Ist die multikulturelle
Gesellschaft, »Europas Lebenslüge«, am Ende? Manche, die nach dem Mord an Theo
van Gogh im deutschen Blätterwald Totenmessen auf sie lesen, scheinen auf
Methoden der Heiligen Inquisition zurückzugreifen: Man definiert das
Teufelsding nicht näher, aber nützt endlich die Gelegenheit es zu exorzieren,
im Namen der Aufklärung, versteht sich. Ein Teil der rechten Waldhälfte tritt
an, ein Teil der linken Waldhälfte pariert. Oder auch umgekehrt, wenn ein
Berliner SPD-Bezirksbürgermeister nach einem ungeschminkten und Besorgnis
weckenden Zustandsbericht hinzufügt, die Integration habe versagt.
Immerhin hat die einmal begonnene
Debatte trotz manch schriller alarmistischer Töne ihre neuen Qualitäten. Sie
verkraftet ohne Weiteres neokonservatives Kulturkämpfertum eines Leon de
Winter, der »die Araber« und »die Muslime« nach dem Rezeptbuch The Arab Mind
des Mythologen Raphael Patai homogenisiert. Nach der ersten Bestürzung erweist
sich in den meisten Kommentaren, dass weit weniger die Multikulturalität dieser
Gesellschaft in Frage gestellt wird; vielmehr werden kritische Fragen an ihre
Handhabung gerichtet. Fragen an sich selbst, Fragen an »die anderen«. Dass
neben echten Sorgen und Ängsten auch Übertreibungen und Vorurteile zur Sprache
kommen, gehört mit zur Spiegelung der diversen politischen Strömungen des
Landes und zu einer offenen Auseinandersetzung.
Dabei handelt es sich nicht – mag
es auch so scheinen – einfach um die x-te Fortsetzung einer endlosen Debatte,
die praktisch schon 1945 begonnen hat, als Millionen Bürger anderer Staaten,
Vertriebene, in die gerade neu geschaffene Bundesrepublik einwanderten. Es gibt
einige Stationen der Zuwanderung sowie der Debatte darüber, und jede hat ihre
besonderen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Die Welle der frühen
Neunzigerjahre hatte ihre Spezifitäten, und wer nach dem 11. September von
Immigration und Integration spricht, muss die veränderten Umstände in der
globalisierten Welt mit ins Auge fassen. Sie ist also eine Chance, über
»bekannte Muster« hinauszukommen, zumal sich nunmehr verstärkt neue Stimmen zu
Wort melden.
Natürlich ist es wichtig, dass die
Mehrheitsgesellschaft die eigenen Positionen berät. Bevor man aber allgemein
über Toleranz in der offenen Gesellschaft und ihr Changieren zur Indifferenz
herumstreitet, sollten die Stimmen derjenigen gehört werden, von denen bislang
in der Tat relativ wenig zu hören war: die Stimmen der Vertreter der Muslime,
ihrer Organisationen, ihrer Künstler, ihrer Publizisten und der Menschen auf
der Straße. Weit mehr von ihnen als sonst haben sich in den letzten Wochen zu
Wort gemeldet. Da kommen spannende Darlegungen über die Lage der Muslime in
Europa, warum sie erst jetzt beginnen, so Navid Kermani, »dem Extremismus in den
eigenen Reihen eine öffentliche Absage zu erteilen«; da kommen von Funktionären
ganz konkrete Überlegungen zur Zusammenarbeit bezüglich des Deutschunterrichts
oder der Ausbildung der Imame; da kommen zahlreiche kritische Äußerungen
(Katajun Amirpur: »In den Niederlanden herrscht Meinungsfreiheit und wer das
nicht akzeptieren will, sollte gehen.«) oder Großvorschläge wie jener von Zafer
Senocak: »Die Muslime in Europa brauchen dringend eine Charta, in der die
verbindlichen Regeln des Zusammenlebens mit Nichtmuslimen in einer
demokratischen, offenen Gesellschaft festgeschrieben werden müssen. Wer sich
nicht an diese Charta hält, müsste aus der Gemeinschaft der Gläubigen verstoßen
werden ...« Und es kommt zu bemerkenswerten Begegnungen, Spitzenvertreter des Dachverbandes
türkischer Muslime, des Zentralrats der Muslime und des Islamrats trafen sich
trotz der tiefen Gräben zwischen ihnen; zur Großdemonstration in Köln am 21.
11. hatte der türkische Dachverband alle relevanten Verbände und Vereine
eingeladen: deutsche, türkische, christliche, muslimische. Egal, ob Linke oder
Konservative, für Muslime und Deutsche ist es gut, wenn Claudia Roth und Günter
Beckstein in Köln demonstrieren.
Bedroht der Islam die
demokratischen Freiheiten? Die Bedrohung entspringt niemals aus »dem Islam« als
Ganzes. Ein Problem existiert mit islamistischen Extremisten. Es rührt aus
einer bestimmten Entwicklung der Weltlage und in den islamischen Ländern.
Terroristische Netzwerke bedienen sich auch der Migration als Hebel für ihre
Pläne. Darüber muss die Mehrheitsgesellschaft sich mit den muslimischen Bürgern
und Immigranten verständigen anstatt sie unter einen Generalverdacht zu
stellen. Gerade dieser scharfe Konflikt wirft auch ein Schlaglicht auf den
Zustand von Immigration und Integration der Menschen aus den verschiedenen
islamischen Ländern, die alles andere denn ein homogener Block sind. Das ist
auch ein kulturelles Problem, in erster Linie aber ist es eines der Anerkennung
des aufnehmenden Staates und seiner Rechtsordnung durch die Immigranten. Das
muss und das kann zur Verhinderung von Parallelgesellschaften eingefordert
werden. Wer dauerhaft hier lebt, genießt die Rechte der Demokratie, ist aber
auch ihrer Rechtsordnung verpflichtet.
Zugleich sollte sich die gastgebende Gesellschaft stets vor Augen halten, dass
ihre Art des Umgangs mit den Zuwanderern ein Spiegel ihrer eigenen
Befindlichkeit ist.