Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Kampf zweier Linien im Iran

 

 

Versteckt das Glück zu Hause in der Speisekammer
Sie rösten Kanarienvögel
Auf einem Feuer aus Lilien und Jasmin
(Ahmad Shamlou: In dieser ausweglosen Lage)

Am 17.11. postet »Lady Lolivashe«: »In einer Gesellschaft, in der man zur Schlachtbank der Geschichte geführt wird, nur weil man das Verbrechen begeht nachzudenken, schreibe ich, damit mich meine Verzweiflung nicht überwältigt. So habe ich das Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem mein Ruf nach Gerechtigkeit gehört werden darf. … Ich schreibe ein Weblog, damit ich schreien, weinen und lachen kann, all die Dinge tun kann, die man mir im heutigen Iran genommen hat …« (www.lolivashe.blogspot.com)

Die iranische Verfassung garantiert Gedankenfreiheit – »innerhalb der Grenzen des Islams«. Seit einem Jahr jedoch gibt es verschärfte Gesetze gegen Internetnutzer, die verschärft angewendet werden. Bei der Zensur helfen freilich, ähnlich wie in China, die großen ausländischen IT-Firmen mit, die dafür ihr Geschäft machen dürfen: Markt gegen Menschenrechte. Denn der Iran mit seiner gut ausgebildeten Jugend – 70 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre – stellt den größten Markt im Mittleren Osten; es gibt hier, laut NITLE Blog Census von 2004, mehr Weblogs als in Deutschland, Spanien, Italien, Russland oder China. »Lady Lolivashes« einsamer Aufschrei wird von verschiedenen Seiten bestätigt: Wie Julien Pain von »Reporters sans frontières« am 20.10.04 dem Nouvel Observateur kundtat, ist die islamische Republik »das größte Gefängnis für Journalisten im Nahen Osten«. In den letzten sechs Jahren wurden über 100 Druckpublikationen, darunter 41 Tageszeitungen, aus dem Verkehr gezogen. Die Berichte des Middle East Media Research Institute (MEMRI) oder der Iran-Report bei der Heinrich-Böll-Stiftung wimmeln von Nachrichten über Verhaftungen und Verurteilungen wegen Verbreitung satanischer Mitteilungen.1 Bei den Hinrichtungen liegt das Land 2004 hinter China an zweiter Stelle. Einer der Hauptverantwortlichen ist der Richter Saeed Mortazavi, wichtiger Knoten eines Netzwerks, das der eingekerkerte und gefolterte Journalist Akbar Ganji, seinerzeit Herausgeber der Zeitung Sobhe-Emruz, als »Mafia der Mächtigen« bezeichnet. Diesem Richter, von Ayatollah Khamenei 2004 mit dem Titel »Größter Führer des Jahres« für Superstars der theokratischen Verwaltung ausgezeichnet, wird »die direkte Beteiligung am Tod von Zahra Kazemi vorgeworfen, die während ihrer Untersuchungshaft ins Koma geprügelt wurde«.2 In seiner Zeitung enthüllte Ganji, dass Morde mit Billigung ranghoher Staatsmänner geschahen – Rafsanjani bezeichnete er in Anspielung auf Richelieu »Rote Eminenz« – und zeigte auch Strukturen des Spinnennetzes auf, etwa dass sein Ausgangspunkt die Haghani-Islamschule in Qom war, jene Stadt, die mit den irakischen Städten Kerbela und Nadschaf konkurriert (siehe Kommune 5/03, S. 73 ff.) und zu den Zentren des schiitischen religiösen Lebens zählt. Violence is the answer, auch für Ganji.

