Peter Schyga

Linksnationalismus

Was sollte am »Linkspopulismus« ertragenswert sein?

 

 

Mit der Globalisierung wird ein zwischenzeitlicher Pakt in der sozialen Frage zusehends unterhöhlt: Nicht mehr Integration, sondern Exklusion kommt verstärkt auf die Agenda. Für viele Linke stellt sich heute die Verteidigung sozialer Gerechtigkeit als antiglobale Aufgabe im nationalen Rahmen. Auch die Linkspartei nimmt sich dieser Frage an. Unser Autor zeigt, dass sie mit der ganzen unbearbeiteten Macht ihrer Vergangenheit am Exklusionsprozess mitwirkt.

Der Staat ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen Arbeitsplätze wegnehmen.«(1) Dieser Kundgabe fürsorgestaatlicher Verpflichtung folgten aufgeregte und empörte Hinweise, Lafontaine habe sich der Nazisprache bedient. Der amtliche Nazibegriff lautete jedoch »fremdvölkische Arbeiter« – als fremdvölkisch qualifiziert zu werden, bedeutete den ersten Schritt zur Selektion. Das sagt Lafontaine eben nicht, sondern er benutzt den auch heute geläufigen Alltagsbegriff »fremd«.(2) Dies Reden zielt auf den Gewerkschaftler in der Mitte der Gesellschaft, der bei der Verteidigung seines Arbeitsplatzes die »zu vielen Ausländer in Deutschland« im Konfrontationsblick hat. Schon vor fünf Jahren hatte die Hans-Böckler-Stiftung erhebliches »fremdenfeindliches und rechtsextremes« Potenzial unter gewerkschaftlich organisierten Lohnarbeitern ausgemacht.(3) Lafontaine meint, wie und was er sagt: Fremd heißt nicht zugehörig. Punktum. Das bedeutet Ausgrenzung, Absonderung, Differenzierung nach Abstammung – völlig unerheblich wie definiert: national, regional, sprachlich, religiös oder kulturell, an Qualifikation gemessen oder an politischer Opportunität.

Was gibt es da zu deuteln? Woher die Narrenfreiheit, die dieser Organisation und Teilen ihrer Repräsentanten gewährt wird? Weil sie sich links nennt, und dies politische Lager prinzipiell immun sei gegen nationalistisches Gebrabbel? Gewiss, wir sind es nicht gewohnt, mit einem Nationalismus von links umzugehen, weil der in der Bundesrepublik wohl hier und da schwärte, Nation von dieser Seite aber nie zu einem innenpolitischen Kampfbegriff wurde. Das blieb der Rechten vorbehalten, die sich angesichts der ihr aufgezwungenen Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte schwer mit Nationalpflege tat. Jetzt eröffnet sich ein über einen Splitterparteistatus hinausgehendes Wahlangebot, das teilweise wahrgenommen wurde. Auf der ersten Pressekonferenz nach der Wahl erklärte Gregor Gysi, nachdrücklich und ungefragt, mit stolzgeschwellter Brust, dass es Verdienst seiner Partei sei, in weiten Teilen des Ostens die rechtsradikalen Parteien bei der Bundestagswahl marginalisiert zu haben. Mit Anbiederung an xenophobe Vorbehalte lassen sich Stimmen fangen. Das ist bekannt und wurde ohne Irrtumsrisiko auch von etlichen Parteienforschern vorhergesagt.(4) Dies festzustellen ist das eine, sich damit zu brüsten schon etwas anderes, beides als Normalität zu akzeptieren eigentlich unerträglich. Es ist ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik zu beobachten: Noch nie hat eine Organisation aus dem linken Spektrum offen um Zustimmung rechtsextremer WählerInnen geworben.

