Balduin Winter

Editorial

 

Aus welcher Perspektive auch, ob Medienmeldungen, Soldatenbriefe oder Geheimdienstberichte: Die Lage im Irak ist mehr als Besorgnis erregend. Selbst die angrenzenden Nachbarn haben ihre Probleme mit dem Krisenherd. Am schlimmsten betroffen sind freilich die Menschen des Landes. Viele von ihnen vertrauten zunächst dem US-Präsidenten: »Wir werden das irakische Regime zum Besten des irakischen Volkes ändern.« Inzwischen dürfte an den inneren Fronten – Besatzungsregime, »kleiner« Bürgerkrieg, Terror – der Blutzoll bald mit dem Irak-Iran-Krieg vergleichbar sein. Bei Abzug der US-Besatzer wiederum drohen allgemeiner Bürgerkrieg, Landeszerfall, Zerstörung der demokratischen Ansätze. Die zwischenzeitlich geschwächte al-Qaida, vor 2003 weder im Irak noch in einer Beziehung zu ihm stehend, hat sich deutlich in der Front des religiösen Radikalismus verankert, eine von mehreren Fronten des Landes.

Geschwächt durch die Zwischenwahlen (siehe S. 22–27) muss die Bush-Administration nun ihre zum Teil selbst geschaffenen außenpolitischen Probleme neu bedenken. Man wird auch mit Syrien und dem Iran sprechen müssen. Noch vor kurzem hat sich Robert Kagan mit gewohnt großer Geste zu Irak und Afghanistan geäußert. Nein, schrieb er in der Welt (28.10.), man sei nicht »vom Weg abgekommen«. Und zeigte sich von einer neuen Seite, als Genforscher: »Amerikas Drang zur Expansion ... ist ein Teil von Amerikas DNA.« Dem folgten lange Ausführungen zur Geschichte der USA, von Jeffersons »Imperium der Freiheit« (siehe Peter Schyga, S. 14) bis zum aktuellen »gefährlichen Liberalismus«, wobei ihm der Irak völlig aus dem Blick geriet. Hobbes lässt grüßen. Da ist der neue US-Superdienst (NIE) deutlicher, dessen Fazit lautet, die Präsenz der US-Truppen habe »geholfen, eine neue Generation islamischen Radikalismus zu zeugen und insgesamt die terroristische Bedrohung seit dem 11. September 2001 wachsen zu lassen«.

Tatsächlich ist die Zahl der Terroranschläge in den letzten fünf Jahren von 700 auf 2200 pro Jahr gestiegen. Der religiös motivierte Terror nimmt zu, ist jedoch nicht das Hauptmotiv politischer Gewalt. Die Bertelsmann-Studie »Gewalt, Extremismus und Transformation« (119 untersuchte Länder) ordnet »lediglich 26 Prozent aller terroristischen Gruppen weltweit dem religiösen – und dabei vor allem dem islamistischen – Extremismus« zu. Nationalistische und separatistische Bewegungen haben mit 36 Prozent den größten Anteil an politischer Gewalt. Als »wesentliche Ursachen« bezeichnet die Studie ausdrücklich »nicht religiösen Fundamentalismus, sondern Armut, ethnische Spaltung, Staatsschwäche, Mängel des politischen Systems und externe Intervention«.

Beginnt nun in den USA so etwas wie eine Offensive der liberalen Intellektuellen? Jedenfalls steigt die Zahl kritischer Publikationen. Natürlich gibt es die Terrorgefahr durch al-Qaida und andere islamistische Gruppen, bekräftigt Louise Richardson und liefert in ihrem Buch What Terrorists Want: Understanding the Enemy, Containing the Threat eine detaillierte Untersuchung des modernen Terrorismus. Auf solche Analysen hat man aus Regierungskreisen vergeblich gewartet. Propaganda nach dem 11. September, so die Har- vard-Professorin, wie »Sieg oder Holocaust« (David Frum, Bushs Redenschreiber) oder vom »drohenden Untergang der Zivilisation« (Charles Krauthammer, Washington Post) seien maßlos überzogen gewesen. Erst recht die Ausrufung des globalen »War on Terror« durch Präsident Bush: Den Feind so unbestimmt und zugleich überdimensioniert zu kennzeichnen, habe den Eindruck eines nicht beendbaren und auch nicht gewinnbaren Krieges geweckt. Der Gegner wurde dadurch enorm aufgewertet. Präsident Bush habe das Fehlen großer Feinde – wie einst die Sowjetunion – durch die Aufwertung kleinerer Feinde kompensiert. Die internationale Glaubwürdigkeit der USA sei dadurch arg beschädigt worden.

Die drängenden Fragen der Welt – Klimaerwärmung, Pandemien, Ernährungsdefizite, Staatenzerfall und asymmetrische Konflikte – machen eines deutlich: Die außenpolitische Engführung der Regierung erweist sich als ungeeignet, die USA »zur Lokomotive an der Spitze der Menschheit« zu machen, wie Robert Kagan es vorschwebt. Die Probleme verlangen nach Antwortversuchen in Zusammenarbeit mit der Staatenwelt. Wie aber soll eine vertrauenswürdige Außenpolitik gelingen – Stichwort: Demokratieexport –, wenn unter dem Deckmantel der »Sicherheitspolitik« im Inneren Demokratieabbau betrieben wird? Die US-Gründerväter haben ihr Projekt auf Pluralität und intellektuelle Vielfalt angelegt und gewarnt: »Wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.« (Benjamin Franklin)

Auch die Autoren der Bertelsmann-Studie warnen, der einseitige Fokus auf den islamischen Terrorismus »verstellt den Blick des Westens auf die eigentlichen Ursachen der politischen Gewalt sowie geeignete Ansätze ihrer Bekämpfung. Abschottungsszenarien und Kontrollmechanismen werden alleine keine umfassende Sicherheit bieten können.« Sie schlagen stärkeres Engagement in Armutsbekämpfung, Demokratieausbau und Good Governance vor. Gemeinsam mit anderen. Eine Lehre der Globalisierung ist, dass der Unilateralismus ins Museum gehört.