Peter Schyga

 

Gefährliche Absetzbewegungen vom bundesrepublikanischen Konsens

 

Historische Dimension und politische Brisanz der neuen sozialstaatlichen Politik

 

Geschichte, wie banal, wiederholt sich nicht. Historische Bewegungsformen und Verhaltensmuster jedoch können sich ähneln. Es zahlt sich aus, von der Debatte um Hartz IV und andere Sozialreformen einen Schritt zurückzutreten und Rolle und Wandel der etatistischen Reformpartei SPD bei dem Deutschland eigenen Oszillieren zwischen Sozialstaat und Volksgemeinschaft zu verfolgen. Stehen wir heute vor einem Schritt zurück in alte Bahnen oder vor einem neuen Prozess?

 

 

Seit der Verkündung von Hartz IV im Frühjahr des Jahres dreht sich die Debatte in den Medien nicht nur um den Gehalt der Reform, ihrer Zielsetzung und Durchführung. Das ganze Jahr sind Kommentatoren und Analysten damit beschäftigt, die Sinnhaftigkeit der neuen sozialstaatlichen Politik zu ergründen, zu beschwören, zu propagieren, ihre Impulswirkungen für gesellschaftliche, aber auch SPD-parteiinterne Veränderungen zu orten. Nach vielen Aufgeregtheiten um geschlachtete Kindersparschweine, nach etlichen Anti-Hartz-Kundgebungen und -Demonstrationen sowie Versuchen, eine neu lackierte sozialdemokratische Bewegung zu formieren, zeigt sich die mediale Politikbegleitung seit dem Herbst eher gelassen und zustimmend gewandelt. Das nimmt wenig Wunder, weil das Reformpaket geschnürt ist und durchgesetzt wird. Auffällig wirkt allerdings das Bemühen, dem Bundeskanzler verstärkt Etiketten eines Jahrhundertreformers anzuheften. Manche Publizisten wollen ihn gar mit Bismarck vergleichen, der immerhin als Reichsgründer und -einiger im historischen Gedächtnis verortet ist. Da sich auch einem leidlich kundigen Beobachter dieses Treibens der Sinn solcher Attribute nicht spontan erschließt, scheint es nicht nur geboten, historischen Verortungsversuchen sozialdemokratischer Reformpolitik nachzugehen, sondern auch interessierten historischen Metaphern gegenwärtiger Politikgestaltung das Panorama deutscher Realgeschichte gegenüberzustellen. Es geht also um Aspekte der Einordnung gegenwärtiger Sozialpolitik in die Geschichte sozialpolitischer Bemühungen in Deutschland. Das ist auch insofern sinnvoll, als auf diesem Feld der Gesellschaftspolitik Traditionen und Mentalitäten gebildet worden sind, die sich nicht einfach durch Paragraphen ändern oder auflösen lassen. Nur wenn man sich ihrer vergewissert, ist es möglich, gegenwärtige Politik zu ihrem reformerischen Gehalt zu befragen.

Für die deutsche Sozialdemokratie stand in ihrer Geschichte die Losung »Die Internationale erkämpft des Menschen Recht« als Leitschnur über allen Programmen und programmatischen Erklärungen als die Emanzipationsforderung der Arbeiterbewegung. Als Partei im Kampf um politische und soziale Menschenrechte profilierte sich die SPD als Organisation der ökonomisch Lohnabhängigen und politisch um Gleichheit Bemühten in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft.

Seit ihrer Gründung war sie gefangen im Spagat zwischen Reformierung gesellschaftlicher Abhängigkeitsstrukturen und sozialistischer Erlösungsutopie. Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter diagnostizierte jüngst eine »historisch chronische, tief sitzende Parteineurose. Die SPD war immer eine Partei, die im Alltag eine recht nüchterne, pragmatische Politik betrieb. Doch in ihrer Programmatik in ihren Festtagsreden kultivierte sie zugleich den Traum vom sozialistischen Arkadien der Menschheitsbeglückung« (Zeit, 30.9.04). Anders ausgedrückt: »Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lasalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiss zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben.« Mancher wird sich erinnern: Marx’ Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875). Dieser Aspekt von Franz Walters Befund ist also so alt wie die Partei. Doch weiter: »Mit eben dieser Asynchronität zwischen Anspruch und Realität, Programmatik und Praxis aber haben die harten Realisten Schröder und Müntefering aufgeräumt.« (Herv., P. S.) Immer sachte! »Aufgeräumt«!? Seit sich die SPD spätestens in der Weimarer Nationalversammlung 1919 im lasalleschen Volksstaat angekommen sah, entsprangen glänzende sozialistische Traditionsgeschmeide nur noch Schalmeienklängen an Feiertagen. Spätestens seit Godesberg 1959 ist sozialdemokratische Realpolitik programmatisch fixiert.