So liegt das Problem mit der Linkspartei weniger darin, dass sie sich zusammen mit SPD-Dissidenten und verstreuten, einem linken Etatismus frönenden, die DDR immer schon gar nicht so schlecht findenden Leuten aus dem Westen als Kümmererpartei gibt, sich der vom gesellschaftlichen Wandel Gebeutelten annimmt und ihnen Manna, gespeist aus dem »goldenen Zeitalter«, verspricht. So wird nur Enttäuschung produziert, fragwürdig genug, weil ungewiss ist, auf wen die zurückfallen wird. Das gesellschaftliche Problem, das diese Partei aufwirft, wiegt schwerer: Sie kompensiert diese fällige Desillusionierung mit einem durch Klassenkampfparolen garnierten Nationalismus, nutzt ihn als ideologisches Vehikel zur Gewinnung von Anhängern und Wählern und leistet damit Spaltung und Zersplitterung einer von erheblichen sozialen Verwerfungen bedrohten Gesellschaft Vorschub. Noch gelingt es in dieser Republik, gesellschaftliche Konflikte friedlich auszutragen. Ich halte das für ein hohes, erhaltenswertes Gut. In einer Situation, in der Kräfte innerhalb der Gesellschaft massiv an ihrer Spaltung und Zersplitterung durch Preisgabe des Sozialstaatsgebotes des Grundgesetzes und ideologische Breitseiten gegen Solidarität agieren, benötigt man keine populistischen Hilfstruppen, die diesen Trend noch verstärken.

Die Linksparteipolitik erklärt »Fremde« zum Status-quo-Risiko der Lohnabhängigen. Was soll Linksnationalismus sein? Allgemein, der Anspruch, nationale Bindungen mit Klasseninteressen zu identifizieren. Die Parole der »Einheit von nationaler und sozialer Befreiung« als wichtiges Instrument einer Politik der Linken ist nicht unbekannt. Heraus kommt das Eintreten für den deutschen Lohnabhängigen – nicht nur in den »national befreiten Zonen.« Bei den Hartz-IV-Aktionen im letzten Winter wurde der Anschluss der Rechtsradikalen noch als eher peinlich hingenommen – zumindest von vielen Teilnehmern. Martin Altmeyer hat in der Kommune 4/05 zu Recht auf den »system- und globalisierungskritischen Kampfbegriff erster Güte«, der im Schlagwort der »sozialen Kälte« stecke, hingewiesen, sich aber gleichzeitig erstaunt darüber gezeigt, dass die »traditionell internationalistisch eingestellte Linke« sich weigere, »ihre Lieblingsforderung nach sozialer Gerechtigkeit im globalen Maßstab zu buchstabieren«. Das mit der internationalistischen Linken ist so klar jedoch keineswegs. Internationalismus auf die Fahnen zu schreiben und zu praktizieren, ist nicht mehr so »einfach« wie vor dem Einreißen der Globalisierungsgrenzen 1989/90. Solidarität mit Opfern imperialer Politik und internationaler Konzerne zu demonstrieren, ist ein relativ wohlfeiles Unterfangen, solange diese nicht Ansprüche auf Teilhabe am gesellschaftlichen und natürlichen Reichtum von allen einfordern. Wahrlich keine neue Erkenntnis, aber angesichts der Internationalisierung der Arbeitsmärkte, Produktionsstätten und des uneingeschränkten Kapitalverkehrs massiv auf die politische Agenda gesetzt. Zwar erzeugt allein der Begriff »Menschenflut« für die Afrikaner, die im Maghreb vor dem gefährlichen Sprung nach Europa stehen, schon eine Abwehrhaltung, die nach einer Mauer verlangt, doch Tatsache ist: Sie sind da, sie wollen auf Tod und Teufel nach Europa. Das ist schon eine neue komplizierte Lage, auf die es Antworten zu finden gilt. Das allgegenwärtig vorhandene und drohende globale Marktdiktat erfordert dies.

