Mechthild Veil

 

Die Hartz-Gesellschaft

 

Nur neue Formen der Aktivierungsstrategien oder ein anderes Sozialsystem?

 

Mit Inkrafttreten von Hartz IV Anfang 2005 wird die Bundesregierung wesentliche Bausteine ihrer Programmatik, die Agenda 2010, umgesetzt haben. Die Neuorganisation von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik werden den alten Sozialstaat bismarckscher Prägung entscheidend umsteuern. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die soziale Abfederung arbeitsmarktbedingter Risiken, sondern die Aktivierung möglichst aller Erwerbsfähiger in den Arbeitsmarkt – fast um jeden Preis. Fragwürdig erscheint auch das Tempo, mit dem eine derart komplexe und mentalitätsverändernde Reform durchgepeitscht wird.

 

 

Die vier Stufen der Arbeitsmarktreform

Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, benannt nach ihrem Vorsitzenden Peter Hartz, legte der Bundesregierung im Sommer 2002 ein Konzept für eine Arbeitsmarktpolitik vor, die »Arbeit statt Arbeitslosigkeit« finanzieren sollte.(1) Die Kommission hat »Innovationsmodule« vorgelegt, die in abgespeckter Form in vier Stufen umgesetzt worden sind beziehungsweise werden sollen. Die Gesetze für »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« umfassen die beschleunigte Förderung von Arbeitssuchenden, den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit und die viel kritisierte Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende.

 

Hartz I: Schnellere Vermittlung von Arbeitslosen durch private Personal-Service-Agenturen (PSA) (seit 1.1.03 in Umsetzung)

In jedem Arbeitsamtbezirk wurden Personal-Service-Agenturen eingerichtet, die die Arbeitsvermittlung beschleunigen sollen. Jedes Arbeitsamt ist verpflichtet, wenigstens eine PSA einzurichten. Die Arbeitsämter schließen Verträge mit den Verleihunternehmen, die wie private Zeitarbeitsfirmen arbeiten, das heißt Arbeitslose mit dem Ziel ihrer dauerhaften Einstellung verleihen. Welche Arbeitslosen in der PSA beschäftigt werden, vereinbaren die Arbeitsämter mit den PSA. Im Vordergrund steht der Eingliederungserfolg. Das Arbeitsamt gibt Art und Inhalt der Maßnahmen nicht vor.

Gleichzeitig wurden die Zumutbarkeitsregelungen zur Aufnahme einer Arbeit verschärft: Einkommensverluste können verlangt werden. Die Entlohnung kann unter dem Arbeitslosengeld liegen. Arbeitslose – auch potenzielle – müssen sich bereits vor Beginn ihrer Arbeitslosigkeit arbeitslos melden, um die Vermittlungsfristen verkürzen zu können. Mit Bildungsgutscheinen können Arbeitslose die Bausteine für ihre berufliche Weiterbildung oder Umschulung selber zusammenstellen, was jedoch selten in Anspruch genommen wird, da viele Arbeitssuchende damit überfordert sind.

Erste Schritte zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden auf dieser Stufe bereits ergriffen: Die Anrechnung des Partnereinkommens und die Absenkung der Freigrenzen für Vermögen für Arbeitslosenhilfeempfänger, die quasi halbiert und damit an das untere Niveau der Sozialhilfe angepasst werden.

 

Hartz II: Neue Anlaufstellen für Arbeitssuchende und neue Beschäftigungsformen (seit 1.4.03 in Umsetzung)

Die Landesarbeitsämter wurden in so genannte Job-Center umgewandelt, um in Vorbereitung auf Hartz IV eine gemeinsame Anlaufstelle von Arbeitsamt und Trägern der Sozialhilfe zu schaffen, sodass die bisherige Doppelzuständigkeit von Arbeitsämtern und kommunalen Sozialämtern aufgehoben wird – »Beratung und Hilfe aus einer Hand«.