Weblogs werden auch von Politikern und geistlichen Würdenträgern geschrieben, etwa vom ehemaligen Vizepräsidenten Mohammad Ali Abtahi, dem Kleriker Pejvake Khamoush aus Qom, Hojreh und andere, die auf ihren Sites für Ganji und für die Demokratisierung eintreten (Global Voices Online, 25.10.). Andere wichtige Ayatollahs (Hussein Ali Montazeri-Najafabadi, Nasser Makarem-Shirazi) sprachen sich öffentlich, etwa im Radio, für ihn aus (Radio Free Europe, 8.11.). Hier treffen sich unterschiedliche Geister, die in der Willkür der geistlichen Führer eine Abkehr von Khomeinis Revolution sehen – insbesondere in den zahllosen Fällen von Korruption und maßloser Bereicherung, wofür Ayatollah Ali Akbar Hashemi Rafsanjani prototypisch steht.

Tatsächlich haben Parlament und Präsident wenig Macht, denn, wie Rudolph Chimelli in Das Parlament am 8.8. schreibt, »Iran entspricht dem klassischen Modell einer Despotie, gemildert durch Schlamperei«. Und Bahman Nirumand erläutert in seinem Iran-Report Nr. 11/2005 den aktuellen Zustand dieser Despotie, die sich fälschlich »Republik« nennt: »Die ›Versammlung zur Feststellung der Staatsraison‹, kurz ›Schlichtungsrat‹ genannt, hat eine erstaunliche Aufwertung erfahren. Der Rat ist nun offiziell dazu befugt, die drei Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative zu kontrollieren. Er hat, wie der Ratssekretär Mohsen Rezai sagte, ›das letzte Wort‹. Das bedeutet, dass er jede Entscheidung des Parlaments, der Justiz oder auch der Regierung aufheben und außer Kraft setzen kann. Betrachtet man das Gefüge der Staatsmacht, steht an oberster Stelle der Revolutionsführer, der mit nahezu uneingeschränkter Macht ausgestattet ist. Ihm folgt der ›Schlichtungsrat‹ als Kontrollorgan der drei Gewalten. Ihm zur Seite steht der Wächterrat, ohne dessen Zustimmung kein Beschluss des Parlaments Gültigkeit erhält. Zu erwähnen ist, dass sowohl die Mitglieder des ›Schlichtungsrats‹ wie mehrheitlich die Mitglieder des Wächterrats nicht etwa vom Volk gewählt, sondern vom Revolutionsführer ernannt werden. Dasselbe gilt für den Chef der Justiz sowie für die Führung der Streitkräfte. Aus dieser Machtkonstellation wird ersichtlich, mit wie wenig Macht das vom Volk gewählte Parlament und die Regierung ausgestattet sind. Zumal kein Bewerber für das Parlament oder für den Posten des Staatspräsidenten für diese Ämter kandidieren kann, bevor er nicht vom Wächterrat akzeptiert worden ist.«

Abgetreten sind die Reformer, nun gibt es Machtkämpfe unter den Konservativen. Chimelli schreibt: »Interpreten der Absichten der ›Neuen Konservativen‹ behaupten, diese träumten vom ›chinesischen Modell‹ – ideologische Kontrolle bei Liberalisierung des Alltags mit Prosperität. Da die Machthaber den Jungen Arbeitsplätze und Wohlstand nicht bieten könnten, dürfen diese im Privatleben an längerer Leine laufen. Missmut soll vermieden werden.« (Das Parlament, 8.8.) Der ehemalige Ölminister Ali Akbar Moinfar interpretiert den Machtkampf zwischen Konservativen und Fundamentalisten damit, dass Khamenei Rafsanjani geradezu in die Wahl gedrängt habe: »Er ist mit der Korruption um Rafsanjani unglücklich und fürchtet tatsächlich, dass sich diese zur Ursache für den Sturz (des Regimes) entwickeln kann.« Eine Wahlniederlage sollte seine politische Karriere beenden. »Ohne Rafsanjani würde Ahmadinejad nicht gewonnen haben.« (www.roozonline, 15.11.)