In allen Ländern stehen damit, ob es einem gefällt oder nicht, nationale Selbstvergewisserungsprozesse auf der Tagesordnung, wie das zähe Ringen um die Gestaltung des neuen Europas zeigt. Erbe und Bürde von Vergangenheit fordern für Zukunftsentwürfe zur Debatte auf – überall. Eine Selbstdefinition von Gesellschaft dient dazu, ihrer Zerklüftung entgegenzuwirken und gleichzeitig bedrohlich Erscheinendes zu rationalisieren. Wie sehr dabei gerade Religion, andere Mythen und Nationalismen eine Rolle spielen, hat auch die jüngste Vergangenheit gezeigt. Während zu Zeiten von Reagan und Thatcher der Neoliberalismus mit bis dahin unbekanntem Furor die sozialen Gleichgewichte durcheinander wirbelte und dort eine aktive Belebung des im Dämmerzustand befindlichen Empire-Mythos bewerkstelligte, wirkte hier bis in die Gegenwart hinein ein evangelikar-patriotischer Weltmissionarismus als gesellschaftlicher Kitt. Dieser Kitt wirkt nur, wenn er »Andersartiges« abweist.(5) Die stochernde Suche nach einer »Leitkultur« von Teilen deutscher konservativer Eliten, vor kurzer Zeit verhandelt unter dem Stichwort »Schicksalsgemeinschaft«, ist vom Bemühen um die Schaffung einer neuen Identitätsbasis getrieben. Denn deutschnationale Tradition ist dank eines langen gesellschaftspolitischen Diskurses um Geschichte diskreditiert – allerdings, und das ist das einheitsdeutsche Paradoxon, nur im Westen.

In Deutschland hatte eine vaterlandsnationalistische Ideologie der Ausgrenzung seit der Reichsgründung für das Funktionieren der Gesellschaft eine zentrale Rolle gespielt. Sie verhüllte sich von der »Vaterlandspartei« über Ernst Jünger(6) bis zu den Nationalsozialisten in sozialromantischem Antikapitalismus deutschen Volkstums. Das Eigentümliche dieser Ideologie bestand darin, den Überflüssigen und Ausgegrenzten, die nicht durch Arbeit in der Sozialstruktur verortet waren, eine andere Identifikationsmöglichkeit anzubieten: deutsche Arbeit. Damit wurde alles, was nicht mit deutsch und nicht mit Arbeit verbunden wurde, als »Schmarotzer- und Parasitentum« ausgegrenzt. Volksgemeinschaft hieß das Zauberwort für diese Art sozialer Konstruktion von Gesellschaft. Die Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs mussten sich damit auseinander setzen.

Im Westen wurde die soziale Frage lange Zeit im keynesianischen Fordismus im Wesentlichen als ein Prozess von Integration begriffen. Die Volksgemeinschaftsideologie fand im Korporatismus, genannt rheinischer Kapitalismus, eine modifizierte, das heißt nicht totalitäre, durch Demokratisierungsprozesse eingedämmte Fortsetzung. Gleichwohl geriet dies Paktsystem zwischen Lohnarbeit und Kapital mit zunehmender Arbeitslosigkeit unter Druck, zeigte es sein Janusgesicht der huldvollen Umgarnung der Dazugehörigen bei sozialer, politischer, organisatorischer Ausgrenzung der Überflüssigen.(7) Durch die Verfrachtung nationaler Identitäten in die soziale Frage wird diese in den Termini von Inklusion und Exklusion aktuell und damit dringender denn je auf die Tagesordnung gestellt. Robert Castel hat es in seinem Opus Magnum unternommen zu zeigen, »dass das, was sich an der Peripherie der Sozialstruktur herauskristallisiert über die Vagabunden vor der industriellen Revolution, die ›Elenden‹ des 19. Jahrhunderts, die ›Ausgegrenzten‹ von heute, Teil einer globalen gesellschaftlichen Dynamik ist. Hierin liegt eine fundamentale Gegebenheit … Die soziale Frage stellt sich explizit an den Rändern des gesellschaftlichen Lebens, sie stellt gleichwohl auch die gesamte Gesellschaft in Frage.«(8) Waltraud Meints vom Hannah-Arendt-Zentrum der Universität Oldenburg stellte heraus, dass Castel mit dieser Feststellung an einen zentralen Gedanken von Hannah Arendt aus ihrem Imperialismusbuch anknüpft, in dem sie erkannt habe, »dass es die funktionale Irrelevanz, die Exklusion aus allen gesellschaftlichen Funktionssystemen ist, die die Menschen in den entmenschenden Status des ›Überflüssigseins‹ wirft … Dies ist die Situation, die wir heute erleben – nicht nur in den Peripherien, sondern auch in den Zentren des globalisierten Kapitalismus. Hannah Arendt hatte sie in ihrem Versuch, die totalitären Gefahren der modernen Gesellschaft zu begreifen, bereits klar vor Augen. Die Schattenwelt der Staatenlosen, der Flüchtlinge, der so genannten illegalen Migranten, aber auch der ›Arbeiter ohne Arbeit‹, der Dauerarbeitslosen, der so genannten Schwarzarbeiter, die keine Chance haben, ins legale System der Arbeit zu kommen – dieses alles kennzeichnet den globalen gesellschaftlichen Gewaltzusammenhang, den Arendt im Begriff der Überflüssigkeit umkreist.«(9)