Zu den neuen Beschäftigungsformen zählen sozialversicherungspflichtige »Ich-AGs« mit Existenzgründungszuschüssen bis Ende 2005, wenn keine Arbeitnehmer beschäftigt werden. Ausgenommen sind Familienmitglieder. Diese so genannten Familien-AGs erhalten ebenfalls den Zuschuss. Die so genannten Mini-Jobs (meist 400-Euro-Jobs) sollen ausgeweitet werden – durch Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze und durch Förderung von Minijobs in Privathaushalten durch geringere Sozialversicherungsbeiträge.

 

Hartz III: Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zur Dienstleistungsagentur »Bundesagentur für Arbeit« und Verschärfung der Voraussetzungen für das Arbeitslosengeld (seit 1.1.04 in Umsetzung)

Die Vermittlung von Arbeitslosen soll effektiver werden durch Ausbau und Individualisierung der Beratung mit Hilfe von Fallmanagern, die eine begrenzte Anzahl von Arbeitssuchenden – bisher werden 75 pro Fallmanager genannt – betreuen und mit ihnen individuelle Eingliederungsverträge ausarbeiten sollen. Gleichzeitig werden die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld verschärft, jetzt ist ein Jahr Beschäftigung in den letzten zwei Jahren (vorher waren es drei Jahre) notwendig.

 

Hartz IV: Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (Umsetzung ab 1.1.05)

Die Arbeitslosenhilfe wird gestrichen. Der Bezug von Arbeitslosengeld II setzt eine aktive Arbeitsplatzsuche voraus. Die Verwaltung der Leistungen liegt bei der Bundesagentur für Arbeit.

 

Eine neue Grundsicherung für Arbeitssuchende – mehr Fordern als Fördern

Die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II (AlG II) schafft eine neue Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die zu Grunde liegende Idee ist, erwerbsfähige Langzeitarbeitslose (Arbeitslosenhilfeempfänger) und erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger zu einem neuen Fürsorgesystem zusammenzufassen und in die Aktivierungsprogramme der Arbeitsvermittlung der BA hineinzunehmen. Die neue Unterstützungsleistung, das AlG II, wird von einer aktiven Arbeitssuche abhängig gemacht und orientiert sich an der Sozialhilfe. Im Unterschied zur Sozialhilfe hat das AlG II eine doppelte Funktion: Es soll der Existenzsicherung dienen, also den Mindestbedarf, der zum Leben in der Gesellschaft notwendig ist, abdecken und die Eingliederung in den Arbeitsmarkt fördern. Die bisherige Arbeitslosenhilfe entfällt.

Der Begriff AlG II ist allerdings irreführend, weil es sich nicht um eine Variante des Arbeitslosengeldes handelt, sondern um eine neue Grundsicherung für »erwerbsfähige Hilfebedürftige« und für die mit ihnen zusammenlebenden Angehörigen in »Bedarfsgemeinschaften«. Erwerbsfähig ist, wer mindestens drei Stunden täglich arbeiten kann. Als hilfebedürftig gelten, ähnlich wie im Bundessozialhilfegesetz (BSHG), diejenigen, die weder für sich noch für ihre Angehörigen den Unterhalt sichern können.

Für die mehr als zwei Millionen Bezieher von Arbeitslosenhilfe bringt die neue Grundsicherung weit reichende Veränderungen mit sich, materielle Verschlechterungen und einen Wechsel in der Systemlogik. Denn für Langzeitarbeitslose gelten zukünftig nicht mehr die Bestimmungen des Arbeitslosengeldes, die auf die Arbeitslosenhilfe übertragen wurden, sondern die Logik der Sozialhilfe.

Im Unterschied zur bisherigen Arbeitslosenhilfe kennt das AlG II keine Orientierung an den vorherigen Lohn oder an eine einheitliche Zumutbarkeitsregelung. Einkommen des/der Erwerbslosen und der Bedarfsgemeinschaft werden in stärkerem Maße angerechnet, der Rentenanspruch wird gesenkt und die Rentenbeiträge nur noch auf Basis eines Einkommens von monatlich 400 Euro übernommen. Wie in der Arbeitslosenhilfe auch muss vorhandenes Vermögen, das bestimmte Freigrenzen überschreitet, zunächst verbraucht werden, bevor Unterstützungsleistungen bezogen werden können. Neu ist allerdings, dass Vermögen, das eindeutig der Alterssicherung dient (Beiträge zur »Riester-Rente«) anrechnungsfrei bleibt.

