Michael Jäger

Gewinn und Gemeinwohl.

Von Smith zu Kant

 

 

Nur ein funktionierender Markt ermöglicht Arbeitsplätze schaffende Gewinne, so einer der großen Gesänge. Unser Autor sieht darin die neoliberale Version der »unsichtbaren Hand« von Adam Smith, der an eine am Nutzen des anderen Menschen orientierte Naturveranlagung glaubte. Dem lag ein harmonisches Bewusstsein von der Natur zugrunde, das im 18. Jahrhundert seine Brüche erfuhr, wie es sich in den philosophischen Auseinandersetzungen äußerte, etwa Kant gegen Schiller. Das natürliche Gute wurde so fragwürdig wie die Vorstellung von einer prästabilierten Harmonie. Der selbstheilende Markt – ein Wurmfortsatz überholter Bilder, wie man im 18. Jahrhundert das Gemeinwohl sah?

Dass es populistisch sei, den Glauben an die Selbstheilungskraft des Marktes anzuzweifeln, scheint heute in Teilen der Öffentlichkeit Konsens geworden zu sein. Die Situation gibt es ja wirklich, dass man über einem Gerede die Geduld verlieren muss, weil es nur noch ideologisch ist. In der Marktfrage freilich wäre es unernst, den Stoff zum Argumentieren für abgearbeitet zu erklären. Das Problem ist doch unübersehbar. Es ist sogar an der Oberfläche sichtbar und leitet dennoch zur Letztbegründung der Sache fast unmittelbar über. Es konzentriert sich in schlichten Fragen wie dieser: Ist zu erwarten, dass Gewinne, die auf dem Markt erzielt worden sind, in Arbeitsplätze reinvestiert werden?

Die Frage liegt an der Oberfläche, weil man nur an jüngste Äußerungen des Bundespräsidenten und des aus dem Amt geschiedenen Bundeskanzlers zu erinnern braucht: Nur wer Gewinn mache, könne Arbeitsplätze schaffen, unterstrich Horst Köhler; man habe Gewinne ermöglicht, wo bleibe nun die Vermehrung der Arbeitsplätze, fragte mahnend Gerhard Schröder. Oder nehmen wir das jüngste Wahlprogramm der FDP: Die Ausgaben zur Umschulung von Langzeitarbeitslosen sollen eingespart werden, damit die Lohnnebenkosten sinken können, was dann die Gewinne entsprechend erhöht. Und wie weiter? Nun, je höher die Gewinne, desto größer die Möglichkeit der Reinvestition in Arbeitsplätze.

Der Zusammenhang solcher Sätze mit der Letztbegründung ist nicht sofort zu sehen. Vordergründig bewegen sie sich im Raum der Frage, wie das Funktionieren des Marktes Vollbeschäftigung oder maximale Beschäftigung herbeiführen kann. Man sucht sie durch die Erörterung von Techniken fiskalischer oder arbeitsrechtlicher Art zu beantworten. In der Frage ist aber unterstellt, dass jedenfalls nur ein funktionierender Markt für ein solches Ziel einstehen kann. Ein funktionierender Markt, wird weiter unterstellt, ist ein von staatlicher Regulierung möglichst befreiter Markt. Wo es Regulation geben soll, soll sie dem Markt das Funktionieren erleichtern. Sie soll ihn nicht mit Regeln belasten, die seiner Eigenlogik fremd sind. Die Lust oder der Zwang, Gewinne zu machen, kann geradezu als Kriterium dieser Eigenlogik gelten. Deshalb ist jede staatliche Maßnahme richtig, die Gewinne um fast jeden Preis fördert. Aber da haben wir die Ebene der Letztbegründung schon erreicht: Nichts wirkt besser als die Eigenlogik des Marktes, lautet der axiomatische Satz. Wenn es worum geht? Um Arbeitsplätze. Also ums Gemeinwohl.