Dass die Linkspartei an diesem Exklusionsprozess mitwerkelt, liegt nicht nur daran, dass »innerhalb der Linken diese Ausgrenzungsmentalität und damit ein rechtsradikales Potenzial virulent ist«, wie Oskar Negt meint,(10) sondern darüber hinaus wirkt in der elböstlichen Tradition ein niemals selbstkritischer Umgang mit eigener Vergangenheit konstitutiv. Im Osten galt totalitäre Herrschaftspolitik als »Links«. Im Westen wurde das Etikett gern aufgenommen, um Antikommunismus zu betreiben und die westdeutsche Linke zu diskreditieren. Man sollte heute angesichts einer aus DDR-Vergangenheit gespeisten starken Linksparteifraktion im Bundestag nicht übersehen, dass die westdeutschen Spaltungen der Linken eng mit der Frage einhergingen, »wie hältst du es mit der DDR«. Von Apologetik über butterweiche »ja, aber«-Kritik bis zur schroffen Ablehnung eines politischen und sozialen Gemeinwesens, das man begrifflich gar nicht richtig definieren konnte, verstand sich so manches als links. Eine mehr oder minder große Affinität zu den totalitären Systemen der Welt oder zu kommunistischen Visionen hatten bis auf einige undogmatische Zellen alle Linksorganisationen. Ihr politisches Scheitern ist auch Ausdruck der Tatsache, dass Einsichtsfähigkeit und Selbstkritik noch nicht ganz verschüttet waren.

Die DDR war eine unterdrückerische Diktatur, und es gibt keinen Grund von schonungsloser Kritik Abstand zu nehmen.(11) Dort wurde jede politische oder kulturelle Artikulation, die die sozialistische Selbstdefinition in Wort oder Tat in Frage stellte, unterdrückt. Eine in der Parteiorganisation seit langem übliche Praxis, die mit der Machtergreifung nach dem Krieg auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt wurde. Die Geschichte der kommunistischen Bewegungen, insbesondere in Deutschland, wo sich die KDP-SED als Musterschülerin der Bolschewiki selbst noch gegenüber Gorbatschow gerierte, ist ein einziges Drama der Abgrenzung, Ausgrenzung, Liquidation dessen, was als Feind – ganz im Sinne Carl Schmitts – im und außerhalb des Macht- und Einflussbereich geortet wurde. Die PDS hat sich dieser unseligen Tradition nicht gestellt.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt von gewachsener Ausgrenzungsmentalität, eine gesamte Mentalitätsgeschichte Die DDR war genauso ein von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs geschaffenes künstliches Gebilde wie die BRD – die Manifestation der deutschen Nation wurde durch die Alliierten gebrochen. Es entwickelten sich zwei unterschiedliche neue Nationalismen: Antikapitalistisch, antiimperialistisch und antifaschistisch getarnt wurde ein preußisch-deutschtümelnder DDR-Nationalismus konstruiert. Ein seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts antislawisch geschultes und indoktriniertes Volk, das gerade einen Vernichtungsfeldzug im Osten verloren hatte, sollte unter dem Diktat einer totalitären Partei- und Staatsführung mit Polen, Russen, Tschechen, Slowaken Brüderschaft trinken. Der Nationalsozialismus wurde in einem tiefen schwarzen Loch des Verdrängens und der kollektiven Widerstandslegende versenkt.(12) Während im Westen die durch Niederlage, Besatzung, Entnazifizierung verletzte Nationalseele mit materiellen Zuwendungen durch Marshallplan und Carepakete gestreichelt wurde, sie in der Wirtschaftswunderideologie eines Produktnationalismus (»Deutsche Wertarbeit«) seit den Fünfzigerjahren eine Kompensation erfuhr und sich ganz allmählich durch erheblichen Streit in Teilen der Gesellschaft das herausbilden konnte, was Habermas Verfassungspatriotismus genannt hatte, sich diese Teilnation zivilisierte, entwickelte sich in der DDR etwas anderes: Während Kulturgüter und -tugenden alter Bürgerlichkeit verkamen oder zerschlagen wurden, erlebte die preußisch-militaristisch-autoritäre Tradition unter politischer Führung der alten Weimarer KPD-Garde ihre Fortsetzung.(13) Der Stechschritt, die NVA-(Wehrmachts)Uniformen oder die Beibehaltung der von den Nazis bei der Gestapo eingeführten militärischen Dienstgrade bei der Polizei, die Militarisierung der Gesellschaft von den »Jungen Pionieren« bis zu den »Betriebskampfgruppen« sind mehr als nur bildhafte Belege für alltagsweltliche Disziplinierung der Gesellschaft. Ein durch den Verlust von Nation nach dem Krieg erstarkendes Regionalbewusstsein, Heimat- und Vereinspflege, grundsätzlich eine lebensweltlich notwendige Grundlage von Identitätsfindung und -bildung, wurde von der Staatsführung lange erbittert bekämpft, um dem Mythos vom ersten sozialistischen Land deutscher Nation organisatorisch nachzuhelfen. In der DDR konnte von den eingesperrten BürgerInnen der Umgang mit dem Fremden und den Fremden nie erlernt werden. Er wurde von der Staatsmacht denunziert und verfolgt – mit antifaschistischer, antiimperialistischer, neuvolkstumspflegender (»Bau auf, bau auf«-)Attitüde. Jeans nicht tragen zu dürfen oder Jimi Hendrix und Janis Joplin als Lotterjunkies des kulturzersetzenden Imperialismus zu brandmarken war Parteigebot und Staatsauftrag. Dem wurde deutsches Schlagerliedgut nicht nur wie bei uns gegenübergestellt, sondern als Monopol verordnet, Hunderte von Musikkapellen, die sich dem Beat widmeten, verboten.(14)