Im Unterschied zur Sozialhilfe werden die Vermögensfreibeträge erhöht und die Leistungen stärker pauschaliert. Im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld zahlen die Jobcenter für zwei Jahre einen Überbrückungszuschlag zu den Regelsätzen. Dieser wird von Kritikern der Hartz-Gesetze auch Armutsanpassungsgeld genannt.

Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die mit Angehörigen oder Partnern in einem Haushalt leben, den so genannten Bedarfsgemeinschaften (siehe Kasten), können für diese Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes erhalten. Diese Leistung wird Sozialgeld genannt.

 

 

Kasten

Zur »Bedarfsgemeinschaft« gehören:

die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen,

die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines minderjährigen, unverheirateten erwerbsfähigen Kindes;

der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte,

die Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in eheähnlicher Gemeinschaft lebt,

der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner,

die dem Haushalt angehörenden minderjährigen unverheirateten Kinder des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen oder seines Partners, soweit sie nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beschaffen können.

 

 

Beide Leistungen, AlG II und Sozialgeld, entsprechen im Allgemeinen dem Niveau der Sozialhilfe, sie sind jedoch stärker pauschalisiert. Tabelle 1 zeigt die Höhe der neuen Grundsicherung.

Es sind die Mittelschichten, für die der Wegfall der Arbeitslosenhilfe eine finanzielle und berufliche Abwärtsspirale einleitet. Finanzielle Einschnitte werden sich auf Haushalte mit mittlerem Einkommen konzentrieren, vor allem dann, wenn der Partner mit dem höheren Einkommen arbeitslos wird. Positiv hingegen wird sich die Grundsicherung auf Haushalte von Erwerbslosen mit einem Einkommen in der Nähe der Sozialhilfe auswirken.

Nach Berechnungen des DGB (siehe Tabelle 2) werden viele ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger mit Hartz IV aus dem Leistungsbezug herausfallen, in Westdeutschland geht der DGB von 20 Prozent und in Ostdeutschland sogar von 36 Prozent aus.

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Es ist davon auszugehen, dass viele der Arbeitslosenhilfeempfänger auf Grund der verschärften Anrechnungsmodi keine Ansprüche mehr geltend machen können.

Eine Palette von flexiblen Sanktionsmöglichkeiten führt dazu, dass das AlG II bis zu drei Monaten reduziert werden kann, ohne dass Sozialhilfeleistungen »einspringen«. Das heißt, für Arbeitsfähige kann das Niveau ihres unteren sozialen Netzes unter das Sozialhilfeniveau fallen. Das ist neu.

 

Arbeitsförderung und Arbeitszumutungen

Menschen, die AlG II beziehen, müssen zukünftig jede auch noch so schlecht bezahlte Arbeit, wenn sie denn nicht sittenwidrig ist (was immer das auch heißt), annehmen. Nicht sittenwidrig und damit zumutbar ist nach Hartz IV Arbeit, die nicht existenzsichernd ist, deren Einkommen unter dem Sozialhilfesatz liegt, Arbeit, die nicht sozialversicherungspflichtig ist und so genannte Ein-Euro-Jobs. Um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen, bleibt ein Teil des Einkommens anrechnungsfrei (gestaffelt nach der Einkommenshöhe), sodass sich das Haushaltseinkommen tatsächlich erhöht. Können Arbeitssuchende nicht vermittelt werden, dann ist es möglich, sie zu »Arbeitsgelegenheiten« zu verpflichten, ähnlich der gemeinnützigen Arbeit der Sozialhilfe, um ihren Anspruch auf Unterstützung aufrechtzuerhalten. Der Arbeitszwang entfällt nur bei gesundheitlichen und psychischen Problemen (tut sich hier ein erweitertes Feld für Psychologen auf, die in Anspruch genommen werden könnten aus Verzweiflung oder auf der Suche nach Umgehungsstrategien?) oder wenn Kinder oder Ältere zu pflegen sind.