Der Satz ist altbekannt, er hat sich früher des Ausdrucks »unsichtbare Hand des Marktes« bedient. Obwohl die Marktteilnehmer egoistisch sind – ihren Gewinn wollen statt den Gewinn der anderen –, sorgt »eine unsichtbare Hand« dafür, dass aus dem Zusammenspiel aller Egoisten das Gemeinwohl erwächst. Das ist die alte Fassung des Satzes, und weil sie auf Adam Smith zurückgeht, ist es ganz korrekt, die heute herrschende Sicht auf den Markt als »Neoliberalismus« zu kennzeichnen, auch wenn manche, die den Ausdruck einst in die Debatte warfen, ihn heute nicht mehr hören wollen. Es verdient wiederholt zu werden, dass der Satz bei Smith und auch heute vom Gemeinwohl handelt. Die unsichtbare Hand ist nicht an und für sich interessant, sondern weil sie das Gemeinwohl begründet, zum Beispiel Arbeitsplätze. Wir begnügen uns also nicht mit der Beobachtung, dass irgendein interessantes Marktfunktionieren zustande kommt, ob nun mit viel oder wenig Beteiligung Arbeitender, ob mit Reichtum oder Armut der Gesellschaft, die dem Markt als Schauplatz dient.

Warum hält man es für so sicher, dass die unsichtbare Hand des Marktes für das Gemeinwohl sorge, dass man ihn daher möglichst deregulieren müsse? Die Antwort liegt auf der Hand: Der Versuch, »das Gegenteil« zu behaupten, nämlich dass vielmehr der Staat fürs Gemeinwohl sorge, ist mit dem Nieder- und Untergang des realen Sozialismus gescheitert. Mehr noch: Viele Regulationsformen, in denen man früher die freiheitliche Alternative zum realen Sozialismus gesehen hat, sind nach dessen Scheitern eher als Zugeständnisse und selber halbsozialistische Formen erschienen. Deshalb werden nun auch sie zurückgenommen, damit sich der nützliche Selbstlauf des Marktes ganz und gar entfalten kann. Aber damit ist klar, das Argumentieren kann noch nicht an sein Ende gekommen sein. Denn es ist zwar richtig: Die Geschichte des realen Sozialismus hat Adam Smith unfreiwillig freigesprochen. Aber wer spricht ihr die Würde zu, der einzige Richter über Smith zu sein? Nur so viel ist doch klar, dass man vom Neoliberalismus, dem Comeback der unsichtbaren Hand, nicht wieder zum realen Sozialismus zurückkehren kann.

Man scheint heute darauf zu warten, dass Erfahrung den smithschen Ansatz rechtfertige. Bisher tritt der Gemeinwohleffekt ja nicht ein. Sonst hätte es der Äußerungen Köhlers und Schröders nicht bedurft. Aber der Ansatz, sagt dann beispielsweise das Wahlprogramm der FDP, bestimme noch gar nicht in reiner Form die Versuchsanordnung. Ein Ansatz kann aber schon allein innertheoretisch scheitern. Wenn er unvernünftig ist, wird man mit ihm nicht einmal experimentieren, zumal in unserm Fall die experimentelle Umgebung – das Gemeinwohl – Schaden nehmen könnte. Es führt also nichts daran vorbei, Smiths Grundannahme der unsichtbaren Hand als solche theoretisch zu prüfen. Wenn man das tut, hat man den Eindruck, eine versunkene Diskurswelt zu betreten.