 

Auf zur Sozialpartnerschaft

Die Sozialdemokratie hatte im Kaiserreich eine soziale Bewegung hervorgebracht und geführt, die es in ihrer Größe und organisatorischen Geschlossenheit nirgends auf der Welt gab. Seit ihrem Burgfriedensbeschluss vom August 1914 hatte sie sich als Führung der Arbeiterbewegung erfolgreich in einem autoritären Obrigkeitsstaat parlamentarisiert, damit aber gleichzeitig nicht unbeträchtliche Teile, immerhin ungefähr ein Drittel, wie die Zukunft zeigte, von der Bewegung ausgeschlossen. Mit der fast einmütigen Verabschiedung des »Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes« am 5. Dezember 1916 setzte die SPD sozialpolitische Akzente. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion stimmte der totalen Kriegsmobilisierung durch die Dienstpflicht aller siebzehn- bis sechzigjährigen Männer zu, soweit diese betrieblich abkömmlich waren. Dafür wurden betriebliche Mitarbeiterausschüsse eingeführt sowie überbetriebliche paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse. Der nächste bedeutende Schritt folgte am 15. November 1918 mit dem Abschluss des »Zentralarbeitsgemeinschaft«-Abkommens zwischen Gewerkschaften und Unternehmensverbänden, das den Unternehmen ein Stillhalten der Gewerkschaften in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen der Revolutionszeit und darüber hinaus garantierte. Die Festlegung des Achtstundentages und die Einrichtung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mindestens fünfzig Beschäftigten zählten zu den wichtigsten Ergebnissen dieses Abkommens. H. A. Winkler nannte es ein »gewerkschaftlich-großindustrielles Rückversicherungsabkommen auf Gegenseitigkeit«, der Gedanke der »Sozialpartnerschaft« führte Regie. Doch schon ab dem 21. Dezember 1923 war die »Zentralarbeitsgemeinschaft« mit der Durchlöcherung des gesetzlich verankerten Achtstundentages durch eine neue Arbeitszeitordnung ins Wanken geraten. Den Arbeitgeberverbänden wurden die Produktionskosten zu hoch, sie forderten die Korrektur der materiellen Ergebnisse der Lohn-, Sozial- und Finanzpolitik. Spätestens mit den Auseinandersetzungen in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets im November/Dezember 1928 wurden die sozialpolitischen Kompromisslinien der Republik durch die Arbeitgeber und ihre parlamentarischen Interessenvertreter gekappt. Der Streit um die im Juli 1927 auf Drängen der SPD gesetzlich eingeführte Arbeitslosenversicherung, die einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosenunterstützung fixierte, kumulierte im Dezember 1929 in der Denkschrift »Aufstieg oder Niedergang« vom »Reichsverband der Deutschen Industrie«: Steuerentlastung von Unternehmen, Erhöhung der Verbrauchssteuern, Senkung der Lohnnebenkosten, Restriktionen bei der Gewährung von Sozialleistungen, nur »wirklich Bedürftige« dürften noch Mittel zum Lebensunterhalt bekommen. Insgesamt wurde die Richtung der Wirtschafts-, Finanz-, und Sozialpolitik gegeißelt. Als die SPD-geführte Regierung Müller sich weigerte, der Forderung ihrer Koalitionspartner nach Leistungskürzungen bei der Arbeitslosenversicherung nachzugeben, endete sozialdemokratische Politik im Reich.

 

