Iran‹, sagte auch
der israelische Strategiefachmann Reuven Pedazur der AP. ›Ein
israelischer Angriff in Iran würde riesigen politischen Schaden anrichten‹,
mahnte Pedazur. ›Und letztlich würde das Programm fortgesetzt werden.‹« (Bahran
Nirumand, iran report 10/2004, www.boell.de)
Steht dem Nahen und Mittleren Osten ein Rennen um die
Atombombe bevor? Schon heute gibt es auf dieser asiatischen Flanke zwischen
Mittelmeer und Indischem Ozean drei Atommächte: Israel, Pakistan, Indien. Nun
ist der Iran nahe daran, waffenfähiges Uran herzustellen, Schätzungen zufolge
könnte er in einem Jahr schon in der Lage sein. Und schließlich gibt es noch
Ägypten und Saudi-Arabien, die sich sowohl von Israel als auch vom Iran bedroht
fühlen. Auch hier gibt es Überlegungen für eine eigene nukleare Option.
»Erkennbar sind«, schreibt Thomas Gutschker (Rheinischer Merkur, 5.8.),
»zwei konkurrierende Strategien. Die eine setzt auf gütliche Schlichtung und
die Selbstverpflichtung der Region auf eine kernwaffenfreie Zone. Die andere
pocht dagegen auf die sanktionenbewehrte Einhaltung des
Atomwaffensperrvertrags. Der Hauptunterschied: Im ersten Fall wird Israel
einbezogen, im zweiten nicht – weil es diesem Abkommen nie beigetreten ist. –
In einer idealen Welt wäre die erste Strategie vorzuziehen – in der realen ist
das aber nicht möglich. Denn Israel liegt schon heute in Reichweite der Mittel-
und Langstreckenraketen aus dem Iran und Pakistan. ... Nur die Atombombe bietet
Sicherheit in einer feindlich gesinnten Umgebung. Für die arabischen Nachbarn
und den Iran geht es dagegen um etwas anderes: die Dominanz in der Region.«
Die Idee der kernwaffenfreien Zone ist weit mehr als ein
Projekt der politischen Literatur. Sie wird alljährlich in der UN abgestimmt: »Seit 1974 verabschiedet die UN-Generalversammlung jedes
Jahr eine – ursprünglich von Ägypten und dem Iran eingebrachte – Resolution für
eine nuklearwaffenfreie Zone (NWFZ) im Mittleren Osten, seit 1980 einstimmig,
also mit israelischer Zustimmung. Nachdem der irakische Präsident Saddam
Hussein im Jahr 1990 angekündigt hatte, Chemiewaffen zu besitzen und sie im
Falle eines israelischen Angriffs auch gegen die israelische Zivilbevölkerung
einsetzen zu wollen, startete Ägypten eine Initiative für eine
massenvernichtungswaffenfreie Zone Mittlerer Osten (Mubarak-Initiative). Nach
dem Golfkrieg 1991 griffen auch der Golf-Kooperationsrat und der
UN-Sicherheitsrat diese Idee auf. Trotz der bislang fehlgeschlagenen
Initiativen besteht eine realistische Chance, dem Ziel einer
massenvernichtungswaffenfreien Zone näher zu kommen.« (Mützenich: »Ein
Mittlerer Osten ohne Massenvernichtungswaffen«, in: Internationale Politik
und Gesellschaft, 4/2004)
Der Iran, obzwar eine Regionalmacht, steht, mit Ausnahme
seiner traditionell guten Beziehungen zu Syrien und seinem zuletzt
entspannteren Verhältnis zu Ägypten, auch in der Region relativ isoliert da und
hat, angesichts der Feindseligkeit der US-Regierung, eine Art
»Wagenburg-Mentalität« (Ferhad Ibrahim) entwickelt. Der chinesische
Außenminister Li Zhaoxing bestätigte bei einem Staatsbesuch in Teheran am 5.11.
zwar, dass China »für eine Verhandlungslösung eintrete« und sich ein Veto
vorstellen könne, »im Falle, dass die USA und die drei europäischen Nationen
der EU harte Sanktionen fordern« (iran-press-service, 6.11.); doch
relativierte er seine Aussage vor Journalisten, dass es »gegen eine übermäßige
Verwendung des Vetos spezielle Grenzen gibt«. Der Chef des außenpolitischen
Komitees im Obersten Staatssicherheitsrat, Hosseyn Moussavian, warnte in Radio
France International: »Wenn die Iraner denken, dass China ihre Partei gegen
die Vereinigten Staaten in den Vereinten Nationen ergreifen würde, irren sie
sich absolut.« Die ägyptische Wochenzeitung Al-Ahram sieht in der
kommenden IAEA-Sitzung »einen Wendepunkt in der Geschichte des Irans und des
Mittleren Ostens als Ganzes« (21.10.): »Die Sturmwolken versammeln sich über
dem Iran, und der Wind heult.«
Da und dort wird die militärische Option erörtert, doch ist
die Stimmungslage insgesamt anders als vor den UN-Sitzungen zum Irak. Auch im
Verhältnis zu den Europäern wird ein anderer Ton gepflegt. Das liegt wohl auch,
wie das Jaffee Center for Strategic Studies an der University of Tel Aviv
feststellt, »an der geänderten Position der Europäer zur Proliferation«, an den
Beispielen Nordkorea und Libyen dargelegt (Strategic Assessment, Vol. 7, No.
1, May 2004). Großbritannien, Frankreich und Deutschland spielen ihren
Part, abfällige Bemerkungen beschränken sich auf den Kreis der Hardliner,
offiziell scheint man darum bemüht Politik aufeinander abzustimmen.
Die Zurückhaltung der US-Regierung mag noch einen anderen
Grund haben. Tehran Times meldete am 9.11., dass ein Abkommen zwischen
den drei Europäern und dem Iran knapp vor dem Abschluss stünde, wonach der Iran
auf Urananreicherung verzichte. Und seitens des Iran gibt es Signale von
höchster Ebene, die auf ein Einlenken hindeuten. Am 8.11. ritt der General des
Wächterrates, Mohammad Baqer Zolqadr, scharfe Attacken gegen Israel und die
USA, erwähnte jedoch zugleich, dass »der Gebrauch nicht herkömmlicher Waffen im
Widerspruch zu den Fundamenten unserer Religion« stünde und dass »solche Waffen
nachteilige Auswirkungen auf die Nation erzeugen« würden (iran-press-service).
Auch der oberste religiöse Führer, Ayatollah Ali Khamenei, hatte den
»islamischen Kanon« zu Rate gezogen und verkündet, dass »Atomwaffen gegen »die
iranische religiöse Rechtsprechung« sei. Der oppositionelle Pressedienst
richtete darauf an die beiden die rhetorische Frage, wie denn der Islam die
Produktion einer Waffe verbieten konnte, die zur Zeit des muslimischen
Hellsehers Mohammed noch gar nicht existierte.