Smith ist viel weiter gegangen als Köhler und Schröder: Weil mit Kapital Arbeitskräfte »beschäftigt werden«, schreibt er, deshalb darf man den Kapitalgewinn nicht besteuern. Denn sonst wandert das Kapital aus. Es wandert aus, weil es nicht an der Beschäftigung von Arbeitskräften gehindert werden will. In Smiths Augen ist das ein Gesetz: Das Kapital macht zwar egoistisch Gewinne, aber es beschäftigt Arbeitskräfte, folglich reinvestiert es die Gewinne. Das ist nicht bloß ein Anspruch wie bei Schröder oder die Benennung einer Möglichkeit, worüber Köhler nicht hinausgeht. Aber wenn auch Schröder und Köhler sich so vorsichtig äußerten, müssen wir doch unterstellen, dass sie irgendwie auf Smith Bezug nehmen wollten, weil ihre Äußerungen sonst sinnlos wären. Politiker, die alles darauf setzen, dass Gewinne gemacht werden können, werden das nicht in der Art von Lotteriespielern rechtfertigen: »Nur wer sechs Kreuze macht, kann sechs Richtige angekreuzt haben.« Weil Schröder und Köhler nicht verantwortungslos sind, muss ihnen ein Zusammenhang von egoistischem Gewinn und Gemeinwohl vorgeschwebt haben, der die Festigkeit des Zufallszusammenhangs beim Lotto durchaus übertrifft.

Andererseits wird auch dies kein Zufall sein, dass sie sich so vorsichtig äußerten. Denn bei vollem Tageslicht lässt sich der von Smith unterstellte Zusammenhang nur schwer behaupten. Die unsichtbare Hand erscheint heute als Grundannahme. Bei Smith hat sie ihrerseits einen Grund, der heute nicht mehr vorzeigbar ist. Er erschließt sich erst aus dem Zusammenhang beider Hauptwerke, die Smith vorgelegt hat: der Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776 einerseits, der Theory of Moral Sentiments von 1759 andererseits. Liest man das Werk über den Wohlstand der Nationen isoliert, kann man leicht glauben, es werde da eine Maschine beschrieben, deren Teile wie Zahnräder harmonisch ineinander greifen. Der »Zusammenhang zwischen erhöhter Kapitalbildung und zunehmender Nachfrage nach Arbeitskräften« lässt sich in rein ökonomischer Sicht erläutern. Doch wie jede Maschine läuft auch diese nur, wenn sie läuft.

Was schaltet sie an? Auf welche Energie greift sie zurück? Der erste Satz des Werks über die ethischen Gefühle klärt darüber auf: »Für wie egoistisch man den Menschen auch immer halten mag, so ist er doch offenkundig von Natur aus so veranlagt, dass er sich für das Schicksal anderer interessiert und er deren Glück und Wohlbefinden als für sich wichtig betrachtet, obwohl er davon keinen Nutzen hat, außer der Freude, die anderen so zu sehen.« Des Weiteren entwickelt Smith, dass der Mensch anderen Menschen Anerkennung zolle oder verweigere und seinerseits nach deren Anerkennung strebe.

Kurz, er ist von vornherein der Mensch des Gemeinwesens. Nur in diesem Kontext ist er auch egoistisch. Und deshalb kann Smith in dem Werk über den Wohlstand der Nationen behaupten, das Streben nach persönlichem Wohlstand und sozialer Anerkennung – es ist ein Streben für ihn – »weckt den Erwerbsfleiß der Menschen und hält ihn dauernd in Gang«, veranlasst sie, »den Boden zu kultivieren, Häuser zu bauen« und schließlich »Wissenschaften und Künste zu erfinden und zu verbessern, die das Leben des Menschen verfeinern und verschönern«. Als Smith jenen Satz über die ethischen Gefühle niederschrieb, war noch nicht klar, dass er später sein Leben ganz der Erforschung der ökonomischen Zusammenhänge widmen würde. Aber die ökonomische Theorie, die er dann aufstellte, und namentlich das Wort von der unsichtbaren Hand, in der sie sich zusammenfasst, ist undenkbar ohne jenen Satz. Warum ist es gesetzmäßig, dass Gewinne in Arbeitsplätze reinvestiert werden? Die Antwort wäre unvollständig ohne diesen Hinweis: Der, der Gewinn macht, ist ein Mensch und hat als solcher die natürliche Veranlagung, das Glück derer, die Arbeit suchen, als für sich wichtig zu erachten, obwohl er davon keinen Nutzen hat außer der Freude, die Arbeitsuchenden glücklich zu sehen.

