Ernst Köhler
Auf drei Ebenen wird im
Folgenden versucht, den Zerrissenheiten des Kosovo nachzugehen. Auch den
UN-Diplomaten schwant, dass das UNMIK-Protektorat mehr und mehr in eine Art
Nachfolgerolle der Fremdherrschaft zu geraten droht. Eine Bürgerinitiative
gewinnt an Bedeutung, die die kolonialen Elemente anprangert. Für die
sicherheitspolitischen Routinen westlicher Berichterstatter gibt es hingegen
immer dieselben Bausteine und Misstrauen für neue Erscheinungen: Was, wenn das
»wirkliche Problem« etwa die hohe Arbeitslosigkeit und nicht die ethnische
Differenz ist?
Bereits im August letzten
Jahres hatte der norwegische Diplomat Kai Eide im Auftrag Kofi Annans einen
viel beachteten Bericht über die Lage im Kosovo vorgelegt. Unter dem Eindruck
der schweren Übergriffe im März des Jahres hatte er davor gewarnt, die Verhandlungen
über den künftigen »Status« des Landes noch weiter zu verzögern. Im Klartext:
Die Frage, ob das Kosovo ein unabhängiger Staat sein wird, wie es die albanische
Mehrheit will, oder aber als autonome Provinz bei Serbien-Montenegro bleibt,
dürfe nicht länger vertagt werden. Die »Standards« waren soeben in den
antiserbischen Unruhen massiv verletzt worden – dennoch sollten sie jetzt auf
einmal nicht mehr als unverzichtbare Vorleistung gelten, als unabdingbare
Voraussetzung für die Eröffnung des »Status-Prozesses«. Die explosive Situation
im Land hatte das Etappenmodell der UNMIK-Verwaltung – samt seinen
erzieherischen Aspekten – über den Haufen geworfen. Das Papier des
Sonderbeauftragten verlangte eine Korrektur der offenkundig illusionären, jetzt
schlagartig desavouierten Reihenfolge. Nicht mehr zuerst Demokratie,
Rechtsstaat und Marktwirtschaft und erst dann das heikle Thema der
Staatenbildung, sondern beides zugleich, beides parallel auf die Tagesordnung.
Insofern handelt es sich um ein Dokument der politischen Ernüchterung, des
diplomatischen Realismus, der ja nicht selten auch ein Moment zynischer
Beweglichkeit enthält.
Anfang Oktober hat Kai Eide
Kofi Annan jetzt einen zweiten Bericht überreicht. Die Aufgabe lautete zwar
immer noch: Zu prüfen, ob das Kosovo im Innern denn inzwischen überhaupt reif,
überhaupt entwickelt genug sei für die schwierige, zutiefst kontroverse Entscheidung
über seine staatliche oder staatsrechtliche Zukunft. Aber kaum jemand erwartete
im Ernst von diesem kühlen außenpolitischen Kopf, dass sein Urteil nun unvermittelt
negativ ausfalle. Und so nimmt sich die neue Diagnose (ein internes Papier,
nicht im Internet) denn auch als eine fast schon virtuose Gratwanderung aus.
Keine Schönfärberei, die schwerwiegenden Defizite im Aufbau funktionstüchtiger
demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen werden alle beim Namen
genannt. Der nach wie vor prekären, nach allen liberalen oder gar
menschenrechtlichen Maßstäben unhaltbaren Lage der Minderheiten im Kosovo räumt
dieser schonungslose Bericht einen herausragenden Platz ein. Man gewinnt den
Eindruck, dass es dem Text angesichts dieses Befundes nicht leicht fällt, den
alten Vorrang der »Standards« vor dem »Status« zu relativieren – im Interesse
einer politischen Dynamik, die das isolierte und pauperisierte Land zu Recht
erwarte und die keinesfalls erneut abgeblockt werden dürfe. Die Verfasser geben
sich jedenfalls große Mühe damit, diese Akzentverschiebung zu rechtfertigen –
von den Rechten der Minderheiten hin zur Beendigung des unerträglichen und objektiv
schädigenden Schwebezustandes, in dem sich das Land seit sechs Jahren befindet.