Aktivierungsstrategien für Jugendliche (unter 25 Jahren) zielen darauf, diese vorrangig und beschleunigt in Arbeit zu bringen. Wird dies schwierig, dann können ihnen auch befristete so genannte Arbeitsgelegenheiten von kommunalen Trägern zugemutet werden, ähnlich der gemeinnützigen Beschäftigung im BSHG.

Allgemein sind die Aktivierungsstrategien auf die untersten Einkommensbereiche konzentriert. Ihr Instrumentarium der finanziellen Anreize – »Arbeit soll sich lohnen« – und des finanziellen Drucks – »Fördern und Fordern« – vielfältig:

Befristete »Existenzgründungszuschüsse«, um sich als »Ich-AG« oder »Familien-AG« selbstständig zu machen, womit Frauen vor allem in Ostdeutschland positive Erfahrungen machen.

Möglichkeiten, zum Regelsatz des AlG II hinzuzuverdienen, zum Beispiel durch 400-Euro-Jobs oder 1-Euro-Jobs mit flexiblen Anrechnungsmodi, die günstiger sind als in der bisherigen Sozialhilfe. Erst ab einem monatlichen Betrag von 1500 Euro brutto wird der »Zuverdienst« voll angerechnet, dieser Betrag ist doppelt so hoch wie bei der Sozialhilfe.

Ein Kinderzuschlag wird mit dem Kindergeld ausgezahlt.

Druck (Fordern liegt v. a. darin, dass Erwerbsfähigen zukünftig jede Arbeit, auch untertariflich bezahlte, zugemutet wird. Die im Grunde einzige Ausnahme besteht für Menschen (Frauen), die kleine Kinder erziehen oder Angehörige pflegen.

Die bisher auf den Kreis der Arbeitslosen beschränkten Arbeitsfördermaßnahmen, wie Qualifizierungsmaßnahmen zur beruflichen Eingliederung und Vermittlungsangebote, stehen nun auch erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern zur Verfügung. Für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger, die den beruflichen Anschluss suchen, erweitert sich somit der Handlungsspielraum. Die Gruppe der ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger hingegen hat materiell und in Bezug auf ihren beruflichen Status erhebliche Nachteile zu verkraften. Denn mit Wegfall der bisherigen Arbeitslosenhilfe entfällt auch die Anbindung der Leistungshöhe an ein vorheriges Arbeitsentgelt und an einen, wenn auch bereits stark durchlöcherten (fragilen) Berufsschutz. Langzeitarbeitslose werden an die schlechteren Bedingungen des Bundessozialhilfegesetzes angepasst – jede Arbeit wird zumutbar, der Leistungsbezug setzt Bedürftigkeit voraus. Für Arbeitslosenbezieher verengt sich der Handlungsspielraum mit Hartz IV.

 

Bedarfsgemeinschaften – neue Abhängigkeiten

Die Schaffung von so genannten Bedarfsgemeinschaften schafft ganz neue personelle Abhängigkeiten, die nicht nur, wie bei der Sozialhilfe, das untere soziale Netz betreffen, sondern weit in die Mittelschichten hineinreichen. Mit dem Antrag auf AlG II müssen die potenziellen Leistungsempfänger in den zu Recht kritisierten Fragebögen nicht nur die eigene Bedürftigkeit nachweisen, sondern auch die Lebensverhältnisse der mit ihnen in einem Haushalt zusammenlebenden Angehörigen und Lebenspartner offen legen. Sind diese bedürftig und nicht erwerbsfähig, erhält der/die AlG-II-Bezieher/-in für sie Sozialgeld, sind sie erwerbsfähig, müssen sie ebenfalls einen Antrag auf AlG II stellen. Datenschutzrechtlich problematisch (Gössner 2004) und menschlich entwürdigend ist es, wie weit die Antragsteller die Lebensverhältnisse ihrer Mitbewohner offen legen müssen Abgefragt wird zum Beispiel: »Haben ... die mit Ihnen im Haushalt lebenden Angehörigen Vermögen? Bank– und Sparguthaben, Bargeld ..., Kraftfahrzeug, Wertpapiere ..., Kapitallebensversicherungen, Bausparverträge ..., Wertsachen, Gemälde?« Oder: »Kann (Ihr Angehöriger) ... Ihrer Einschätzung nach mindestens drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit ... nachgehen?« Oder: »Name, Anschrift und Bankverbindung des Vermieters ...«(2)