Ist es das, woran wir glauben? Man kann versuchen, die smithsche ethische Grundlegung auf allerlei Art abzuschwächen. Etwa indem man erinnert, Smith habe ja selbst nicht so stark an den Gemeinsinn geglaubt, dass er staatlich sanktionierte Regeln, um den Egoismus zu zähmen, für überflüssig gehalten hätte. Oder indem man heutigen Marktteilnehmern vorwirft, sie beuten nur den egoistischen Teil der smithschen Wegweisung aus, die aber nur funktioniere, wenn auch der gemeinsinnige Teil beachtet werde. Ein Ökonom, der berechnete, dass der Markt desto besser funktioniert, je gemeinsinniger sich die Teilnehmer verhalten, erhielt dafür den Nobelpreis.

Doch solche Einwürfe gehen am Kern der Sache vorbei. In einem System, das nur auf die Natur des Menschen setzt, reichen Regeln zur Zähmung des Egoismus nicht aus, es sei denn, der Mensch will von vornherein das Glück des Nebenmenschen. Darum geht es. Smith wusste es und baute darauf. Auch den Vorwurf, er werde heute nur einseitig benutzt, hätte er nicht unterschrieben. Denn sein System fordert nicht bloß dazu auf, den Gemeinsinn zu wählen, sondern behauptet dessen Natürlichkeit. Köhler, Schröder und die FDP haben Smith ganz richtig verstanden: Nicht darauf zielen ihre Vorschläge und Erklärungen, die Unternehmer zur Wahl eines Verhaltens aufzufordern, das sie genauso gut auch unterlassen könnten, sondern darauf, sie an ein Verhalten zu erinnern, das sie ohnehin natürlicherweise beginnen werden. Nur, warum beginnen sie es denn immer noch nicht?

Der Kern der Sache ist, dass die Theory of Moral Sentiments nur vier Jahre nach dem Erdbeben von Lissabon erschien. So kurze Zeit reichte nicht, dass Smith all die anthropologischen Gewissheiten hätte abarbeiten oder auch nur anzweifeln können, die bis zum Erdbeben gegolten hatten, in den Jahrzehnten danach aber von neuen führenden Intellektuellen ad acta gelegt wurden. Smiths unsichtbare Hand ist vorkantisch, und der Neoliberalismus ist es auch.

Im Schillerjahr wird es statthaft sein, an die Fassung zu erinnern, die der Weimarer Dichter dem Satz von der unsichtbaren Hand gab. »Und kann etwas vortrefflicher sein, als dass alle Teile des großen Ganzen nur dadurch den Zweck der Natur befördern, dass sie ihrem eigenen getreu bleiben, dass sie nicht zu der Harmonie beitragen wollen dürfen, sondern dass sie es müssen.« So lässt er die List der Vernunft sprechen in einem Dialog, der seinem Romanfragment Der Geisterseher beigegeben ist, erschienen gut zehn Jahre nach der Inquiry von Adam Smith (1787/89). Die Französische Revolution steht unmittelbar bevor. Schiller lag es fern, speziell über Unternehmer zu schreiben, doch kann er die Probleme, die man plötzlich sieht und die auch solche des Marktes sein werden, mit neuer schmerzender Deutlichkeit erhellen. Er hebt eine Paradoxie hervor: Nicht was die Teilnehmer des Ganzen nur wollen, sondern was sie auch müssen, definiert ihre Freiheit.

Das kann man Freiheit nennen, weil es ein inneres Müssen ist, kein äußeres. Das äußere, durch auferlegte Regeln zustande gekommene Müssen würde natürlich unfrei machen. Aber nicht das innere. Man findet ja tatsächlich keinen Widerspruch darin, dass freie Unternehmer Gefangene des Konkurrenzkampfs sind: Freiheit spielt nicht im luftleeren Raum, sondern der Raum ist besetzt, aber eben in ihm findet sich die Freiheit frei zurecht. Eben weil sich Freiheit so wollen muss – jedenfalls diese Freiheit, die den Ausdrücken Liberalismus und Neoliberalismus Modell steht –, kommt der volle Raum, in dem die Freiheiten zusammenstoßen, zu seiner Harmonie.