Ungeachtet seines Ernstes
und des überall im Text spürbaren Ringens um eine ungeschminkte, aber darum
noch nicht pessimistische oder lähmende Bilanz ist der Bericht enttäuschend. Er
ist zu sehr Produkt der real existierenden Diplomatie, als dass er die reale
Befindlichkeit des Kosovo und seiner Bevölkerungsgruppen ganz erfassen könnte.
Es sei dies hier in zwei Punkten verdeutlicht. Der Bericht spürt den Legitimationszerfall
der Vereinten Nationen im Lande – es ist auch einigermaßen schwer, ihn nicht zu
spüren –, aber er vermag ihn nicht auszuloten. Der Bericht schildert die Entrechtung
der kosovarischen Serben, aber er blendet den politischen und zeitgeschichtlichen
Kontext dieser faktisch unbestreitbaren Fehlentwicklung weitgehend aus. Zum ersten
Punkt: Kai Eide scheint nicht ernsthaft in Betracht ziehen zu wollen, dass die
Zeit eines Protektorats im Kosovo überhaupt abgelaufen sein könnte – jeder Form
von internationaler Präsenz im Lande, die noch mit politischer Verfügungsgewalt
verbunden wäre, also mit Herrschaft. Wie der junge Verwaltungschef des lokalen
Gerichts von Malisevo dem Besucher im Gespräch darlegt, rechnen Öffentlichkeit
und Fachwelt im Kosovo fest mit der Übergabe von Justiz und Polizei an neu gebildete
kosovarische Ministerien noch in diesem Jahr. Kai Eide glaubt hingegen, vor
einem Transfer der Macht in diesem Kernbereich staatlicher Sanktionsgewalt zu
diesem Zeitpunkt warnen zu müssen. Das Risiko erscheint ihm angesichts der
strukturellen Mängel der Polizei und der Justiz vor Ort sehr groß. Aber wie
groß wäre das Risiko einer weiteren Verweigerung dieser Machtkompetenzen?
Direkt instinktlos und sogar provokativ dürfte der Vorschlag wirken, im Kosovo
der demnächst abziehenden UN eine Art EU-Gouverneur zu etablieren – keine Kopie
des »High Representative« in Bosnien-Herzegovina zwar, aber doch zumindest im
sensiblen Bereich der interethnischen Beziehungen mit »Bonn power« ausgestattet
(Interventionsrechten, wie sie dem OHR 1997 in Bonn zugestanden worden waren).
»Wir brauchen eine echte Assistenz«, so im Gespräch Bujar Bukoshi, der frühere
Exil-Ministerpräsident des Kosovo und heute ein geradezu rigoroser Kritiker
seines Landes, nachhaltige Hilfestellung also – durchaus im Land, nicht
Fremdbestimmung, nicht Kontrolle von außen. Zum zweiten Punkt: Der Bericht Kai
Eides sieht nicht oder will nicht sehen, dass die Serben im Kosovo nicht
einfach eine Minderheit unter Minderheiten sind, sondern eine entmachtete,
deklassierte Herrenschicht. Nicht alle waren Herren – die Masse der serbischen
Bauern ist denn auch im Lande geblieben, nach 1999 und auch nach
2004.Verschwunden sind aber die Serben in den Städten – verschwunden zusammen
mit dem serbischen Staat, mit dem sie auf vielfältige Weise verbunden waren.
Keiner dieser Unterscheidungen, die für ein Verständnis der Lage der kosovarischen
Serben wesentlich sind, findet sich bei Eide. Sein an die albanische Mehrheit gerichteter
Appell zum Ausgleich, zur Versöhnung muss so phrasenhaft bleiben. Die moralisierende
Rhetorik kann auch nicht über eine klaffende Leerstelle in diesem Text hinwegtäuschen:
Mitrovica, Nord-Mitrovica, wo Belgrad bis heute das Sagen hat, bleibt
ausgespart. Nur von serbischen »Parallelstrukturen« ist allgemein und aseptisch
die Rede.
Wer den Kosovo-Albanern
Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, hat immer ihre Angst vor einer
Rückkehr des 1999 schmählich verjagten serbischen Staates mit seinen Soldaten
und Polizisten berücksichtigt. Und womöglich sogar noch für die unverzeihlichen
Gewaltakte gegen die im Lande verbliebenen Serben im März 2004 in Anschlag gebracht.