Die Gegenreaktion

Mit der Kündigung der Sozialpartnerschaft durch die bürgerlich kapitalorientierten Eliten war der Weg zur Zerschlagung der politischen und gewerkschaftlichen Führung der Arbeiterbewegung in Angriff genommen und im Frühjahr 1933 mit der Machtübergabe an Hitler durchgeführt. Es ist eben keine linke Kampfparole, sondern historische Tatsache, dass sich die ewig wiederholende, auch heute gepriesene, annoncierte Staatsferne neoliberaler Ideologie am Repressionspotenzial der Staatsapparate gegenüber den werktätigen Klassen orientiert. Kein Problem bereitete es den gleichen Kreisen, einem staatlich-autoritären, auch totalitären Interventionismus unterworfen zu sein, schließlich blieben die Eigentumsrechte und Investitionsentscheidungen auch bei staatlichen Lenkungsvorgaben erhalten, das Profitmaximierungsprinzip unangetastet. Dass neben dem Terror des nationalsozialistischen Staatsapparats die Sozialpartnerschaft durch die »Betriebs- und Volksgemeinschaft« auf eine andere Ebene gestellt wurde, schreckte die Prediger der Staatsferne überhaupt nicht. Arbeit diente nun angeblich nicht mehr der Reproduktion der werktätigen Klassen und des Kapitals, sondern dem Dienst am deutschen Volk als ideologische und rassische Gemeinschaft. Da aber Terror und nationalistisch-völkische Ideologie als Motor von Produktion längerfristig nur ungenügend funktionieren konnten, wurde mit der »Deutschen Arbeitsfront« (DAF) ein Instrument geschaffen, Sozialpolitik fortzusetzen, die ihre Wirkung zeigte. Schon Ende 1934, erst recht ab 1935, wissen so auch resignierend kommentierende Berichte der Sopade(1) von wachsender Zufriedenheit der Arbeiter mit den sozialen und materiellen Verhältnissen zu berichten. Die DAF als Zwangsvereinigung aller Produzierenden wurde zu einer mächtigen Vereinigung der Organisierung politisch-ideologischen Wohlverhaltens durch materielle Ruhigstellung und Belohnung.

»Zu den attraktivsten Verheißungen stieg die Politisierung einer massenwirksamen Sozialutopie auf: die neue deutsche ›Volksgemeinschaft‹, die auf der Grundlage einer nationalrevolutionären Erneuerung und freien Aufstiegsmobilität für jedermann, ungeachtet seiner sozialen Herkunft, die Überwindung aller bisher hemmenden Klassenbarrieren und Milieuschranken in der meritokratischen, sozialegalitären Leistungsgesellschaft der Zukunft in Aussicht stellte. Diese Zielvision verlieh dem Nationalsozialismus eine mitreißende sozialpsychische Suggestivität, da sich mit ihr die Hoffnung auf eine ungeahnte ›Existenzausweitung‹ ebenso verband wie jene ›leidenschaftliche Hingabe‹ und der ›fanatische Aktionismus‹, häufig verkleidet als ›aufopferungsfähiger Idealismus‹, welcher diese Aufgabe in Angriff nehmen wollte.«(2)

Es sollte auch nicht verdrängt werden, dass die nationalsozialistische Ideologie immer das Versprechen enthielt, Wohlstand durch Befreiung von eigener Arbeit zu erzielen. »Das konstante Gerede vom Volk ohne Raum, von Weltgeltung, wirtschaftlichen Ergänzungsträumen und ›Entjudung‹ bezweckte am Ende immer das eine: die Aussicht auf eine nicht selbst zu erarbeitende Steigerung des allgemeinen deutschen Wohlstands«, so der Historiker Götz Aly (SZ, 1.9.04). Und es war ja nicht nur Gerede, sondern handfeste Politik: Man denke nur an die Millionen Funktionsträger in der Partei und anderen Apparaten, deren Existenz dem Schmarotzertum sehr nahe kam, oder die Menschen, die sich an geraubtem jüdischem Eigentum bereicherten und/oder unbequeme Konkurrenten los wurden. Man denke an den Blut- und Boden-Siedler, der vom landlosen Dorfbewohner zum Sklavenaufseher im Reichsgau Wartheland mutierte. Man denke auch an den ganz normalen Industriearbeiter, der vom Proleten zum Aufseher über Zwangsarbeiterkolonnen befördert wurde. Die gezüchtete und belohnte Charaktereigenschaft, »sich einen egozentrischen Tunnelblick allein auf die eigene Karriere zuzulegen« und dabei alle Werte von Humanität und Solidarität fahren zu lassen, »setzte eine enorme, aber sozial blindwütige Leistungsenergie frei«.(3) Doch, so wird man ergänzen dürfen: Diese »Leistungsenergie«, ein Begriff, der für den ihn beschreibenden Prozess zu positiv besetzt ist, konzentrierte sich auf das Ergattern von Pfründen durch Übervorteilung und Schädigung von Konkurrenten. Schon eine Denunziation verhalf zu einem Arbeitsplatz, einem Karrieresprung, einer komfortablen Wohnung. Die Deutsche Volksgemeinschaft war in Wahrheit eine gnadenlose Konkurrenzgesellschaft, die die Triebkräfte der Nazi-Bewegung, nämlich »Bewegung ist Alles« (Hannah Arendt), auf die gesamte Gesellschaft übertrug. Man denke an Berufswettkämpfe oder Leistungsprüfungen in den Zwangsvereinigungen der Jugend. Sammelaktionen des Winterhilfswerks wurden in einem öffentlichen Wettstreit organisiert, sogar die Rekordjagd beim Gebären wurde prämiert. Wer in diesem Konkurrenzkampf nicht mithalten konnte oder sich nicht unterwarf, den erwarteten Sanktionen oder »Ausmerze«. Seine Rechtfertigung erfuhr das Verhalten durch den Mythos der Nibelungentreue gegenüber Führer und Vaterland, der schlussendlich jedes Verbrechen legitimierte.