Schiller weiß, wovon er spricht. Er hat in den Räubern ein Brüderpaar vorgestellt, das ganz aus dem Selbstzwang der natürlichen Freiheitsentfaltung lebt, aber wenigstens Karl Moor, der bessere Bruder, schreckt vor den Kollateralschäden schließlich zurück. Später im Don Carlos wird die Revolution der Freiheit als unaufhaltsam rollendes »Rad des Weltverhängnisses« dargestellt. Seltsames Kompliment! Freiheit und Zwang scheinen dasselbe zu sein. Aber darum geht es eben: Diese Freiheit ist ein Naturtrieb, es ist also eigentlich die Natur in mir das Freie, weniger ich selbst, der ich nur ihr Gefäß bin. Nicht ich, wohl aber die Natur in mir führt die Harmonie herbei. Im »Geisterseher« zeigt Schiller: Das ist eine Vorstellung, die unhaltbar geworden ist. Die Einzelnen sind durchaus keine Agenten der Naturharmonie. Agenten der Natur vielleicht, aber nicht ihrer Harmonie. Denn ob die Natur bestrebt ist, harmonisch zu sein, das ist gerade die Frage. Wenn sie einen Zweck ausführt, dann kennt man ihn jedenfalls nicht: »Ich kann mich ihm nicht entziehen, ich kann ihm nichts nachhelfen, ich weiß aber und glaube fest, dass ich einen solchen Zweck erfüllen muss und erfülle«, durch meine freie Moralität. »Alles Übrige werde ich nie erfahren.«

Schiller lässt hier zum ersten Mal das Motiv des Schleiers zu Sais anklingen: »Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhängen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. Hinter diese Decke müssen alle, und mit Schaudern fassen sie sie an, ungewiss, wer wohl dahinter stehe und sie in Empfang nehmen werde. Freilich gab es auch Ungläubige darunter, die behaupteten, dass diese Decke die Menschen nur narre, und dass man nichts beobachtet hätte, weil auch nichts dahinter sei.« Was wäre denn, wenn hinter dem Schleier der Natur nichts ist: keine Harmonie, kein Glück, kein Gemeinwohl? Dann kann für diese immer noch die Freiheit der Einzelnen arbeiten. Aber dann muss der Freiheitsbegriff geändert werden, wie es seit Kant tatsächlich geschieht. Denn ein bloßer Naturtrieb, mag man ihn Zwang oder Freiheit nennen, wird an der bloßen Natur nichts ändern.

Man kann zusehen, wie Kants Philosophie Schiller umwälzt: Mit der setzt er sich nämlich gerade auseinander. Die Moralität, lässt er die bloße Naturvernunft sprechen, besteht darin, dass der freie Einzelne dem »Trieb« folgt, »alle seine Kräfte zum Wirken zu bringen«. »Jede Handlung, die der Mensch begeht, ist dadurch, dass es eine Handlung ist, etwas Gutes. Und wenn wir eine schlimme Handlung von einem Menschen sehen, so ist diese Handlung gerade das einzige Gute, was wir in diesem Augenblick in ihm bemerken.« Das Handeln des Einzelnen speist sich aus vielen Einzelwillen, von denen jeder naturnotwendig das Gute, nämlich jeweils ein Gut will; alle Willen zusammen wollen die Gesamtheit der Güter. Amoralität in diesem vorkantischen Sinn entsteht nur dann, wenn nicht alles gewollt wird, gleichzeitig und in der richtigen Ordnung, sondern einige Einzelwillen ausfallen. Natürlich wäre das aber nicht, oder wenigstens hätte sich die Natur damit noch nicht entfaltet, wozu man ihr notfalls verhelfen muss. Zwischen den Willen, hatte Leibniz geschrieben, könnten Konflikte auftreten und dann müsse eine Wahl zwischen ihnen stattfinden; es sei aber immer klar, dass ein beteiligter Wille über den andern von vornherein überwiege. Wie in jeder Physik überwiegt das stärkere Gut das schwächere. So ordnet die Natur die Güter hierarchisch an, im Ganzen und auch in der Naturfreiheit des Einzelnen. Wer also auf seine Natur horcht, wird hören, wie »das« Gute über allerlei Einzelgüter im Konfliktfall obsiegt.