Aber da stimmte es schon nicht mehr. Die Wut richtete sich damals bereits gegen
das Protektorat und die UNMiK. Und nur weil es ein Mob war, der sich da zusammenfand
– feige, wie bislang noch jeder Mob in der Weltgeschichte –, griff er die Macht
nicht direkt, nicht frontal an, sondern kühlte sein Mütchen an den Wehrlosen.
Und inzwischen stimmt es schon überhaupt nicht mehr. Wer heute durch das Kosovo
reist, merkt überall in seinen Kontakten, dass die alte Angst vor Serbien das
Denken und Empfinden der Menschen nicht mehr beherrscht. Dieser Bann ist von
dem Land gewichen. Nach sechs Jahren internationaler Verwaltung macht sich hier
jene normative Kraft des Faktischen geltend, wie sie am schärfsten vielleicht
Zoran Djindjic kurz vor seiner Ermordung auf den Punkt gebracht hat – aus der
Sicht des leitenden serbischen Politikers: freimütig, provokativ, aber auch
bitter und desillusioniert. Serbien und sein Hoheitsanspruch über die Provinz –
dieses ganze Brimborium von der »Souveränität« des Staates und der
Unverletztbarkeit seiner Grenzen, wie es jetzt wieder Vojislav Kostunica vor
dem UN-Sicherheitsrat abgezogen hat – ist nur noch ein Alptraum von gestern.
Vergessen ist nichts. Die Vermissten des Krieges sind größtenteils noch immer
vermisst. Die Leichen aus den Massengräbern in Serbien treffen nur in kleinen
Gruppen hier ein. Geschichte – die jüngste, noch gar nicht vernarbte, und die Zeitgeschichte
im Großen – ist hier auf vitale Weise präsent, auch das eine Linie der
Entfremdung gegenüber den »Internationalen« und ihrer typischen
Verständnislosigkeit für dieses lange Gedächtnis. Und eine Beruhigung, eine
Besänftigung des politischen Klimas bedeutet das Schwinden des unmittelbaren
Bedrohungsgefühls auch nicht unbedingt. Aber im Zentrum aller politischen
Sensibilität steht heute im Kosovo doch nicht mehr die alte Gewalt, der hundertjährige
Machtmissbrauch Serbiens, sondern die noch ganz frische Fehlleistung der Vereinten
Nationen. Auch das ist noch zu schwach, zu vage formuliert: Im Mittelpunkt des
politischen Denkens steht heute das Mandat der UNMiK – seine unbegreifliche
zeitliche Unbegrenztheit, seine bloß formelle, rhetorische Verpflichtung auf
Demokratie, seine Legitimation überhaupt.
Das Büro ist spartanisch,
aber ein Stuhl wird doch gefunden. Albin Kurti, groß, schlank, ernst, ist 30
Jahre alt. 1997 war er einer der Führer der albanischen Studenten im Kampf um
die Chance auf eine Hochschulausbildung. Anschließend fungierte er als Sprecher
von Adem Demaci in der politischen Leitung der UCK, 1999–2001 schließlich saß
er als politischer Gefangener in serbischen Gefängnissen – zuerst im Kosovo, wo
er auch gefoltert worden ist, später in Südserbien. Heute ist er der Sprecher
einer offenbar an Einfluss gewinnenden außerparlamentarischen Bewegung für ein
freies demokratisches Kosovo. »Unsere politischen Parteien stagnieren oder
schrumpfen, auch ›Ora‹ (Stunde), die nichts als ein Wahlverein für Veton Surroi
persönlich war und inzwischen im Lande auch gar nicht mehr in Erscheinung
tritt. Sie alle haben die Verbindung zur jungen Generation verloren, die bei
uns bekanntlich sehr groß ist. Nur wir wachsen.«
Ganz neu ist die
Bürgerinitiative nicht mehr, aber während sie sich Ende der Neunzigerjahre im
Wesentlichen auf ein einziges Thema beschränkt hatte, die politischen Gefangenen,
setzt sie sich seit 2003 für die Entfaltung einer »pulsierenden zivilen
Gesellschaft in Kosova« ein – so in der Plattform des »Kosova Action Network«
im Internet nachzulesen, einem Bekenntnis zur liberalen Demokratie westlicher
Prägung. Nach Kurti gibt gegenwärtig 5000 Mitglieder – es sind jedenfalls
genug, um auf tausend Mauern im ganzen Land die aktuelle Kernparole der Bewegung
zu sprühen: »Jo Negociata – Vetevendosje!« (»Keine Verhandlungen –
Selbstbestimmung!«) Am liebsten in Sichtweite der UNMiK-Instanzen, die man auch
mit anderen gewaltlosen Aktionen aus dem Arsenal der Studentenbewegung
provoziert, was schon zu Verhaftungen und sogar zu Knüppelaktionen
internationaler Sicherheitskräfte geführt hat. Sogar die KFOR beteiligt sich
gelegentlich an der Unterdrückung solcher Proteste, wie der Besucher später im
Camp der deutschen Truppen in Prizren erfährt. Man scheint die revoltierenden
jungen Leute jedenfalls ernst zu nehmen.