Gegenüber bisheriger Praxis erzwingt das behördliche Vorgehen der Bundesanstalt für Arbeit nun einen Mentalitätswechsel, der eine andere Sozialstaatslogik einleitet. Im Vordergrund steht nicht mehr der soziale Schutz und die berufliche Eingliederung Langzeitarbeitsloser, sondern der Generalverdacht potenziellen Leistungsmissbrauchs, einer »Mitnahme-Mentalität«. Es wächst die Abhängigkeit der Antragsteller von der Behörde der Bundesanstalt für Arbeit und auch die zwischen »Bedarfsmitgliedern«. Die weit gefasste und bis in die persönlichen Lebensverhältnisse hineinreichende Auskunftspflicht baut soziale Rechte ab und verletzt die persönliche Autonomie derjenigen, für die die »Arbeit ausgegangen ist« und die auf Sozialleistungen angewiesen sind.

Neue Abhängigkeitsverhältnisse

Die mit den Hartz-Gesetzen anvisierten Arbeitsmarktreformen steuern den bundesdeutschen Sozialstaat um. Im Mittelpunkt wohlfahrtsstaatlicher Interventionen steht nicht mehr die soziale Abfederung arbeitsmarktbedingter Risiken, sondern die Aktivierung möglichst aller Erwerbsfähiger in den Arbeitsmarkt – fast um jeden Preis. Der Sozialstaat wird in den Dienst von Aktivierungsstrategien gestellt und kann anscheinend lediglich nur noch in dieser Funktion legitimiert werden. Der Begriff Solidarität, der einst die normative Grundlage sozialstaatlichen Denkens und Handelns abgab, verblasst und wirkt hilflos angesichts der Forderungen nach mehr Effizienz. Selbst die Verteidiger des (alten) Sozialstaates begründen diesen inzwischen mit der Effizienz seiner Leistungen und weniger mit seinem solidarischen Charakter (Streeck 2001). Die schnellen, durch den Globalisierungsdruck verursachten Veränderungen laufen den Begriffen davon.

Mit der Agenda 2010 setzt die Regierung die Gesellschaft unter Reform-Dauerstress. Nicht nur, weil eine Reform die andere jagt: Den Anfang machte die Rentenreform 2001 (Einführung der kapitalgedeckten Riester-Rente und einer bedarfsgeprüften Grundsicherung), die bereits kurz nach Inkrafttreten mit Hilfe weiterer Instrumente zur Senkung des allgemeinen Rentenniveaus – dem »Nachhaltigkeitsfaktor« – nachgebessert und durch Einführung der nachgelagerten Besteuerung der Renten 2004 ergänzt wurde. Zu Beginn dieses Jahres trat die Reform der Krankenversicherung in Kraft, deren längerfristiger Umbau – Bürgerversicherung oder Kopfpauschale – wiederum neu auf der Tagesordnung steht und kontrovers diskutiert wird. Eine Reform der Pflegeversicherung steht noch an.

Der Dauerstress liegt in den Reformprozessen selbst. Die Reformen werden der Gesellschaft übergestülpt, im Hauruckverfahren, ohne ausreichende Zeit der Evaluierung, ohne Einbeziehung der Erfahrungen anderer Länder mit Aktivierungsstrategien (siehe Kasten: Vergleich Großbritannien). Es wird seitens der politischen Akteure nicht zur Kenntnis genommen oder nicht politisch vermittelt, dass mit den Reformen und insbesondere mit den Hartz-Gesetzen ein anderer bundesdeutscher Sozialstaat angesteuert wird (wohl auch beabsichtigt): von einem bismarckschen Wohlfahrtsregime, das in international vergleichender Forschung (vgl. Esping-Anderson 1999) als korporatistisch und statusabhängig bezeichnet wird und kontinuierliche und existenzsichernde Erwerbstätigkeit voraussetzt, hin zu einem Wohlfahrtsstaat liberaler Prägung, dessen Sozialleistungen für die Arbeitsmarktintegration – workfare – und zur Armutsbekämpfung funktionalisiert werden. Die Marktgängigkeit der Leistungen der »Hilfeempfänger« erhalten Vorrang vor der Absicherung sozialer Risiken, die mit dem Arbeitsmarkt verbunden sind. Das Problem ist, dass eine stärkere Verlagerung der Verantwortung für die Existenzsicherung vom Sozialstaat auf das Individuum, die in Zeiten der Globalisierung wohl notwendig wird, in den gegenwärtigen Reformprozessen als Diskriminierung von Arbeit und von Arbeitenden in den unteren Einkommensbereichen organisiert wird. Der Sozialstaat produziert neue, entwürdigende persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, die weder in die Landschaft einer modernen »Wissensgesellschaft« noch unbedingt zum Konzept einer Gleichheit von Männern und Frauen passen.

