Herbert Hönigsberger

Die Kleinste aller Großen?

Große Koalition – Eröffnungsbilanz

 

 

Muss es wundern, wie überaus undramatisch sich die beiden großen Wahlverlierer in »verantwortungsvolle« Träger der großen Koalition verwandelten? Warum konnte eine absolute Verliererin überhaupt Kanzlerin werden? Und was ist eigentlich der Geist, der diese Koaliton prägt? Statt Neoliberalismus eher ein bürokratischer Sozialdemokratismus, statt Aufbruchsstimmung Rechenschieberpolitik?

Politische Legitimität kommt von Verfahren und Erfolgen, das wissen wir von Max Weber bis Habermas. In einer zur Medienarena umstrukturierten Öffentlichkeit wird sie durch das Image des politischen Personals unterfüttert. Legitimität kommt auch von dessen mutmaßlichen Qualitäten, von Charisma, der Fähigkeit zum Bretterbohren, von der Gabe der Rede. Was also hat die politische Klasse zwischen Bundestags- und Kanzlerwahl geleistet, an Legitimität gestiftet? Personalauswahl und Programmformulierung – ein Koalitionsvertrag, eine Kanzlerin und Minister: Das sind die wesentlichen Posten der Eröffnungsbilanz.

Der Souverän hat die Große Koalition nicht gewählt, nur erzeugt. Nicht er hat Merkel zur Kanzlerin gemacht, sondern nur seine Repräsentanten. Kanzlerin aller Deutschen muss sie erst werden. Hinter ihr steht die kleinste aller großen Koalitionen. Die Koalition mit der Mehrheit der Wähler steht noch nicht. Die 351 Stimmen im Bundestag zählen, aber sie wiegen die 35 Prozent der Wahl nicht einfach auf. Ein legitimes Verfahren allein erzeugt noch nicht Glaubwürdigkeit. Selten war die Kluft zwischen Willen der Wähler und Handeln der Volksvertreter so groß. Am Anfang stehen ein gebrochenes Versprechen und mutloses Versagen. Diese Sozialdemokratie – nach, ohne und gegen Schröder – hatte nicht das Selbstbewusstsein, um Merkel wegzuverhandeln. Und diese Union – mit Merkel geschlagen – war unfähig, eine Person zu präsentieren, die Auftrag und Geist der neuen Konstellation von Anfang an hätte glaubwürdig personifizieren können. »Sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen.« Schröders Diktum vom Wahlabend ist die genuine Deutung des Mehrheitswillens und des sozialdemokratischen Auftrages. Die Botschaft wird der Öffentlichkeit bei jedem Konflikt und bis ans Ende dieser Koalition im Ohr klingen. Und sie ist ins Gewissen aller SPD-Abgeordneten eingebrannt. Die konnten aus der Wahl zwar ein Mandat für die große Koalition ableiten. Doch kein Mandat pro Merkel. Der abrupte Verzicht Schröders, der Rückzug Stoibers, der Sturz Münteferings und die Kür Merkels, wie Zufall, Plan und Torheit in diesen Ereignissen miteinander verknotet waren, harrt noch der zeitgeschichtlichen Aufklärung. Eine den politischen Institutionen verpflichtete Presse hätte die Wahlverliererin binnen dreier Tage in den Rücktritt geschrieben. Mehr am Gemeinwohl als an Events interessierte Medien hätten der Union einen besseren Kandidaten abverlangt. Vor allem aber Transparenz über die politischen Rankünen hergestellt.