 

Sozialstaat im Schatten der Volksgemeinschaft

Diese als Schicksalsgemeinschaft drapierte Zerstörungsgesellschaft lebte nach dem Krieg(4) in einem Selbstverständnis als Opfergemeinschaft »… unter den sozialpsychischen Antriebskräften, welche die demokratische Leistungsgesellschaft dynamisierten, in leicht abgewandelter, gewissermaßen nur entbräunter Form fort«.(5) Die ideologischen Kontinuitätslinien setzten sich in einem fundamental anderen politischen Institutionengefüge fort. Als Urnengänger dankte man mehrheitlich der CDU, die als Partei der sozialen Marktwirtschaft gewachsene und gezüchtete Mentalitäten in dem Prokrustesbett der Wirtschaftswundergesellschaft zu bewahren verstand.

Der Historiker Götz Aly hat die Dimension schröderscher Politik markant auf den Punkt gebracht, wenn er betont, welch historisches Joch es abzuwerfen gilt: »Hitler regierte nach dem Prinzip: ›Ich bin das Volk‹ und zeichnete damit die politisch-mentalen Konturen des späteren Sozialstaats Bundesrepublik vor. Die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft« (SZ, 1.9.04). Schröder muss also in erster Linie in diesem Sinne »aufräumen«. Nimmt man diese Einschätzung ernst, und das muss man, wenn man historisch geprägte Mentalitäten nicht ignorieren will, geht es also gegenwärtig nicht nur um gesetzliche und administrative Maßnahmen zur »Förderung von Eigenverantwortung« durch Streichung von bislang staatlich geschützten Versicherungsleistungen, sondern um eine sozialpsychische Umorientierung in der bundesdeutschen Gesellschaft.

Doch gegen die Kontinuitätslinien der »leistungsgesellschaftlichen Volksgemeinschaft« stand noch eine andere, aus sozialdemokratischer Tradition der Solidarität geprägte Mentalität, die das Gründungsversprechen der Republik ausdrückte: Herstellung und staatliche Kontrolle von Leistungsgerechtigkeit unter dem Motto Leistung bei gesellschaftlicher Teilhabe. Für die kollektive Ausgestaltung galt das Ringen um Mitbestimmung, für das als Markierungen die Jahre 1947, 1951, 1976 stehen. Die individuelle Einlösung sollte unter dem Prinzip der Chancengleichheit unter anderem durch die Bildungsreform und Ebnung sozialer Schranken ermöglicht werden, beides politische Aufträge zur Ausgestaltung des Verfassungsgebots der Sozialstaatlichkeit.

Der ehemalige Verfassungsrichter Erwin Stein sagte: »Wie der Rechtsstaat die Antwort auf die Herausforderungen durch den absoluten Staat ist, so ist der Sozialstaat die Antithese zum kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das durch eine neue Wirtschaftsweise (Kapitalismus, freier Wettbewerb) und ein neues Arbeitssystem (Lohnarbeit, Trennung von Kapital und Arbeit) bestimmt ist … Dem Grundgesetz liegt als leitendes Verfassungsprinzip aller staatlichen Maßnahmen die Förderung des Fortschritts zur sozialen Gerechtigkeit zugrunde.«(6)

Es geht um die Pfeiler Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Gerechtigkeit, an denen nun herumgebastelt wird. In einer »politischen Einstimmigkeit, wie sie die Geschichte des deutschen Parlamentarismus nur am 4. August 1914 erlebt (habe), betreibt die schrödersche Koalitionsregierung eine solch kräftige Zerreißprobe am sozialen Netz, wie es in Deutschland noch keine demokratisch legitimierte Regierung getan hat«. (F Walter). Herstellung und Gewährung sozialer Gerechtigkeit, so diffus die Substanz dieses Begriffs auch erscheinen mag, ist nicht nur eine Konstante bundesdeutscher Verfasstheit, sondern elementarer Bestandteil von Legitimation politischer Macht überhaupt.