Auch dies gehört zur Mentalitätsgeschichte: Vor dem großen Bruder Sowjetunion musste man buckeln, doch die Besatzungssoldaten wurden privat als höchstens bemitleidenswert wahrgenommen. Der Pole galt als westlich verschobener Kulak. Deutsch-traditionale Slawophobie wurde nie Gegenstand kritischer gesellschaftlicher Debatte, sondern gelebt. Man war neidisch auf die Tschechoslowaken, weil diese Autos aus Blech bauten, die sogar in den Westen exportiert wurden, und man selbst einen ganzen Lebensabschnitt auf ein DDR-Plastikvehikel warten musste. Kompensiert wurde dieser Minderwertigkeitskomplex mit landsmannschaftlicher Überheblichkeit. Hier wird nicht übersehen, dass in dem System wenig widerspruchsfrei ablief, dass Kreise der Bevölkerung in der DDR etwa dem Prager Frühling und später der Solidarnosc-Bewegung mit Sympathie begegneten. Doch Resistenzmechanismen zur Kenntnis zu nehmen begründet keine Relativierung des Gesamturteils. KontraktarbeiterInnen aus Afrika oder Vietnam durften im deutschen Sozialismus arbeiten, aus den Wohnheimen kamen sie selten heraus. Antiimperialismus wurde »getrötet«, Befreiungsbewegungen der Dritten Welt als Manövriermasse im Machtpoker des Kalten Krieges gehandelt, Opposition gegen dieses Treiben verfolgt. Als einzige Grundlage einer konstruierten DDR-Identität blieb das Ressentiment gegen den Rest der Welt, das seit der Wende mit einem neuen Identitätsbastelbogen verwoben ist, dem Schmollwinkel des gefühlten Underdogs.(15) Ich bin mir nicht sicher, ob Jens Bisky solches meint, wenn er beschreibt: »Wer im Osten heranwächst, geht zur Jugendweihe, nicht zur Konfirmation oder Kommunion. In seiner Nachbarschaft leben deutlich weniger Ausländer als im Westen. Nach der Wende hat sich eine eigene ostdeutsche Identität herausgebildet, ein deutliches Bekenntnis nicht dazuzugehören, anders zu sein. Zu ihr bekennen sich seit Jahren unverändert mehr als 70 Prozent der Ostdeutschen.«(16) Richtig sieht er es wohl, wenn er »Ost« nicht als geografischen, sondern politischen Begriff meint, verstanden als ideelles Kunstprodukt des DDR-Erbes, das deshalb politisch wirken kann, weil es mit der PDS materialisiert wird.