Dass diese Ethik den Sieg des Guten aus dem Überwiegen des stärkeren Guts herleitet, kann man auch so ausdrücken: Sie setzt auf meine »Neigung«. Die Waagschale in mir, die das Übergewicht trägt, ist die, die sich neigt. Gewiss werde ich beispielsweise zum ökonomischen Gewinn neigen, und das ist gut so; es gehört zu meiner natürlichen Freiheit, die unter allen Gütern auch dieses wollen muss. Aber da sich die Freiheit übergewichtig nach »dem« Guten neigen will, werde ich den Gewinn schließlich ins Gemeinwohl investieren. Diesem Glauben, dem nicht nur Adam Smith anhing, widerspricht Kant, indem er moralisches Verhalten auf Pflichtbewusstsein statt auf Neigung zurückführt. Er kann die Natur nicht mehr für harmonisch ansehen. Das war seit dem Erdbeben von Lissabon unmöglich geworden.

Eine altehrwürdige Weltsicht bricht da zusammen. Denn die Vorstellung, es gebe eine Neigung zu den Gütern und letztlich zum Guten, geht auf Aristoteles zurück. Das ist keine andere Vorstellung als die, dass die Sachen zu ihrem natürlichen Ort hinstreben. Entweder ihr Bewusstsein, wenn sie eins haben, gibt ihnen das ein, oder ihr Streben ist schlicht ein Fallen. Jedenfalls ist die Natur so eingerichtet, dass das, wohin eine Sache fällt, für sie das Gute ist. Für jede Sache sind gute Zielorte des Fallens vorgesehen. Mit andern Worten, es gibt Naturzwecke. Und dann muss es auch eine Vorsehung geben, die für sie verantwortlich zeichnet. Daran hat Smith noch geglaubt, als er einen Teil der Natur, den Markt nämlich, untersuchte. Wie man weiß, hat er sich besonders von Aristoteles, Thomas von Aquin und David Hume beeindrucken lassen.

Humes Name mag sich in dieser Liste etwas merkwürdig ausnehmen. Aber tatsächlich hinterlässt auch er in Smiths System Spuren – ganz andere als bald bei Kant, der sagen wird, Hume habe ihn aus dem »dogmatischen Schlummer« gerissen. Bei Smith besteht eine Spur darin, dass er das Beobachtbare des von ihm dogmatisch unterstellten ethischen Verhaltens betont. Die Marktteilnehmer beobachten einander und erkennen auf Grund dessen, was sie beobachten, einander an. Letzteres weiß Smith, weil er wiederum die Marktteilnehmer beobachtet. Er könnte sich weiter darauf berufen, dass Hume Gesetzesaussagen dann erlaubt, wenn sie Zusammenhänge betreffen, die man mehrmals und immer wieder beobachtet. Die Frage ist nur, ob Smith das, was er damals noch beobachten konnte, heute immer noch beobachten würde. Die englische Gesellschaft war in der Mitte des 18. Jahrhunderts sicher noch traditionell genug, dass Leute, die an ihrem Wohlergehen arbeiteten, sich zugleich um ihre Nachbarn scherten. Wenn Smith jedoch heute das Benehmen derer, die Gewinn machen, beobachten würde, könnte er da noch aristotelische Gesetzesaussagen verantworten?