Wohin führt aber diese »Zerreißprobe«, wenn man davon ausgehen muss, dass sozialdemokratische Fürsorgestaatstraditionen, Reste leistungsgesellschaftlicher Volksgemeinschaftsvorstellungen ohne imperiale Fantasien und neoliberaler Marktfetischismus à la Chicago Boys gegeneinander um diese Legitimation zu konkurrieren scheinen und zugleich in parlamentarischer Einstimmigkeit miteinander verwoben sind?

Das Gründungsversprechen der Republik, dass sich Leistung in gesellschaftlicher Solidarität lohnt, galt eine Zeit lang als eingelöst. Es kam nicht als Geschenk, sondern wurde in vielen Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital schrittweise eingelöst. Wie zäh es dabei zuging, zeigt ein beispielhafter Blick zurück auf die Auseinandersetzung um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Fast vier Monate streikten 1956/57 die Metallarbeiter Schleswig-Holsteins für ein Rahmentarifabkommen, erst 1970 wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gesetzlich verankert. Mit der Verallgemeinerung von Lohnabhängigkeit und einer Demokratisierung der Gesellschaft konnten sich selbstbewusste, auf individuelle Leistung gegründete Lebensentwürfe entwickeln, in denen berufliches Vorankommen und Statusverbesserung nicht automatisch an Konkurrenzselektion gebunden waren. Doch seit geraumer Zeit werden solche Perspektivvorstellungen durch den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt zunehmend verbaut. Etliche Untersuchungen zeigen, dass bessere Bildungsabschlüsse und permanente Weiterqualifikation weder vor der Entwertung der Arbeitskraft schützen, noch Zugang zu den Eliten ermöglichen mit Ausnahmen in Erziehung, Wissenschaft und Politik.(7) Das von der SPD geforderte, von modernen leistungsbereiten Arbeitnehmern verfolgte Prinzip Leistung und Leistungsgerechtigkeit wird in zunehmendem Maße nicht nur durch die schwindenden Möglichkeiten des Leistungsbeweises auf dem Arbeitsmarkt unterhöhlt, sondern durch in Hartz IV gesetzlich verordnete Leistungsnivellierung und -entwertung zunehmend ad absurdum geführt. Profiteure sind diejenigen, deren Sozialstatus und Beziehungsgeflecht es ermöglichen, individuelles Vorankommen als Leistungserbringung zu verkaufen. Das Gerechtigkeitsempfinden, bei dem es nicht in erster Linie um die absolute Höhe materieller Entlohnung geht, sondern um die Verhältnismäßigkeit der Lebensweise angesichts individueller Leistung, wird grob gestört. So werden unter dem politischen und ideologischen Druck neoliberaler Ordnungsvorstellungen und dem den staatlichen Ordnungsrahmen sprengenden Globalisierungsdilemma keine Maßnahmen zur positiven Mobilisierung und Motivierung der Lohnabhängigen ergriffen, die die Gerechtigkeitslücke mildern helfen, sondern eine Politik eingeschlagen, die droht, Errungenschaften einer solidarischen Leistungsgesellschaft zunehmend zu zersetzen. Eine Politik, die Demoralisierung, Dequalifikation und Deprivierung für die Gegenwart bereithält und die Zukunft verdunkelt.

 

Von der Sozialversicherung zur Almosenverteilung?