Für Albin Kurti sind das
»kolonialistische« Methoden – ist überhaupt die internationale Verwaltung samt
den von ihr abhängigen kosovarischen Institutionen ein von Grund auf
»undemokratisches« Regime. Doppelt undemokratisch oder besser antidemokratisch
– seiner Funktion nach, die in Fremdherrschaft, teilweise indirekter
Fremdherrschaft, bestehe, und auch seinem Aufbau nach, der strikt
»hierarchisch« sei. »Sie müssen nur einmal im Innern einer dieser Machtzentralen
gewesen sein: endlose Flure, auf denen energischen Schrittes irgendwelche Leute
hin- und herlaufen – mit gewichtiger Miene und Aktentasche, wie bei Kafka.« Im
Feuer seiner Kritik zitiert Kurti sogar Der Kolonisator und der Kolonisierte,
das klassische Werk des tunesischen Soziologen Albert Memmi vom Ende der
Fünfzigerjahre. Wenn man es heute wiederliest, vergeht einem freilich das
Spotten; denn diese luzide Analyse des kolonialen Herrschaftsnexus fällt auch
für den Unterdrückten sehr schmerzlich aus. Auch der Kolonialisierte und
überhaupt jeder Unterworfene ist danach schwer deformiert. Auch noch im Moment
der Auflehnung. Wer sich auf den gnadenlosen Text beruft, kann kaum ein
Populist sein. Ist es tatsächlich nur ein Feindbild, das dieser junge und
bereits hart geprüfte Gerechte hier konstruiert?
Shkelzen Maliqi, der
international wohl respektierteste unter den Intellektuellen Prishtinas,
scheint es so zu sehen: »Warum machen sie jemand zum Feind, der sich doch bereits
anschickt abzuziehen?« Für Maliqi ist der Gedanke, dass man seine Freiheit,
seine Würde, seine Existenz nicht zum Verhandlungsgegenstand machen könne,
keine Politik, sondern politischer Moralismus. Man gewinnt in diesem spannungsgeladenen
Herbst im Kosovo aber den Eindruck, dass viele es hier anders empfinden. Über
Albin Kurti wird mit Achtung gesprochen – manchmal auch mit einem etwas verlegenen
Lächeln. Er ist eine öffentliche Figur, die ganz offenkundig als weniger verbraucht,
weniger vulgär, weniger schillernd wahrgenommen wird als andere politische
Führer, denen man ihre politischen Verdienste nicht abspricht, die aber doch
große, abgehoben agierende Bosse bleiben. Auch ihren aufwendigen Lebensstil
lastet man ihnen an und fragt sich, woher sie die Mittel dazu haben.