Was er annahm, wurde durch das Erdbeben von Lissabon obsolet, es war aber schon abgesehen davon recht altmodisch. Denn in einer Hinsicht fielen er und sein Freund Hume hinter das Denken seiner Zeit weit zurück: Sie bewegten sich nicht im Diskurs des Unendlichen. Wenn Leibniz die prästabilierte Harmonie der Natur und Gottes Vorsehung in ihr beschwor, so ging das damit zusammen, dass er, Spinoza folgend, die Natur als unendlich ansah. Nicht so Hume und Smith. Über Leibniz’ Vorstellung einer unendlichen Teilbarkeit der Natur kann Hume sich nur lustig machen. Und Smith liegt der Gedanke völlig fern, dass die Freiheit von Unternehmern, wenn sie natürliche Freiheit ist, dann doch wie die Natur selber ins Unendliche streben muss. Dass es dann keine Grenzen des Wachstums gibt. Wahrscheinlich war dergleichen im 18. Jahrhundert einfach noch nicht beobachtbar. Aber im 19. Jahrhundert beschrieben Marx und Simmel die unendliche Profitmaximierung und ein neues Geld, das man auf unendlich viele Art ausgeben konnte.

Wenn man das Unendliche unterstellte, war die Annahme der natürlichen Harmonie, sei es der ganzen Welt oder auch nur des Marktes, schon wesentlich erschwert. Denn was die Weltmechanik bei Aristoteles und seinen Epigonen gelingen ließ, war dann nicht mehr denkbar. Das waren nämlich eben die natürlichen Orte, zu denen die Sachen kamen, sei es durch freies Streben oder im freien Fall. Das Streben oder der Fall erloschen in ihrem jeweiligen Ort: Sie waren endlich. Aber sie konnten deshalb endlich sein, weil der Ort sie auf- und einfing. Er war es, der ihnen das Erlöschen ermöglichte. Außerdem konnte ein solches Fallen dem Ort einen Stoß versetzen, ihm einen Bewegungsimpuls mitteilen, so dass er nun seinerseits zu einem anderen Ort strebte. Hier funktionierte also die Endlichkeit der Orte als Membran des Weltganzen. Ihre Dingfestigkeit vermittelte die Harmonie der Natur. Die Neigungen der Dinge gaben einander Halt, indem sie feste Aufprallböden füreinander waren. Wie nun aber, wenn die Dinge ins Unendliche und somit aneinander vorbeifallen? Wie sollen sie dann harmonisieren?

Was geschieht dann mit der Freiheit? »Tu, was du willst« ist im Gargantua von Rabelais noch ein überzeugendes humanistisches Motto. Denn die Helden des Romans streben nicht ins Unendliche. Ihre Natur bläht sie zwar schon zu Riesen auf, gibt ihnen aber noch bestimmte und durchweg menschliche Ziele: vögeln, brüderlich saufen, Frieden halten, Entdeckerlust. Doch in unserer Zeit hat man gesagt, »Tu, was du willst« sei das Motto der Schergen von Auschwitz gewesen (Helmut Spinner). Auschwitz wurde die »schrankenlose«, eben deshalb unerklärliche Untat genannt (Susan Neiman).

Harmonie des Unendlichen einfach nur zu behaupten, wäre Spinoza und Leibniz nicht eingefallen. Aber es gelang ihnen noch, einen überraschenden Harmonismus im theoretischen Modell zu behaupten. Dies war das Modell der, wie Leibniz sich ausdrückte, »prästabilierten« Harmonie. Er erläuterte es kühn am Beispiel mehrerer Uhren, auf denen dieselbe Zeit angezeigt ist. Dies geschieht nicht, weil eine Uhr auf die andere fällt, vielmehr geht jede ganz allein ins Unendliche. Und doch beugen sich alle demselben Gesamtwillen, der sie parallelisiert hat. Der Gewinn aber, wer hätte seinen Zeiger gestellt? Da bräuchte es wirklich eine »Hand«. Aufprallen kann der Gewinn jedenfalls nicht. Oder sollen Arbeitsplätze sein natürlicher Ort sein, der, von ihm in Bewegung gesetzt, zum Ort des Konsumkaufs weiterfällt, der seinerseits Stoßkraft für neuen Gewinn wird? Die Vorstellung, dass all diese Größen, Gewinn, Arbeit, Konsum, sich unabhängig voneinander in prästabilierter Harmonie befinden könnten, führt indessen auch nicht weiter.