Das Dilemma schröderscher Politik besteht darin, mit seiner Reformpolitik einerseits zur Rettung sozialdemokratischen Selbstverständnisses eine gerechte und solidarische Leistungsgesellschaft halbwegs erhalten und gleichzeitig dem Satyrspiel neoliberaler Sozialrevolutionäre nachgeben zu wollen. Die Agenda 2010 ist Ausdruck dieses Dilemmas, denn sie droht, gesellschaftliche Bindungskräfte zerfleddern zu lassen, indem sie die Arbeitskraft schützende Sicherungen im Arbeitsmarkt lockert. Im Kapitalismus definieren sich die meisten Menschen über ihre Arbeit, wenige über ihr Kapital. Die marktbedingte Entwertung von Arbeit, die Nichtanerkennung von Leistung, die gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung (der heutige »Sozialschmarotzer« hieß vor 70 Jahren »Volksschädling«), die soziale Entgrenzung und Deprivation durch den Verlust des Arbeitsplatzes wird durch die gesetzlich verordnete Degradierung zum Almosenempfänger fortgesetzt. Die jetzt zunehmend in diesen Status überführten Menschen beherrschen nicht zum Selbstschutz eingeübte individuelle Strategien zur Überlistung des Systems der Kontrolle und Überwachung durch die Staatsapparate. In der jetzigen Form funktioniert diese Kontrolle kaum bei den sowieso schon Derangierten, die formal nichts besitzen, außerdem jahrelange Erfahrungen im Umgang mit den Ämtern haben, in der Schattenwirtschaft etabliert sind und jetzt in Vielzahl materiell auch noch besser gestellt werden. Schröder, Clement und Müntefering haben noch nicht begriffen, oder wollen es nicht wahr haben, dass sie mit ihren Maßnahmen nicht die arbeits- und bildungsresistenten Ränder der Gesellschaft erreichen. Die haben sich schon in zweiter oder dritter Generation auf Stütze eingerichtet.

Der Förderungs- und Forderungszynismus im System der neuen Sozialreform besteht darin, dass gerade die Menschen, die trotz ihrer Leistungsbereitschaft und ihres Leistungswillen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, gegen ihren Willen in staatliche »Obhut« genommen und in eine Welt gebannt werden, deren Überlebensregeln sie nicht gelernt haben, die auch ihrem Selbstverständnis widerspricht. Den demoralisierenden gesetzlichen Maßnahmen setzt das Geschwafel von der segensreichen Wirkung der 1-Euro-Jobs für den gut ausgebildeten Facharbeiter und studierten Angestellten noch eins drauf.

Hinter der Förderungsphrase von Hartz IV steckt der realitätsferne Gedanke, der Tendenz zum Überflüssigsein durch Zwang zu begegnen, ohne das System Arbeitsmarkt durch die Abschaffung aller Sozialstandards ganz entrechtlichen zu müssen. Denn das hieße in der Konsequenz: Abschaffung oder drastische Reduzierung jeglicher Hilfe weit unter die Armutsgrenze. Vorschläge dazu wie die Halbierung der Sozialhilfesätze sind auf dem Markt, und es kann durchaus zu ihrer Umsetzung kommen, denn der Strohhalm Wachstum, der diese oder eine andere Regierungskoalition von diesem Schritt abhalten könnte, ist noch nicht einmal als Gras gesät.

Es ist ganz einfach: Die Sozialstandards in der Bundesrepublik sind für arbeitsmarktwirksame privatwirtschaftliche Investitionen zu hoch, weil sie der sozialen Mobilität der Arbeitskraft zu enge Grenzen setzen. Deren intellektuelle Mobilität der letzten Jahrzehnte, nämlich Qualifikation durch Ausbildung und Weiterbildung, hat auf dem Arbeitsmarkt kontraproduktiv gewirkt. Die durch sie möglich gewordenen Innovationen haben die Produktivität und Mobilität des Kapitals so erhöht, dass es überall auf der Welt auf gleich hohem Qualitätsstandard fast alles produzieren lassen kann. Eine Erfahrung, die die Lohnabhängigen in allen Industrieländern machen mussten.

Freilich, kein bundesdeutscher Politiker denkt bislang daran, Thatcherismus oder Reaganomics pur zu propagieren. Noch nicht einmal Michael Rogowski vom BDI oder andere Verbandskollegen gehen so weit, auch wenn sie täglich die Zeitungsspalten mit neuen, altbackenen Forderungen zur Stärkung der Kapitalmacht füllen. Das Grundgesetz und sein sozialstaatlicher Imperativ scheint für die gegenwärtigen Führungsspitzen noch gewisse Autorität zu haben. Der »Kopfpauschalen«-Streit zwischen Merkel und Seehofer firmiert als Wettkampf um soziale Komparative, auch wenn es tatsächlich um die Modi der Privatisierung von Gesundheitsvorsorge, also den Abschied vom Solidaritätsprinzip geht.