Wir sind besorgt. Unsere
Artikel lauten »Neue Unordnung im Balkan?« oder so ähnlich. Wo wird die jetzt
angestoßene oder vielmehr endlich zugelassene politische Bewegung enden? Die
Fragen drängen sich auf. Aber sie haben auch ihren Preis. Sie tendieren dazu,
sich zu einer Sicht zusammenzufügen. Und dann fahren wir womöglich im Kosovo
herum und klopfen unsere Beobachtungen auf ihre Vieldeutigkeit, auf eine
versteckte Abgründigkeit ab. Wir laufen Gefahr, uns in sicherheitspolitische Seismographen
zu verwandeln. Und dann ist es aus mit unseren Texten. Der Preis für unser gesteigertes
hochpolitisches Verantwortungsbewusstsein, für unsere staatsmännische Alarmiertheit
sind unsere Texte. Es schleicht sich Misstrauen zwischen die Zeilen, wenn nicht
gar eine peinliche Geringschätzung für unsere Gesprächspartner vor Ort. Wörter
wie »angeblich« oder »vermeintlich« stellen sich bei jeder Gelegenheit ein und
verhunzen unseren Stil. Besonders wenn uns jemand sagt, er sei für Demokratie.
Oder gar: Er sei für gewaltlosen Ungehorsam. Der ungläubige Thomas war schon
immer ein inferiorer Schreiber. Wenn die ganze Welt langsam suspekt wird,
verdorrt unvermeidlich die Feder.
Vor allem aber droht über
diesem jetzt wieder neu aufgebotenen Balkandiskurs eine elementare
journalistische Frage auf der Strecke zu bleiben: Wie macht die Gesellschaft im
Kosovo sich selber zum Thema? Oder hat sie etwa damit aufgehört? Haben die
Menschen im Kosovo das Nachdenken, das Reden über sich selbst und ihr Land gestoppt?
Und wären so – kollektiv, geschlossen – zu jenem hart gepanzerten, unbekannten
Stabilitätsrisiko mutiert, das wir so scharfsichtig auszukundschaften suchen?
Wenn es sich schon für den Westen wieder einmal gefährlich verdunkelt – welches
Bild hat das Kosovo von sich selbst? Drei Varianten, drei Thesen der
Selbstreflexion begegnen dem Besucher hier auf Schritt und Tritt: Das
eigentliche Problem, das parasitäre System, die verrohte
Nachkriegsgesellschaft.
Er ist Mitte 20 und arbeitet als Kellner in einem
Restaurant in Prishtina – für 200 Euro im Monat, was hier nicht schlecht ist.
Er braucht das Geld auch, er muss für seine Frau und eine kleine Tochter
aufkommen. Einen kleinen Lebensmittelladen haben sie aufgegeben, als das Kind
kam. Sein Ökonomie-Studium an der Universität Prishtina hat er aus finanziellen
Gründen abbrechen müssen. Er war eine Zeit lang als Flüchtling in Deutschland
und spricht etwas Deutsch. Ins Gespräch kommen wir, als er dem Gast das hier
gekaufte Handy und die komplizierten Netzverhältnisse in der Region erläutert.
Aber einmal geht er aus sich heraus. Ob er Kontakt zu Serben habe? Schon immer,
das sei für ihn kein Problem. Ob er für den Besucher vielleicht ein Gespräch zu
einem Serben vermitteln könne – zu einem »ganz normalen« am besten? Am Abend,
nach der Arbeit im Restaurant, gehen wir gemeinsam zu einer Station der KPS
(Kosova Police Service), wo auch serbische Beamte arbeiten. Der Kellner
entfaltet seine ganze diplomatische Kunst, und ein junger serbischer Polizist
lässt sich auch tatsächlich zu einem kurzen Gespräch überreden. Er bleibt aber
dabei stehen. Der Journalist fragt im Sitzen, der Kellner übersetzt im Stehen,
der Uniformierte antwortet im Stehen. Er sagt, er habe keine Probleme am
Arbeitsplatz. Er fühle sich wohl hier, die albanischen Kollegen akzeptieren
ihn. Auf die Frage, ob er denn auch hierbleibe, wenn das Land unabhängig werde,
antwortet er langsam, das komme ganz darauf an. Er wolle erst einmal abwarten,
wie sich die Dinge entwickelten. Er habe schließlich eine Familie hier. Dann
bricht das Gespräch auch schon ab. So geht es nicht, und der findige Journalist
fragt sich, wann er denn mit der Stümperei aufhören will. Bei einem Glas Wein
anschließend kommt der junge Kellner zur Sache: »Wir haben hier ein wirkliches
Problem. Unten drunter. Das ist die Arbeit. Wir haben keine Arbeit. Serben
nicht, Albaner nicht. Es ist für alle gleich.« Wirklich ist hier komparativisch
gemeint: wirklicher als das ganze ethnische Gegeneinander.