Die PDS konnte im Westen nicht reüssieren, weil sie geprägt vom DDR/SED-Weltbild und -verständnis mit Ausnahme ihres Gurus Gysi oder einiger Wetterhähne wie Dieter Dehm ihren Ressentimentsozialismus nicht als nationale Aufgabe von Politik vermitteln konnte. Wirtschaftspolitisch plappern sie einen Diskurs vor sich her, der im Westen schon länger als drei Tage geführt wird, und der nur noch Traditionalisten mit ihrem Anführer Lafontaine hinter dem Ofen vorlockt. Das reichte, um gut organisierte Teile von ihnen zu gewinnen und Ressentiments zu verallgemeinern. Dafür braucht man eine Linkspartei nicht. Gewiss werden etliche junge Leute durch popfetzig-kritische und rebellische Widerstandsattitüden gegen etablierte Politik angezogen. Doch weder hat die Partei eine konkrete Utopie anzubieten, noch vermag sie produktive Beiträge zur Bewältigung anstehender politischer Aufgaben zu liefern. Stattdessen treibt sie mit protestummäntelter Volkstümelei verborgene Sehnsüchte der einheimischen Verwundeten der Globalisierung nach heimeliger nationaler Schrebergartenidylle in politisch gefährliche Gewässer.

1

Oskar Lafontaine am 14.6.05 auf einer Kundgebung in Chemnitz. In einem SZ-Interview vom 16.6.05 erklärte er zu seiner in den Neunzigerjahren formulierten Haltung zur Einschränkung des Asylrechts: »Ich habe für eine Änderung des Asylrechts und für die Begrenzung der Zuwanderer plädiert, weil ich die Arbeits- und Lebenswelt der Arbeitnehmer berücksichtige. Ein linker Politiker muss sich auf die Grundwerte Freiheit und Solidarität beziehen.«

2

Man denke nur an die immer noch alltagsweltlichen Begriffe wie »Fremdenverkehrsbüro«, »Fremdenzimmer«, wenn eigentlich Gäste gemeint sein sollten.

3

Vgl. Mitbestimmung 3/00: »GewerkschafterInnen anfälliger für Rechtsextremismus«.

4

Ergebnisse des Forschungsprojekts »Deutsche Zustände« der Universität Bielefeld stellte sein Leiter Wilhelm Heitmeyer in der SZ (11.8.05) vor: Die potenziellen Linksparteiwähler »fühlen sich in der Mitte, wählen das linke Etikett, denken aber in Wirklichkeit konservativ. Wir stellen bei den Befragten, die die Linkspartei wählen wollen, einen deutlichen Hang zu autoritären Mustern fest. Sie verhalten sich abwehrend gegen schwächere Gruppen und empfinden sich als auffallend fremd in dieser Gesellschaft … Verunsicherte Menschen suchen Halt, kein Konzept.«

5

Zur Bedeutung des Empire und des Rückzugs aus ihm als Projektionsfläche für innenpolitische Befindlichkeiten vgl. Gerhard Altmann: Abschied vom Empire. Die innere Dekolonisation Großbritanniens 1945–1985, Göttingen 2005. Der amerikanische Tambourmajor im Kampf um kulturelle Selbstbestimmung, Samuel Huntington, stellte jüngst fest, dass es »notwendig« werden könnte, um Europa und USA »Mauern zu errichten«, denn »Pünktlichkeit als essentieller Bestandteil amerikanischer Identität« werde von den Mexikanern untergraben, weil diese Tugend ihnen wesensfremd sei. FAS, 30.10.05.

6

Wer es nicht glaubt, lege Stahlgewitter und Marmorklippen beiseite und führe sich Jüngers zentrales Werk: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932 (Stuttgart 1982), zu Gemüte.