Der Koalitionsvertrag ist ein merkwürdiges Dokument, so ernüchternd wie erstaunlich. 191 Seiten Technokratensprache. An die 60-mal wollen die Koalitionäre fördern, über 80-mal prüfen. Von Chancengleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist auf Sozialdemokratisch häufiger die Rede als von Freiheit auf Unionschristlich. Populismus, Nebelbomben, Allgemeinplätze, Stilblüten – das ganze Arsenal der Sprechblasenmaschine wird mobilisiert. Vor allem aber dominiert der Geist der Ressortbürokratien. Die entgeisterte politische Klasse flüchtet ins Detail. Der Instrumentenkasten wird bis zuunterst ausgekramt. So ungewollt wie gnadenlos enthüllt das Dokument die Dilemmata der Politik und einen Mangel an Selbstaufklärung, der hinter Schröder zurückfällt. Die Wachstumsillusion feiert so sehr Auferstehung wie die Selbstberauschung an der eigenen Steuerungskompetenz. Satz für Satz schwitzt der Text die sozialtechnologische Gestaltungsutopie aus, die Schröder seit 2003 mehr und mehr zurückgenommen hat. Ein Hauch von Durchregieren weht. Die gemeinsame Beschreibung der Ausgangslage erreicht weder das Niveau sozialwissenschaftlicher Aufklärung noch nüchterner Kapitalismusanalyse. Das Defizit an gesellschaftspolitischer Übereinstimmung wird durch die Inszenierung des Haushaltsdramas überspielt. Immerhin: ein zaghafter, trotzdem riskanter minikeynesianischer Versuch, durch ein kleines Investitionsprogramm öffentliche Investitionen und eine angekündigte Mehrwertsteuererhöhung privaten Konsum zu stimulieren. Und die Koalition scheint auch, siehe Reichensteuer, um die Bedeutung symbolischer Politik zu wissen. Doch ist das Ganze muddling-through auf breiter Front. Das Übliche also. Außer genüsslich-wütendem Sparen gibt es keine tragende Idee. Jeder Spirit fehlt. Dass nichts weniger als demokratisch-republikanischer Geist weht, zeigt das Detail. 25-jährige Erwachsene, Staatsbürger, Wähler werden als Kinder klassifiziert und der Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern zugeschlagen, wenn sie unverheiratet sind. Dieser Diskriminierung können sie sich durch Eheschließung entziehen. Was für ein muffiges Weltbild. Subsidiarität verkümmert zu familiärer Zwangssolidarität und zur Krücke des taumelnden Sozialstaats. Auch die Auflösung der Bundeszuständigkeiten für die Hochschulen in der halbierten Föderalismusreform manifestiert antirepublikanischen Provinzialismus. Der harte Kern des Vertrages steht auf Seite 65: »Alle Maßnahmen … stehen unter Finanzierungsvorbehalt.«

Wozu auch immer der Vertrag gut ist, als Anleitung zum Handeln oder Leitfaden für Konflikte, er wirft so viele Probleme auf, wie er lösen hilft. Doch dokumentiert er auch, wie große Teile der politischen Klasse nach Jahrzehnten öffentlich inszenierten Krawalls Gemeinsamkeiten kodifizieren. Noch ist offen, ob die Koalition sich auf die begrenzte instrumentelle Logik und sozialtechnologische Vernunft des Vertrages zurückzieht oder sich gar zu Reformen demokratisch-republikanischen Zuschnitts bewegen lässt. Jedenfalls ist mehr Schröder drin als Merkel, mehr rheinischer Kapitalismus als neoliberaler Zeitgeist. So einfach kann auch diese Koalition sich nicht aus der Pfadabhängigkeit von Politik in einer komplexen Gesellschaft und einem gewachsenen politischen System lösen. Sie bewegt sich in der Kontinuität des allgemeinen Sozialdemokratismus, auch wenn Globalisierung, Demographie, Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche und Haushalt immer neue Anpassungsreaktionen erzwingen. Die vereinbarte einvernehmliche Besetzung von Beratungsgremien eröffnet Chancen für die Bearbeitung unerledigter Großprojekte nach schröderschem Muster. Der Weg für die Rürupp-Herzog-Kommission ist frei.