Klasseninteressen

Dies Taktieren hat seine Gründe in der nicht unberechtigten Befürchtung, dass massive soziale Ausgrenzungen der gesellschaftlichen Mitte politische Instabilität bewirken können. Die Wahlerfolge von NPD und DVU in einigen Regionen der Republik gelten als Indiz für Gefährdungen innerhalb des demokratischen Systems. Die NPD erklärt sich programmatisch für den Zusammenschluss der »deutschen Volksgemeinschaft« bei explizitem Ausschluss ausländischer Bürgerinnen und Bürger. Dass Parteienforscher das rechtsradikale Wählerpotenzial im 15- bis 20-Prozent-Bereich ansiedeln, gibt noch keinen Anlass, alarmistisch zu reagieren. Radikal-nationalchauvinistische Elemente am Rande der Gesellschaft sind zu ertragen, solange sie von der Gesellschaft gehindert werden, ihre Aggressionen gegenüber Mitbürgern auszulassen. Wenn eine Gesellschaft inklusive Staatapparat allerdings dazu nicht in der Lage ist, stimmen Parameter der Zivilgesellschaft nicht mehr.

Im Stern vom 21.10.04 wird beklagt, dass bei Umsetzung der Reformen »diese Republik eine radikal andere sein (wird): ein entkernter Staat ohne Gemeinsinn, eine entzivilisierte Gesellschaft. Anfällig für individuelle Aggressionen und für Rechtsextremismus.« Doch gleichzeitig titelt die Zeitschrift zur Opelkrise mit einem US-Cowboystiefel, der das deutsche Autovolk zertritt. Entsprechende Kommentare in den Medien während der Auseinandersetzungen in Bochum und Rüsselsheim erreichten einen täglich. Sich gegenseitig eines deutschen Patriotismus zu versichern, gehört zunehmend zum politischen Diskurs. Wenn Schröder oder Gabriel deutsche Unternehmer des mangelnden Patriotismus zeihen, weil sie deutsche Arbeitsplätze ins Ausland verlagerten, intonieren diese die Nationalhymne, ändern ihren Kurs natürlich nicht. Das wäre im erweiterten Europa und einer globalisierten Ökonomie auch albern.

Dennoch: Wer Fernsehbilder von exaltierten, nachpubertären Groupies von der Jungen Union beim Abfeiern des Deutschlandlieds und der Huldigung ihres Abgottes Kohl auf ihrem Deutschlandtag an einem Oktoberwochenende in Oldenburg gesehen hat, hätte ohne redaktionellen Hinweis nicht beschwören können, nicht eine obskure deutschtümelnde Sekte zu beobachten. Der Zuschauer wird aber mit der zukünftigen deutschen Elite konfrontiert!

Diese wurde unter Kohls Regentschaft geformt und sozialisiert. Ihre Programmerklärungen reichen von der Abschaffung des Kündigungsschutzes, Auflösung der staatlichen Sozialversicherung, Abschaffung der Arbeitslosenversicherung bis zur innerparteilichen Forderung nach Aufhebung der Frauenquote. Die SZ (3.7.04) beschrieb diesen Parteinachwuchs in Bayern als Neoliberale, die mit einem »neuen Brachial-Stil … eine andere CSU und einen anderen Staat« wollen. Parteiinterne Galionsfiguren sozialer Gerechtigkeit wie Heiner Geißler oder Horst Seehofer werden als Aliens in einer neuen Partei der Erfolgreichen betrachtet.

Ich denke, dies sind deutliche Anzeichen für Absetzbewegungen von einem sozialstaatlichen Konsens, der bislang im bundesdeutschen Parteiensystem vom Prinzip her unumstritten war. Es werden Pflöcke für die Bildung einer Front gegen die »Loser« gesetzt, gegen Menschen, deren Habitus nicht den eigenen Wertvorstellungen entspricht. Früher nannte man das einmal Klassenbewusstsein und man drückte damit aus, dass unterschiedliche Mentalitäten, Lebensentwürfe, Bedürfnisse, Problemlösungen durchaus etwas mit der sozialen Herkunft, den materiellen Bedingungen von Gegenwart und Zukunftserwartungen zu tun haben können. Wohl seit dem letzten Soziologentag im Oktober in München unter dem Thema »Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschiede« darf man öffentlich wieder über die Existenz von Klassen reden, zumal dort erkannt wurde, dass deren Bedeutung im Wohlstand verschwindet und in Krisen erneut hervortritt.