Harzt IV bedeutet mehr als eine Arbeitsmarktreform. Es scheint, als ob ein Kulturschock durch das Land geht. Ausbildung und berufliche Qualifikation – ein Terrain, auf dem insbesondere Frauen aufgeholt und eine besondere Dynamik entwickelt haben – sind kein Garant mehr, weder für einen bestimmten Lebensstil noch für »verdienstvolle« Arbeit. Bereits nach einem Jahr Arbeitslosigkeit brechen soziale Rechte weg: Der Erwerbsarbeitsbegriff löst sich in Tätigkeiten auf, die entkoppelt von Einkommen, Entgelt und Standards ihren bisherigen Wert verlieren.

 

1

Zu dem Bild einer modernen Dienstleistungsgesellschaft passt nicht die Zusammensetzung der 15-köpfigen Kommission, die zum überwiegenden Teil aus Vertretern der Arbeitgeberseite und aus Beratungsunternehmen besteht. Lediglich zwei Mitglieder kommen aus der Wissenschaft, zwei sind Gewerkschaftsvertreter. Nur eine Frau (vom Bundesvorstand ver.di) gehört dem Gremium an.

2

Ralf Gössner (2004) hat einige exemplarische Felder »behördlicher Neugier« in den Fragebögen zusammengefasst: 1. Offenlegung der Lebensverhältnisse Dritter, die sich auch auf sensible Daten beziehen, ohne dass die Betroffenen hierüber unterrichtet werden müssen. 2. In den Antragsformularen wird nicht eindeutig zwischen »Bedarfsgemeinschaften« (Zusammenleben von Eltern, Kindern und Lebenspartner) und »Haushaltsgemeinschaften« (Wohngemeinschaften im weitesten Sinne, auch Untermieter) unterschieden. Zu Letzteren dürfen und brauchen keine Angaben gemacht werden, wenn es sich nicht um Lebenspartner handelt (Bundesverfassungsentscheid vom Oktober 2004). 3. Einsicht Unbefugter in geschützte Daten, zum Beispiel in Verdienstbescheinigungen oder der Arbeitgeber in die Vermögensverhältnisse ihrer Beschäftigten.

 

 

Literatur:

 

Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge: Polity

Gössner, Rolf (2004): »Gläserne Leistungsempfänger. Die Bundesagentur für Arbeit verstößt mit ihren Fragebögen zum Arbeitslosengeld II massiv gegen den Sozialdatenschutz«, in: FR, 30.10.04

Klammer, Ute/Leiber, Simone (2004): »Aktivierung und Eigenverantwortung in europäisch-vergleichender Perspektive«, in: WSI Mitteilungen, Heft 9/2004, S. 514–521

Knuth, Matthias/Finn, Dan (2004): Hartz oder Harrods? Reformen der Arbeitsförderung im Vereinigten Königreich, in: IAT-Report Nr. 4

Streeck, Wolfgang (2001): »Wohlfahrtsstaat und Markt als moralische Einrichtungen: Ein Kommentar«, in: Karl Ulrich Mayer (Hrsg.): Die beste aller Welten? Markliberalismus versus Wohlfahrtsstaat, Frankfurt am Main, S. 135–168

 

 

 

Kasten:

 