Das Café »Tirana« im Zentrum
von Prishtina hat was. Das Essen ist gut, der Wein ist gut, der Grappa
exzellent. An einer Wand hängen vergrößerte alte Fotos: elegant und auch ein
wenig nostalgisch anmutende Stadtansichten von Tirana im frühen 20. Jahrhundert.
Aber das Besondere sind die Gäste. Es sind vor allem Gebildete der älteren
Generation, die sich hier allabendlich zum Plaudern treffen. Sie kennen sich
alle, so groß ist die Stadt nicht. Auch der ein oder andere Serbe verkehrt
hier. Später am Abend verwischt und verliert sich dann wohl die klare
Rollenverteilung zwischen dem Inhaber, dem ebenfalls hoch qualifizierten
Kellner und den Gästen, und alle plaudern querbeet durcheinander. Einer der
Herren, Ende 50 vielleicht, ist erst vor ein paar Monaten aus Deutschland
zurückgekehrt. Sein Deutsch ist makellos, akzentfrei. Er ist Diplomingenieur
und hat lange Jahre in deutschen Kraftwerken gearbeitet. Kürzlich habe er sich
von einigen Kollegen den Kraftwerk-Komplex von Obilic bei Prishtina zeigen
lassen. In einigen für ihre technische Funktionstüchtigkeit entscheidenden
Teilen sei die Anlage seit Anfang der Sechzigerjahre nicht mehr gewartet
worden. Sie befinde sich überhaupt in einem katastrophalen und schon unter dem
Gesichtspunkt der Sicherheit absolut unhaltbaren Zustand. Das bestritten auch
die verantwortlichen Ingenieure dort keineswegs. Wo denn, wenn es sich so
verhalte, die Milliarde Euro geblieben sei, die unter dem UN-Protektorat dort
hineingesteckt worden sei? Die Antwort ist nicht überraschend: Sie sei zum
guten Teil in allen möglichen Taschen verschwunden. Und durchaus nicht nur in
kosovo-albanischen, sondern auch in internationalen. Es ist das Bild von einem
unkontrollierten Filz, von einer die kosovarischen Mächtigen und die
ausländischen Übermächtigen komplizenhaft miteinander verbindenden, geradezu
systemischen Korruption, das der Ingenieur zeichnet. Wir treffen auch im Rahmen
der UNMiK auf Leute, die es ähnlich sehen. Aber es sind ebenfalls Techniker.
Als wir die Sicht unseres Ingenieurs dann auch Botschafter Joachim Rücker
vortragen, dem neuen Chef des EU-Pillars (Wirtschaftsabteilung der UNMiK in
EU-Verantwortung), weist er sie zurück. Berücksichtige man, dass das Geld auf
drei Bereiche habe verteilt werden müssen – auf den Abbau der Braunkohle, auf
die Kraftwerke selbst, auf das Stromnetz – alle drei seit langem verwahrlost,
sei es noch viel zu wenig gewesen. Für eine Korruption großen Stils jedenfalls
habe es da gar nicht den Raum gegeben. Wie dem auch sei: Jemanden wie den
Kraftwerk-Experten im »Tirana« wird man mit diesem Argument schwerlich überzeugen
können. Als wir ihn fragen, ob er denn bereit sei, einem unabhängigen Kosovo
seine fachliche Kompetenz zur Verfügung zu stellen, winkt er stumm und traurig
ab.