Doch ehemals klassische Klassenbindungen, definiert an der Teilhabe am Produktionsvermögen, haben sich aufgelöst durch die Verallgemeinerung der Lohnarbeit und durch diffizile kulturelle Prägungen. Im Wählerverhalten drückt sich das in Verlusten proletarischer (die gibt es wirklich noch) Wähler für die SPD aus, die nun der CDU (noch) zugute kommen. Gleichzeitig ist diese Partei geprägt durch ihren bürgerlichen Habitus, der sich in Herkunft, bürgerlicher Wirtschafts- und Leistungsordnung, traditionellem Familien- und Frauenbild spiegelt. Das scheinbare Verschwinden der Klassen hat der Sozialdemokratie Klientel entrissen, die Reproduktion der bürgerlichen Klassen in der CDU hat funktioniert. Mit Merkel an der Spitze herrscht eine technokratische, dem bürgerlichen entsolidarisierenden Leistungsgedanken verpflichtete Elite, die die Hegemonie über die Gesellschaft erringen will, weil sie meint, ihre Interessen seien mit denen der Gesellschaft identisch.

Genau darin liegt das Problem bei den gegenwärtigen Reformen: Auf der einen Seite die Entmutigung, staatliche Gängelung, materielle Unsicherheit lohnabhängiger Individuen, auch und gerade die Schwächung ihrer Interessenorganisationen, auf der anderen Seite die materielle und mentale Stärkung der Besitzenden und ihrer Eiferer. Die Gefahr, die aus solch einer Konstellation entstehen kann, besteht darin, dass ein defensiver Rückzug von den Gleichheits- und Gerechtigkeitsentwürfen bundesdeutscher Verfasstheit angesichts unlösbar scheinender globaler Herausforderung unvermeidlich erscheint. Demgegenüber plustert sich die Ellenbogenfraktion der Gesellschaft auf, materiell getragen von den Kapital- und Rentenrenditen ihrer Ahnen, und meint die Gesellschaft nach ihrer Facon ausrichten zu können. Sie hat den Vorteil, dass sie kulturell und mental Entwurzelte durch Ego-Mobilisierung, zum Beispiel gegen Frauen und Minderheiten, auch durch nationalistische Aufgeregtheiten, nicht gegen etablierte Globalisierungskonkurrenten, sondern zugewanderte »Habenichtse« auf ihre Seite ziehen kann.

Mir scheint geboten, sich wieder einiger Zeilen aus Hannah Arendts »Totalitarismusbuch« zu erinnern. Unter dem Abschnitt »Das zeitweilige Bündnis zwischen Mob und Elite« schrieb sie: »Die Bourgeoisie, die ihren Aufstieg nur dem Druck verdankte, den wirtschaftliche Bedingungen auf eine sich auflösende Gesellschaft ausübten, und die politische Macht durch ökonomische Erpressung politischer Institutionen zu erwerben pflegte, war immer der Meinung gewesen, dass die öffentlichen und sichtbaren Träger der Macht im Staate in Wahrheit abhingen und geleitet wurden von ihren eigenen, nichtöffentlichen Klasseninteressen und von persönlicher Beeinflussung. Die politischen Überzeugungen der Bourgeoisie waren in diesem Sinne immer ›totalitär‹ gewesen, das heißt hatten die Identität von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorausgesetzt, wobei die politisch-staatlichen Institutionen als bloße Fassade für Privatinteressen angesehen wurde.«(8)

 

Siehe zum Thema vom gleichen Autor in der Kommune 4/04: »Die SPD, ihre Geschichte, ihr Leid. Historische und aktuelle Wandlungen der Sozialdemokratie«

 

1

Dies sind die Deutschland-Berichte der Exil-SPD aus den Jahren 1934–1940, Nachdruck, Salzhausen 1980.

2

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band IV: 1914–1949, München 2003, S. 686.

3

Wehler, S. 690.

4

Man sehe mir den bornierten westdeutschen Blick nach. Doch die Entwicklung der Mentalitäten in der DDR, wo die »deutsche Volksgemeinschaft« von der »sozialistischen Klassengemeinschaft« abgelöst wurde, klammere ich aus artikeltechnischen Gründen aus. Zwei Bemerkungen würden dem Thema nicht gerecht werden, doch analytische Tiefe den Rahmen sprengen.

5

Wehler, S. 716

6

Erwin Stein: Lehrbuch des Staatsrechts, Tübingen 1973, S. 423 f.

7

Vgl. dazu u. a.: M. Hartmann: »Eliten in Deutschland. Rekrutierungswege und Karrierepfade«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1.3.04.; M. Vester, P. v. Oertzen u. a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt am Main 2001.

8

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 540–541.