Khamenei selbst, der irdische Statthalter des entrückten zwölften Imam, des Oberhauptes der Schiiten, hatte seine Strategie als Ausgleich zwischen den beiden politischen Zweigen des Regimes formuliert: »Wir glauben, dass die Existenz von zwei der Zusammensetzung nach treuen Gruppen – die Konservativen und Reformierten – dem Regime dienen und wie zwei Flügel eines Vogels es ermöglichen, in einer konkurrenzfähigen und progressiven Atmosphäre zu fliegen. ... Wir werden denjenigen nicht erlauben zu führen, die an diese Zusammensetzung und an das Regime nicht glauben. ... Der Mittelweg und die richtige Annäherung sind ein reformistischer Konservatismus.« (IRNA, 5.10.) Dem in weltliche Geschäfte verwickelten und durch die Wahlniederlage zugestutzten Pragmatiker Rafsanjani, einst unter anderen auch eine Art Mittelsfigur zwischen Reformern und Konservativen, wird vermutlich die Aufgabe zukommen, in den schärfer werdenden Widersprüchen der Konservativen zu vermitteln. Denn, wie ein Blogger am 1.11. schreibt: »Die Unterschiede zwischen den Reformern und den Konservativen scheinen winzig, verglichen mit den Unterschieden zwischen den harten Verfechtern und den harten Verfechtern.« (www.viewfromiran.blogspot.com)

Tatsächlich kursiert in den Weblogs noch eine andere, gegenteilige Version für die Ernennung Rafsanjanis zum zweiten Mann, derzufolge auch Khameneis Position erschüttert ist. Laut einer Analyse von A. Savyon vom MEMRI lägen Hinweise vor, dass Ayatollah Sharoudi vom Richterrat und Ayatollah Meshkini vom Expertenrat Khamenei auf eine Entlassung Ahmadinejads gedrängt haben sollen mit Hinweis auf den Präzedenzfall Bani-Sadr im Juni 1981; als Khamenei ablehnte, drohten sie ihm mit seiner eigenen Absetzung. Auf diesen Druck hin stimmte er der Ermächtigung Rafsanjanis zu (»The ›Second Islamic Revolution‹ in Iran: Power Struggle at the Top« – MEMRI Special Dispatch, 17.11.).

In den Auslandsinformationen 7/05 der Konrad-Adenauer-Stiftung schreibt Oliver Ernst zur Präsidentenwahl: »Der Wahlsieg Ahmadinejads bedeutet aber nicht, dass sich die iranische Bevölkerung nun mehrheitlich eine Abkehr von den Reformen der letzten Jahre wünscht. Die wirtschaftlichen Reformen Rafsanjanis und die politischen Reformen Khatamis haben jedoch die soziale Schere nicht schließen können. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung soll unterhalb der Armutsgrenze leben, die für eine fünfköpfige Familie bei einem Einkommen unter 278 Dollar im Monat liegt. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 200 Dollar.« Zur Armut kommt noch hohe Arbeitslosigkeit, Schätzungen liegen bei 40 Prozent, eine Inflationsrate bei 18 Prozent und ein enormes Drogenproblem. »Im Iran leben 15 Prozent der weltweit Süchtigen, 79 Prozent des weltweit kursierenden Opiums und 19 Prozent des Heroins werden hier konsumiert. Selbst staatliche Stellen schätzen, dass es im Iran in den nächsten Jahren 15 Millionen Drogenabhängige geben wird.«