7

VW ist Prototyp und immer noch Original korporatistischer Herrschaft im rheinischen Industriekapitalismus. Ein closed shop, organisiert von Aktionären und IG Metall.

8

Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 19–20.

9

Waltraud Meints: »Wie Menschen überflüssig gemacht werden. Zu einem Leitmotiv in Arendts Hauptwerk«, in: Waltraud Meints, Katherine Klinger (Hrsg.): Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, Hannover (Diskussionsbeiträge des Instituts für Politische Wissenschaft der Universität Hannover, Band 31) 2004, S. 105–106.

10

Vgl. Interview mit ihm in der ZEIT, 23.6.05.

11

Mit deutschnationalen Geschichtsrevisionen schlägt sich die Linke seit Jahrzehnten herum – sie hat sich bis auf weiteres durchgesetzt. Es gibt keinen Grund, gegen Ostalgie nicht ebenso konsequent zu sein.

12

Bei Lichte betrachtet ein Akt der Verhöhnung der Opfer des Widerstand, weil ihre Taten bei der Aneignung einer antifaschistischen Legende relativiert und verkleinert wurden.

13

»Wir sind die einzige Partei in Deutschland, die wirklich und mit größter Entschiedenheit gegen die Erfüllungspolitik kämpft … Wir sind die einzige Partei in Deutschland, die das Joch des Weltimperialismus vom deutschen Volk abschütteln kann.« Die Hitlerpartei nutze durch schamlose Demagogie die nationale Unterdrückung des deutschen Volkes für ihre Propaganda aus, deshalb »kann unser Kampf gegen den Hitler-Faschismus nur dann erfolgreich sein, wenn wir es verstehen, den Nazis die nationale Maske herunterzureißen, ihre platte und verlogene Demagogie zu entlarven und demgegenüber unsere wirkliche Freiheitspolitik für Millionen Unterdrückte in Deutschland aufzurollen … Die nationale Befreiung ist untrennbar von der sozialen Befreiung des werktätigen Volkes, das heißt vom Sturz des Kapitalismus … Die Hitler-Partei, die in der Sowjethetze mit der SPD wetteifert, wird durch ihre Kriegshetze gegen die Sowjetunion zum Agenten des französischen Imperialismus und zum unmittelbaren Bundesgenossen Pilsudki-Polens, das mit seiner Politik des polnischen Korridors und in Oberschlesien deutsche Arbeiter und Bauern knechtet und martert.« Ernst Thälmann: »Der revolutionäre Ausweg und die KPD. Rede auf der Plenartagung des ZK der KPD am 19. Febr. 1932 in Berlin«, repr. Darmstadt 1971, S. 46–47. Dies »antiimperialistisch«-deutschnationale Vermächtnis bildete das ideologische Fundament von DDR-Identität.

14

Jüngst fand in Leipzig eine Veranstaltung zum 40. Jahrestag der Zerschlagung von Beatgruppen durch den Staat statt. Die Veteranen der »Butlers« traten auf und erinnerten an das von Ulbricht persönlich ausgesprochene Verbot gegen ausländischen Kultureinflüssen frönende Musiker. Die damals gegen das Verbot demonstrierende Kundgebung wurde zerschlagen, über 200 Teilnehmer festgenommen und teilweise zu Haft verurteilt.

15

Man möge mich ob dieser harschen Worte schelten. Doch jahrzehntelange Beobachtung von DDR-Politik inklusive der politischen Auseinandersetzung mit ihren Apologeten im Westen und mehrere Jahre bildungspolitischer Arbeit, Lehrtätigkeit und zeitgeschichtliche Forschung u. a. auch zu dem Thema »Regionalbewusstsein und Vorurteil« im Osten der vereinten Republik lassen mich zu dem Urteil kommen. Ich diskreditiere keine Individuen, sondern beschreibe kollektive Befindlichkeiten. Den »Resistenz«-Begriff aus der Nationalsozialismusforschung (M. Broszat u. a.) verwende ich nicht aus Leichtfertigkeit.

16

Jens Bisky: »Ost gegen West. Das Tabu, ängstlich gehütet: Die deutsche Einheit ist gescheitert«, in, Gerhard Matzig (Hrsg.): Der große Graben. Das Ende der Konsensgesellschaft, München 2005, S. 21.