Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Das Ende der »republikanischen Revolution« in den USA?

 

 

In Europa werden die Vereinigten Staaten vor allem durch die außenpolitische Brille betrachtet. Zahlreiche Medien sahen daher in Bushs Irak-Politik den entscheidenden Ausschlag für die Niederlage der Republikaner bei den US-Kongresswahlen. Ulrich Speck meinte in seinem von der Zeit gesponserten Weblog Kosmoblog (10.11.) sogar alles »mit einem Wort« erklären zu können: »Irak«. Vorsichtigere Stimmen relativierten diese etwas einseitige Sichtweise. El Pais sprach die Wirtschaft und den sozialen Bereich an, Matthias Rüb führte in der FAZ (9.11.) die Korruption und andere Missstände ins Treffen, und Klaus-Dieter Frankenberger ließ vorsichtig anklingen, dass die US-Wähler auch ihre Zweifel an der Homeland Security angemeldet haben könnten. Noch am selben Abend, nach Wahlschluss, hatte der Meinungskolumnist David Brooks im Editorial der New York Times eine erste Einschätzung abgegeben: »Diese Wahl ist ein Referendum über die Kompetenz der Bush-Administration, kein ideologischer Tsunami. … Sie ging nicht einfach über den Irak. Die Umfragen zeigten eine starke Besorgnis über Korruption und eine Reihe von Bestechungsaffären seitens der Regierungspartei.«

Die Wahlanalyse von CNN (über 13.000 Befragte) zeigt zwei bemerkenswerte Ergebnisse (www.cnn.com/ELECTION/2006/pages/results/states/US/H/00/epolls.0.html). Erstens war der Irak zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das entscheidende Thema. Zweitens gab es ein erstaunliches Floating verschiedener Wählergruppen – insbesondere bei den religiösen Gruppen, den Latinos und den unverheirateten Frauen –, das nur teilweise aus kurzfristigen Stimmungslagen erklärbar ist.

Die Untersuchung listet die wichtigsten Wahlthemen auf. Als »extremely important« nannten die US-AmerikanerInnen Korruption/ethisches Verhalten (42 %), Terrorismus (40 %), Wirtschaft (39 %), Irak (37 %), Werte (36 %); etwas abgehängt folgt die illegale Einwanderung (29 %), während Saddam Husseins Urteil nur noch von 18 Prozent der Befragten für sehr wichtig erachtet wird. »Katrina« hat einen Sensibilisierungsprozess ausgelöst und den Missionarismus der neokonservativen Revolution löchrig werden lassen. »Das Ausmaß an Korruption, das der Nation in den letzten Monaten eine endlose Serie von Skandalen bescherte und den Wahlkampf zur Schlammschlacht verunstaltete, hat selbst die an starken Tobak gewöhnten Amerikaner bestürzt«, bemerkte die NZZ (11.11.) und, wie der Washington Monthly den großen Bogen zieht, zum »Debakel der republikanischen Revolution« geführt, die 1994 von Newt Gingrich eingeleitet wurde.

Beim Irak-Ergebnis fällt auf, dass der Aufmerksamkeitsgrad deutlich abgenommen hat. Der Krieg bewegt sich in den mittleren Kategorien, ist dort allerdings eher positiv besetzt: Dort haben 55 Prozent der Wähler mehrheitlich republikanisch gewählt. Insgesamt ist mit 42 Prozent Pro-Stimmen die Zustimmung immer noch relativ groß. Allerdings ist auch die Rate der strikten Ablehnung auf 39 Prozent geklettert, 29 Prozent verlangen den sofortigen Abzug aller Truppen.

Der ist freilich alles andere als einfach. Die derzeitigen Debatten in den »Denkfabriken« warten mit allerlei bisweilen schillernden Vorschlägen auf – vom »erweiterten Mittleren Osten« ist kaum noch die Rede. Marcia Pally meint in der Foreign Policy (11/06), dass es in der Außenpolitik keine »dramatischen Verschiebungen« geben werde, da diese bei beiden Parteien immer recht ähnlich gewesen sei. Der erzkonservative Standard Weekly schlägt in dieser Frage ähnliche Töne an – überhaupt scheint die gemeinsame Schnittmenge zwischen den Konservativen beider Parteien größer geworden zu sein. James Dobbins von der RAND Corporation bringt es im Christian Science Monitor auf den Nenner: Zwischen »Kurs halten« und »einfach weglaufen« gebe es viele Möglichkeiten, »man werde einige erproben, um im Irak voranzukommen«. Eine Denkfabrik »schweigt« freilich: Das »Project for The New American Century« mit Bush, Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz und anderen, 1997 von Billy Kristol und Robert Kagan gegründet, hat seit Mai 2006 kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Hier und im American Enterprise Institute waren am ehesten imperiale Töne zu vernehmen. Dagegen fehlt der aktuellen Debatte der den USA gern unterstellte Gestus nach Weltherrschaft.