Wir sitzen an diesem
sommerlich warmen Oktobertag auf der Terrasse – bei frischen Nüssen und Trauben
aus Suva Reka, wahrscheinlich den besten, süßesten des Landes. Die junge Frau,
Anfang 20, ist in Deutschland aufgewachsen und studiert gegenwärtig Filmregie
an der Universität Prishtina. Sie steht bereits kurz vor ihrem Abschluss. Und
wenn sie zurückblicke auf ihr bisheriges Studium? »Die Dozenten wissen nicht,
wovon sie reden.« Das ist wieder eines dieser vernichtenden Urteile über das Niveau
dieser Universität, wie man sie hier öfters zu hören bekommt, und nicht nur von
Internationalen. Es ist die noch keineswegs abgetragene Altlast der »zehn
verlorenen Jahre«, also die Zeit des von Milosevic oktroyierten
Apartheid-Systems mit seinen Schulen und seiner Universität im albanischen
Untergrund – politisch wie sozial eine bewundernswürdige Leistung, aber dennoch
nur eine Notlösung mit einschneidenden Auswirkungen auf die Qualifikation oder
Anschlussfähigkeit der Lehrenden. Dann verfügten die angehenden Filmemacher
hier auch über so gut wie keine Ressourcen. Ein, zwei, drei kleine Filme bringe
man vielleicht mit Glück noch zustande, aber spätestens dann stehe man vor dem
Nichts. Was die Kameras oder die Technik des Schneidens betreffe, sehe man sich
an die Journalisten der lokalen Fernsehanstalten verwiesen, mit denen man bestenfalls
durchwachsene Erfahrungen mache. Mal hülfen sie einem, mal nicht – je nach Lust
und Laune. »Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist eher die Ausnahme bei uns.«
Hinzu komme ein Trend und Druck in Richtung Produktion von Werbespots und
anderer leichter Ware. Wer sich dem aus inhaltlichen Gründen verweigere, habe
mit Gleichgültigkeit oder sogar höhnischem Spott zu rechnen und finde sich
schnell isoliert: »Wenn du dich zu Höherem berufen fühlst, dann mach mal
schön.«
Die Alltagserfahrung der
Rückkehrerin hat noch ganz andere Dimensionen. Das Kosovo ist ihr Land. Die
Unterstellung des Besuchers, sie interessiere sich vermutlich gar nicht so sehr
für das politische Drama des Landes, weist sie höflich zurück: »So lässt sich
das nicht sagen. Ich nehme durchaus teil an unserer politischen Zukunft. Aber
gleichzeitig fühle ich mich fremd hier.« Das Kosovo ist ihr Land, künftig vielleicht
ihr Staat, aber es ist nicht ihre Gesellschaft. Diese Zerrissenheit ist nicht
untypisch für das Land – auch wenn sie im gängigen Kosovo-Bild bei uns seltsamerweise
keine Rolle spielt. Es leben hier schließlich Zehntausende jüngerer Menschen,
die ihre Jugend, ihre »formativen Jahre«, im westlichen Ausland verbracht
haben. Vielleicht sollten wir uns einmal fragen, welches soziale Gewicht diese
massenhafte Heterogenität schon heute hier besitzt. »Die Frau wird hier
missachtet. Allein was Sie zu hören bekommen, wenn Sie hier die Hauptstraße
langgehen! Man muss hier lernen abzuschalten. Man trainiert so lange, bis man
es nicht mehr hört.«
Was sind das für Stimmen?
Gewiss subjektive. Man hätte mit ihnen zu debattieren: Wenn es unter den
arbeitsfähigen jungen Menschen im Kosovo gegenwärtig eine reale Arbeitslosigkeit
von wahrscheinlich an die 80 Prozent gibt, dann dürfte sie für die Angehörigen
der Minderheiten mit Sicherheit noch höher sein. Man könnte fragen, ob in dem
dunklen Bild eines ausbeuterischen, eines kriminellen Machtkartells – hermetisch
abgeschottet gegen jede demokratische Kontrolle von außen und von unten – nicht
ein Moment pessimistischer Verzeichnung, ein Stück Verschwörungstheorie stecke.
Und selbstverständlich müsste man noch anderen Frauen im Kosovo zuhören:
Frauen, die nicht anderswo in der Welt aufgewachsen sind, älteren Frauen auch,
Frauen aus der Provinz. Aber es sind aufrichtige Stimmen. Ohne Zweifel kommen
sie aus einer persönlichen Betroffenheit und gedanklichen Anstrengung. Sie
artikulieren eine tiefe, vielleicht verzweifelte Unzufriedenheit mit den
allgemeinen Zuständen im Land. Insofern kann man sie auch patriotisch nennen,
wenn man will. Und wenn man dabei nicht an irgendeinen engen, verbiesterten
Nationalismus denkt.