Balduin Winter

Editorial

 

 

Angesichts katastrophaler Umfragewerte spöttelte Thomas Friedman Mitte November in der New York Times, Bush habe in einem Kopf-an-Kopf-Rennen gute Chancen um den Titel des schlechtesten Präsidenten aller Zeiten. Neben innenpolitischen Rückschlägen – die Staatsverschuldung hat nie erreichte Höhen erklommen, die Versicherungsreform ist gescheitert, das Missmanagement bei den Hurrikans ist noch in aller Munde – hat sich nun die Debatte über den Irakkrieg mit Leidenschaft entfaltet. Über die Verhältnismäßigkeit der Mittel und das »misleading« der Regierung hinaus wird verstärkt die Frage nach dem Sinn des Krieges gestellt. Cheney, Bush, Wolfowitz und Co. haben ihren »Krieg gegen den Terrorismus« von Anfang an unter das Signum der amerikanischen Werte gestellt. Regierung und republikanische Medienmacht haben seit Jahren den imperialen Diskurs des »New American Century« dominiert. Innere Zerrissenheit und außenpolitische Schwäche der Demokraten erleichterten diese Dominanz.

Nun scheint der Regierung unter dem Druck des Stimmungswandels dieser Diskurs zu entgleiten. Immer drängender werden die Fragen nach völkerrechtswidrigen Lagern, den wiederkehrenden Fällen von Folter, dem »outsourcing torture« und der Einschränkung der Bürgerrechte – Teile des zeitlich befristeten »Patriot Act« wurden unlängst nicht mehr verlängert. Erstmals tauchen Fehlereingeständnisse auf, werden von namhaften Vertretern wie Senator McCain Zugeständnisse in Richtung Nation Building gemacht: 40 Prozent Arbeitslosigkeit bedeute jede Menge Zulauf für die Terroristen. Auch ein Abzugsplan des demokratischen Senators Biden macht die Runde: 50000 Mann bis Ende 2006, die restlichen 100000 bis Ende 2007. – Bidens Plan ist jedoch allein darauf abgestimmt, der Bush-Opposition nach dem Maul zu reden. Im Hinblick auf den Krisenherd »Wider Near East« hat er – und darin äußert sich das Dilemma der Demokraten – nichts Substanzielles zu bieten. Die massenhaft kursierende rückwärts gerichtete Kritik ist zu wenig, CIA und/oder Regierung hätten Kriegsgründe fabriziert, die Öffentlichkeit wissentlich falsch informiert. Entweder stimmte die Strategie in einer großen Entscheidung, und die Regierung hat Fehler gemacht, wie sie bei der Umsetzung großer Unternehmen unvermeidlich gemacht werden, oder man muss mit einer anderen Strategie dagegensetzen; oder die Fehler waren so schwerwiegend, dass sie eine Erfolg versprechende Strategie ins Gegenteil umkippen ließen. Trotz zahlreicher Enthüllungen mangelt es jedoch seitens der Demokraten an solchen Analysen. Immer noch kann Halliburton-Dick Cheney (»Wir müssen im Zwielicht tätig werden…«) unlängst in einer Rede großspurig dagegenhalten, gegen wen sich die USA stellvertretend für die Welt präventiv verteidigen: »Und die Terroristen hoffen, die demokratische Regierung des Iraks umzustürzen und dieses Land wieder unter die Befehle von Tyrannen zu stellen. Sie glauben, dass, wenn sie ein ganzes Land regieren, auch auf andere Länder abzielen, andere Regierungen in der Region besiegen und ein radikales islamisches Reich herstellen können, ein Reich, das sich von Spanien über Nordafrika durch den Mittleren Osten und Südasien zieht und bis nach Indonesien reicht. Sie haben zudem eindeutig ihren entscheidenden Ehrgeiz geäußert sich mit Massenzerstörungswaffen zu bewaffnen, Israel zu zerstören, alle westlichen Länder einzuschüchtern und Massentod in den USA zu verursachen.«

Etwas Wahres ist insofern daran, denn: Können die USA einfach aus dem Irak abziehen? Als kriegführende Partei mit dem Versprechen von Freiheit und Demokratie steht sie in der Verantwortung, staatliche und zivile Sicherheit herzustellen. Die Realität ist heute eine andere. In seinem Bericht skizziert Gregor Mayer eine mögliche politische Situation (siehe S. 52), nämlich den tendenziellen Staatszerfall. Selbst wenn es nicht so weit kommt, deutet vieles auf eine Islamisierung des schiitischen Teiles hin, nicht zuletzt und mit zumindest finanzieller Mithilfe des Iran betrieben. Hier können sich also materielle Voraussetzungen für eine Stärkung des islamistischen Fundamentalismus herausbilden, für den der heutige Iran einen Rückhalt darstellt und auch einige der Nachbarstaaten (Syrien, Saudi-Arabien) nicht immun sind. Als verstärktes radikales Druckpotenzial auf Israel würde es gegen die aktuellen zaghaften Friedensschritte massiv quertreiben, indem es die bereits existierenden terroristischen Elemente noch mehr stärkt. Weiter würde erneut, wie die Türkei schon erkennen hat lassen, die Kurdenfrage hoch kochen. Ein anderer Aspekt des Staatszerfalls sind nicht abschätzbare Auswirkungen von Grenzfragen. In dieser Region sind nahezu alle Grenzen »künstlich« – was, wenn die irakischen Grenzen neu verhandelt werden? Die Schatt-el-Arab-Frage? Kuwait?

Der ägyptische Oppositionelle Saad Eddin Ibrahim hält angesichts einiger jüngster Überraschungen – Wandlungen Sharons, neueste Reformen Mubaraks in Richtung Pressefreiheit – den Nahen Osten für wandlungsfähig. Weder Napoleon 1798 noch Bush, meint er, haben sich durchsetzen können, aber von ihren Unternehmen gingen und gehen Anstöße aus. Doch setzt der Menschenrechtler auf Stärkung der Zivilgesellschaft durch zivilen, nicht militärischen Druck der demokratischen Länder auf die arabischen Regimes: »Alles fängt klein an, um im Laufe der Zeit größer zu werden.«