Das Personal ist nicht schlechter als bei Rot-Grün, aber auch kaum besser. Demokratie lebt vom Wechsel. Dass der Souverän und die politische Klasse sich ihrer größten Talente auf der Höhe von deren Schaffenskraft entledigt haben, verweist zumindest auf einen gewissen Kleingeist mancher Akteure, wenn nicht auf Konstruktionsmängel des politischen Systems. Schröder und Fischer gehen, Wieczorek-Zeul, Zypries und Ulla Schmidt bleiben. Und Protagonisten der Ära Kohl kehren wieder. Der Fortschritt schlägt eigenartige Kapriolen. Die religiöse Formel in den Eiden der Ministerriege (Ausnahme Zypries) und der erflehte Segen Gottes für ihr profanes Tun zeugen außerdem nicht unbedingt von Selbstvertrauen, ja nähren weitere Zweifel an ihrer republikanischen Gesinnung. Bleibt die Causa Merkel. Sie ist Kanzlerin einer Koalition, die sie – im Gegensatz zu Schröder – nie gewollt hat. Und gleichzeitig Protagonistin eines abgewählten Politikkonzeptes, das sie als CDU-Vorsitzende immer noch vertritt. Bis zum Amtsantritt fehlte jedes signifikante Indiz für den konzeptionellen Fundus, die strategische ebenso wie die Moderationsfähigkeit, den Blick für gesellschaftliche Mentalitäten ebenso wie für die Geschichte der Republik, um auch nur umreißen zu können, was diese Koalition braucht. Die vorgebliche naturwissenschaftliche Nüchternheit und Logik reicht nur zu einem mechanistischen Weltbild und instrumentell verkürzter Vernunft. Wir kennen sie bisher ohne substanzielle Orientierung, mit semiautoritären Anklängen (Durchregieren, Politik aus einem Guss), Neigungen zur Dogmatisierung von Details und ideologisiertem Pragmatismus, ohne Charisma, ohne rhetorisches Talent, dafür zu ungelenken Formeln begabt. Und mit auf persönliche Interessendurchsetzung geeichtem Machtinstinkt. Die Eigenschaften, die ihr positiv angerechnet werden, wurden in der innerparteilichen Schule von Kabalen und Intrigen geschult, nicht in der lagerübergreifenden Verhandlungsdemokratie. Diese Regierung startet unter einer Führung mit ungewissem Potenzial und unklarem Profil. Die Kanzlerin hat sich eine gewaltige Bringschuld aufgeladen. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.

Von Sternstunden politischer Weisheit zeugt das alles nicht. Die Regierung verfügt über hinreichende, aber nicht überbordende Legitimität. Zusammengehalten wird sie vom persönlichen Ehrgeiz der Kanzlerin und dem Regierungswillen beider Parteien. Programme wurden abgeglichen, der Parteienstreit eingehegt, aber noch keine Identität ausgebildet. Nur mühsam findet die Koalition zu einer eigenen Sprache, noch fahndet sie nach genuinen Sprechern. Doch werden wir selbst von Merkel noch lieber regiert als von Berlusconi, Bush oder Schüssel. Überhaupt wird nach globalem Maßstab weiterhin gut regiert werden hierzulande. Profil wird diese Regierung wie die Vorgängerin in unvorhersehbaren Ereignissen gewinnen, in denen sie Reaktionsgeschwindigkeit und Krisenfestigkeit beweisen muss. Und auch diese Regierung wird die begrenzte Reichweite staatlichen Handelns gegenüber einer ausfransenden Gesellschaft entdecken. Noch ist offen, ob der großen Koalition das Regieren leichter fällt oder ob sie neue Widerstände hervorruft und die Unregierbarkeit fördert. Die Zivilgesellschaft könnte sich gegenüber den Zumutungen der Politik auf eigene Stärken besinnen, das linke Lager dabei gar Profil entwickeln. Der Wähler hat nicht nur die politische Klasse und ihre Parteienkonfiguration durcheinander gewirbelt, sondern auch die vertrauten Koordinaten strategischer Planung und empirisch fundierter Prognostik. Rot-Grün hatte 15 Jahre Vorlauf und war kalkulierbar. Das ist diese Koalition so nicht. Ihr experimenteller Charakter übertrifft den von Rot-Grün. Deshalb eignet sie sich offenbar besonders als Projektionsfläche für dies und das. Die Spekulation treibt Blüten, Prognosen sind Gesellschaftsspiel auf Stehempfängen. Ein gelassenes »Warten wir es ab« hält der Berliner Medienzirkus nicht aus. Dabei wird ein begründetes vorläufiges Urteil erst zu fällen sein, wenn übers Jahr die Haushaltsdaten und die Arbeitslosenzahlen vorliegen und man ermessen kann, was von der ersten Regierungserklärung geblieben ist.