Hartz-Vorlage: Aktivierungsstrategien in Großbritannien

Ein Vergleich der Arbeitsmarktreformen in England und Deutschland, den das Institut Arbeit und Technik / Wissenschaftszentrum NRW (IAT/Gelsenkirchen) 2004 durchführte (Knuth/Finn 2004), spricht von »frappierenden Ähnlichkeiten und entscheidenden Unterschieden«. Die rot-grüne Regierungskoalition in Deutschland holt quasi nach, was eine konservative Regierung im Vereinten Königreich bereits 1986 mit dem Programm »RESTART« begann: die Zusammenführung aller Leistungen für Erwerbsfähige in einer Organisation. Der »New Deal« der Labour-Regierung hat im Zusammenhang mit der Philosophie des »Dritten Weges« (Giddens 1998) den Akzent stärker auf Aktivierung und Integration der Arbeitssuchenden in den Arbeitsmarkt gelegt. Der New Deal folgte einem gruppenspezifischen Ansatz (vgl. Klammer/Leiber 2004, S. 516) und führte Programme für verschiedene Problemgruppen ein: für Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Behinderte und allein Erziehende, Partner von Arbeitslosen, Musiker und ältere Arbeitslose über 50. Differenzierte monetäre Anreize beim Übergang in die Erwerbsarbeit zum Beispiel für Sozialhilfebezieher, die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen für Familien, Mindestlohnregelungen und steuerliche Begünstigungen haben die Beschäftigungsfähigkeit (employability) der Menschen erhöht und die Arbeitsintegration erleichtert.

Das britische Aktivierungsprogramm war laut IAT-Report 2004 erfolgreich. Die Arbeitslosenquote konnte von 1993 bis 2001 von 10 auf 5 Prozent halbiert werden, der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung sank im gleichen Zeitraum um ein Drittel und die Erwerbstätigenquote in Vollzeitäquivalenzen stieg von gut 58 auf gut 62 Prozent. Allerdings spielt sich diese Erfolgsstory auf dem Hintergrund eines hohen Anteils von Sozialhilfeempfängern im Erwerbsalter ab, der über dem in Deutschland liegt. Aus anderen Untersuchungen (zitiert in Klammer/Leiber 2004) wird deutlich, dass sich die Erfolge vor allem bei weniger schwierigen Gruppen wie jüngeren Langzeitarbeitslosen oder gut qualifizierten Behinderten zeigten. Als wichtige Voraussetzung für den Eingliederungserfolg nennen die Studien die intensive Betreuung durch persönliche Berater, die, wie die Fallmanager, mit mehr Rechten ausgestattet wurden, und durch individuelle Aktionspläne, die möglichst schon in der Frühphase der Arbeitslosigkeit eingesetzt werden.

Die britische Grundsicherung für Arbeitssuchende (Jobseeker’s allowance) erinnert an die deutsche Version, sie liegt mit durchschnittlich monatlich 359 Euro für alleinstehende Erwachsene etwas höher. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Vorgehen in England und Deutschland liegt im Tempo der Umstellung. Während sich die englische Regierung für die institutionelle Zusammenlegung aller Leistungen in den neu geschaffenen Jobcenter fünf Jahre Zeit nahm, soll die Einrichtung von Jobcenter und die Bildung von Arbeitsgemeinschaften zwischen Arbeitsagenturen und kommunalen Trägern in Deutschland eine Vorbereitungszeit von nur einem Jahr beanspruchen. Für die Umsetzung, zum Jahreswechsel 2004 und 2005, wird sogar nur die Zeitspanne einer »juristischen Sekunde« (IAT-Report 2004) gewährt. Die bundesdeutsche Regierung hat sich für ein Hauruckverfahren entschieden, obgleich die organisatorische Umstellung auf Grund des föderalen Gefüges schwieriger als in England ist. Dort fusionierten zwei nationale Behörden mit einheitlichem Dienstrecht und gleichen rechtlichen Voraussetzungen. In Deutschland treffen mit Sozialamt, Arbeitsamt und Kommunen unterschiedliche Organisationskulturen mit unterschiedlichem Berufsstatus (Angestellte und Beamte) aufeinander. Warum sich der Gesetzgeber, gestützt auf die Erfahrungen anderer Länder, nicht mehr Zeit für solch eine grundlegende Reform genommen hat, ist unverständlich.

Mechthild Veil