All das würde ja einen den Weltlauf und so auch den Markt extramundan befehligenden Gott voraussetzen, an den seit der Französischen Revolution niemand mehr glaubt. Und das ist der Grund, weshalb damals ein anderes Denkmodell aufkam. Mit Kant, dann vor allem mit Fichte und Beethoven wurde der Gott, der für Harmonie bürgen könnte, ganz und gar in die Einzelnen verlegt: nicht mehr in ihre Natur, sondern in den Anspruch, dem sie praktisch folgen konnten und sollten. Gott wurde zur bloßen Hoffnung. Aber das war viel. Man musste nicht mehr die Hände in den Schoß legen, der äußern und innern Natur wehrlos zuschauend, sondern konnte eingreifen, sich für den Eingriff auch zusammenschließen. Damit war Freiheit etwas anderes geworden. Sie war nun die Kraft, das Rad des Weltverhängnisses stillzustellen. In diesem Zusammenhang darf vielleicht erwähnt werden, dass Christen gerade die innere Natur schon immer für verderbt gehalten hatten, so dass sie aus deren bloßem freien Streben das Weltheil gerade nicht erwarteten. Vielmehr sahen sie so genannte Erhaltungsordnungen für nötig an, die Gottes Schöpfung auch gegen diesen Verderb notfalls künstlich bewahren sollten.

Die neue Sicht lässt sich also keineswegs auf das reduzieren, was Marx in ihr fand. Sie bedeutet zunächst grundsätzlich nur, dass man harmonische Verhältnisse, so auch solche ökonomischer Art, nicht mehr vom Selbstlauf erwartet, sondern nach Maßgabe dessen, was man weiß, bewusst einrichtet. Es ist tatsächlich möglich, dass Uhren parallel gehen, nur darf man es nicht auf Gott schieben, der anderes zu tun hat, sondern muss sie selbst in die Hand nehmen. In diesem neuen Diskurs schlägt Marx einen Sonderweg ein: In der Hoffnung, die Dinge selbst einrichten zu können, geht er zu weit. Er ist wenigstens in mancher Hinsicht dem Trugschluss verfallen, dass eine Natur, die sich nicht selbst harmonisierte, nun gar nicht mehr berücksichtigt zu werden brauchte. Dieser Trugschluss war es wohl, an dem die marxistische Bewegung historisch scheiterte. Sie verkannte, dass der freie Markt der menschlichen Natur weit entgegenkam. Der Versuch, ihn abzuschaffen, war ganz verkehrt. Aber es war natürlich kein Rückfall hinter Smith, sondern ein Fortschritt zum Modernen – weg von Aristoteles und Thomas von Aquin –, wenn ein Bismarck dem Manchester-Markt gewisse Regulationen auferlegte und den Sozialstaat gründete.

Es gab etwas, das Marx und Bismarck verband: die Einsicht, dass uns ein höheres Wesen nur dann rettet, wenn wir uns selbst retten. Mag man es Gott, Natur oder die unsichtbare Hand nennen. In den Selbstlauf der Natur, auch der Natur des Menschen, auch der nur natürlichen Freiheit des Menschen, muss künstlich Ausgedachtes eingreifen, manchmal in der Tat nur, um Blockaden aufzulösen, oft genug aber auch, um gegenzusteuern. Wenn diese Einsicht heute aufgegeben wird, ist das ein fataler Rückfall, der selber so unnatürlich ist, dass er sich kaum sehr lange wird entfalten können. Der Markt heilt sich so wenig selbst wie einer, der eine Schusswunde hat. Man muss wissen, was man von ihm will, und danach handeln. Einfach nur an einer Stellschraube, dem Gewinn, drehen, reicht nicht aus, den Markt in eine Maschine des Gemeinwohls zu verwandeln.