Dass diese große Koalition so wie die erste neue Kräftekonstellationen provozieren wird, steht außer Frage, bleibt aber vorerst unscharf. In der politischen Sphäre verblasst die schwarz-gelbe Perspektive. In der Wirtschaft und in der ökonomischen Wissenschaft ist die lange Welle des Neoliberalismus noch nicht verebbt, auch nicht in den Medien. Doch kündigen sich erste Absetzbewegungen an. Kanzlersturz und Kanzlerinnenkür sind durch. Was nun? Fortsetzung der Merkelmania? Die Oppositionsrolle übernehmen? Oder gar konstruktiv-kritische Begleitung? Auch die Wirtschaft schwankt zwischen Zuspruch, Ablehnung und Abwarten. Jedenfalls beflügelt die neue Konstellation das Geraune über gesellschaftliche Verantwortung. Die Tarifparteien könnten zu neuer Kooperation finden. Deutlicher zeichnen sich Verwerfungen im politischen Raum ab. Der Bundestag wird in einem Maß zum Regierungsparlament wie lange nicht. Dass nur noch eine Parteivorsitzende und ausgerechnet als Kanzlerin in der Regierung sitzt, könnte zentrifugale Tendenzen bestärken. Doch ist schon Rot-Grün mit der Trennung von Regierungs- und Parteiämtern gut gefahren. In einer komplexen Welt ist diese Differenzierung die wahrscheinlichere Tendenz. Sie dürfte auch die Union erfassen. Das Verhältnis von Binnenkommunikation des politischen Systems und der Außendarstellung verändert sich. Jetzt ist die große Mehrheit der politischen Klasse in einen gemeinsamen Prozess der Binnenverständigung einbezogen und einem umfassenden Management der Außenkommunikation unterworfen. Die Politik kann damit mehr Macht über die Problemdefinitionen gewinnen und den so genannten Problemlösungen mehr Autorität verleihen. Sie erhält mehr Gewalt über den gesellschaftlichen Diskurs, aber sie kann auch die notorischen Selbsttäuschungen des Politischen potenzieren.

Zweierlei leistet diese Koalition bereits. Sprachliche Abrüstung zwischen den vormaligen Protagonisten der Parteienkonkurrenz. Und mehr Souveränität gegenüber Lobbyisten. Struck tätschelt öffentlich Kauder vor Unternehmern, denen plötzlich der Widerpart fehlt. Und Steinbrück faucht mit seltener Aggressivität einen konsternierten Hundt an. Die Reden zur Amtsübergabe haben erstmals so etwas wie einen großkoalitionären Jargon hörbar werden lassen, bei Schily und Schäuble besonders, aber auch – selbst da – im Kanzleramt. Damit fängt es überhaupt an. Denn ein Sinn dieser Koalition könnte sein, die Politik als Mitspieler in der globalen Systemkonkurrenz von Politik, Ökonomie und Medien zu stärken, in der Emanzipation der politischen Klasse von ökonomischem Druck. Personal und Vertrag der Koalition schließen eine souveränere Selbstbehauptung der Politik nicht aus. Das könnte sowohl bei der gesellschaftlichen Dynamisierung in der kapitalistischen Globalisierung als auch beim Schutz vor ihren Folgen weiterhelfen. Warten wir also die hundert Tage ab.