Ahmadinejad betrachtet sich als Verfechter einer »zweiten islamischen Revolution« unter der Fahne der »islamischen Gerechtigkeit«. Das mag seine positiven Inhalte haben, wo es um eine neuerdings angekündigte Bodenreform und um den Kampf gegen die Korruption geht. Will er wirklich durchgreifen, muss er vermutlich 70 Prozent der leitenden Beamten entlassen. Der Iran liegt an der 93. Stelle der UN-Korruptionsliste. Vorläufig begnügt er sich mit Personalgeschäften, um die eigenen Parteigänger unterzubringen. Der ehemalige Ölminister Ali Akbar Moinfar warnt im Interview mit Soheyl Asefi auf roozonline (15.11.) vor einer Radikalisierung des öffentlichen Lebens durch die militanten Gruppen: »Unsere Jugend sollte den Aufstieg des Drittes Reichs sorgfältig studieren. Sie sollte lernen, wen tatsächlich die Nazis durch ihre Jugendgruppen an die Macht holten. Was damals geschah, wiederholt sich heute im Iran.« Er wählt nicht zufällig starke Worte, ähnlich wie der gescheiterte Kandidat Mustafa Moin, der ebenfalls vor der »Gefahr des Faschismus im Iran« warnt. Gemünzt ist das auf die vom Präsidenten bevorzugten militanten Truppen der »Basijees« (freiwillige Kräfte unter dem Befehl der Passdaran, der Revolutionswächter) und den »Hizbollahees«. Nach den antisemitischen Ausfällen des Präsidenten zum »Quds-Tag« sind diese Warnungen ernst zu nehmen. Verschiedene Medien schwächten nur mäßig ab – auch Khatami bezeichnete Israel als eine »Manifestation des Staatsterrorismus« (Mehrnews, 25.10.) – oder brachten »Spezialisten« der Holocaust-Leugnung wie den Film des iranischen Sahar TV über David Bardash (MEMRI Special Dispatch, 26.10.).

Auf der Teheraner Konferenz (»Eine Welt ohne Zionismus«) nahmen auch die Führer von Hizbollah, Hamas und Islamischem Jihad teil. Zwischen ihnen und den iranischen Führern herrscht freundschaftliche Verbundenheit. Kein Wunder. Am 12.9. berichtet Al Sharq Al Awsat, »Beamte der Revolutionsgarden haben vor kurzem Führer des Ansar al-Islams und des Islamischen Jihad nahe der iranisch-irakischen Grenze getroffen. Sie besprachen die Beschleunigung der militärischen Unternehmungen gegen die britischen Kräfte im Süden vom Irak.« Die Londoner Times schrieb am 20.9., dass neue Angriffe gegen britische Streitkräfte im Südirak »mit Waffen und logistischer Unterstützung aus dem Iran erfolgt seien«. Und bekannt ist die Cicero-Affäre in Deutschland: Das Blatt hatte aus Quellen des BKA zitiert, wonach Zarqawi und andere al-Qaida-Führer logistische Unterstützung seitens des iranischen Staates erhielten; Zarqawi ging von Afghanistan in den Iran und errichtete dort Ausbildungslager in Zahedan, Isfahan und Teheran. Er war mit iranischer Unterstützung die treibende Kraft hinter den Anschlägen von Madrid und Bali.

Es ist kein Zufall, dass Ahmadinejads Diktion zu den USA und Israel in mancher Hinsicht der von Osama bin Laden ähnelt. Am 31.8. verkündete die regierungsnahe Kayhan die »neue außenpolitische Doktrin des Iran«: »Ausbau der strategischen Kooperation auf den Gebieten der Sicherheits- und Energiepolitik zwischen Iran, Indien, Pakistan, Russland und China. … Mit der neuen Doktrin verfolgt der Iran eine strategische Zusammenarbeit mit regionalen Bündnispartnern, die gemeinsame Interessen mit dem Iran haben. Aufgrund von existierenden ideologischen Verwandtschaften können die neuen Beziehungen den EU-Dialog ersetzen.« Wie die US-Führung sehen auch Teherans Mullahs die Zukunft in Asien.

1

Tatsächlich konnte man eine Zeit lang bei kafaar.com Salman Rushdies Satanische Verse herunterladen.

2

Nasrin Alavi: Wir sind der Iran. Aufstand gegen die Mullahs – die junge persische Weblog-Szene. Aus dem Englischen von Violeta Topalova und Karin Schuler, Köln (Verlag Kiepenheuer & Witsch) 2005 (400 S., 9,90 €)