Zwei Wählerwanderungen müssen den Republikanern besonderes Kopfzerbrechen bereiten. Bisher hatten sie einen guten Stand bei den mehrheitlich traditionalistisch-katholischen Latinos, vor allem wegen ihrer Haltung in der Abtreibungs- und Stammzellfrage. Nun verloren sie in diesem Segment 14 Prozent aufgrund der rabiaten Vorschläge des rechten Flügels zur illegalen Immigration. Den Latino-Wählern war offensichtlich das Herausholen ihrer Landsleute aus der Illegalität und das Nachholen von Familienangehörigen wichtiger als Wertefragen. Allerdings hatten die Republikaner den ausländerfeindlichen Secure Fence Act – jenes Gesetz, mit dem im September beschlossen wurde, die Grenze zu Mexiko enorm zu verschärfen – mit demokratischer Unterstützung im Senat und Kongress durchgebracht.

Ein zweiter Einbruch spielte sich bei der religiösen Rechten ab. Religion ist ein sehr stabiles Element in den USA. »Gallup-Umfragen aus den späten neunziger Jahren ergaben, dass 88 Prozent der Erwachsenen Amerikas den Glauben in ihrem Leben für etwas ziemlich bis sehr Wichtiges hielten, ein unverhofft geringer Rückgang gegenüber dem 1952 festgestellten Wert von 95 Prozent«, schreibt Bill Emmott, bis vor kurzem Chefredakteur von The Economist. Die Gruppe der Evangelikalen stellt zwischen 34 und 38 Prozent der US-Wähler. Hier stimmten diesmal satte 41 Prozent für die Demokraten, mehr als bei jeder anderen Wahl seit den Sechzigern. Nur vordergründig erklärt sich dieser Wandel mit Sexaffären bei den Republikanern und dem wachsenden Konservatismus der Demokraten. David Kuo, im Weißen Haus für Glaubensfragen zuständig, ging in der New York Times (16.11.) mit der Administration selbstkritisch zu Gericht. Bush habe den Gläubigen zu wenig Versprechungen erfüllt. Trotz klarer Mehrheiten habe er sich zum Beispiel mit den »größtenteils symbolischen Abtreibungsbeschränkungen« abgefunden und keine Initiative gestartet. Ebenso habe er auf das moralische Engagement, für die Armen zu sorgen, vergessen: »Diese Administration brachte so wenig, dass sich die Evangelikalen wirklich darüber sorgten. … Statt für politische Kampagnen wollen die Evangelikalen ihre Zeit lieber damit verbringen, den Armen zu helfen.« Auch bei ihm taucht »security« – wie in letzter Zeit immer öfter in den USA – nicht in Verbindung mit »Terror« auf, sondern mit »sozial«.

Allerdings dürfte die gesteigerte Unruhe der religiösen Rechten noch mit einem anderen Prozess zusammenhängen, der sich bei Wahlen nur mittelbar ausdrückt, jedoch insgesamt zur wachsenden Lockerung der ohnehin in den USA nicht allzu festen Wählerbindungen beiträgt. Die ledigen Frauen sind inzwischen ein großes Segment geworden, das Wahlen entscheiden kann.

Mit einiger Verspätung gegenüber Europa spielte sich in den USA ein Vorgang ab, der in den letzten zwanzig Jahren das Grundelement des Sozialgefüges, die Familie, zunehmend erodiert. So berichtete die Los Angeles Times am 23.10. in großer Aufmachung von der Geburt des 300-millionsten Amerikaners – keine Meldung war ihr jedoch in derselben Woche die Mitteilung des U.S. Census Bureau (eine Art Statistisches Amt) wert, dass zum ersten Mal in der Geschichte der USA die Zahl der Single-Haushalte diejenigen der Verheirateten übertroffen hat. Herbert S. Klein stellt in seiner Bevölkerungsgeschichte der USA fest, jahrhundertelang sei die Rate der außerehelichen Geburten enorm stabil gewesen, noch 1960, zu Beginn des »Babybooms«, lag sie bei vier Prozent. Inzwischen sind ein Drittel der US-amerikanischen Frauen nicht verheiratete Mütter (wobei es divergierende Entwicklungen in den ethnischen Gruppen gibt). Die in diesem Phänomen angezeigte »Auflösung der traditionellen Familie« ist es auch, die konservative Kreise, insbesondere Kirchenanhänger, radikalisiert, obwohl die USA nur eine Entwicklung »nachholen«, die in Europa schon früher eingesetzt hat. Jacob S. Hacker (»The Privatization of Risk And The Growing Economic Insecurity of Americans«, Social Science Research Council New York 2005) bezeichnet die Familie, einst »Unterschlupf vor Gefahren«, als einen »zunehmenden Herd von Risiken« – insbesondere für die Frau: »Die Wahrscheinlichkeit einer ersten Ehe, die in der Scheidung oder Trennung innerhalb von zehn Jahren endet, ist von ungefähr 14 Prozent zu Beginn der 1950er-Jahre auf mehr als 30 Prozent am Ende der 1980er-Jahre gestiegen.«

In dieser Zeit vollzieht das Land den Wandel von der Industrie- zur »Netzwerkgesellschaft« (Manuel Castells) mit der entsprechenden Revolution der Arbeitsorganisation. Seither hat sich Wirtschaftslage und Arbeitswelt weitgehend entkoppelt, eine gute ökonomische Situation sagt, so der Princeton-Ökonom Henry Farber, nur noch wenig über die Lage der Bevölkerung aus. Legion sind die Untersuchungen über enorme Einkommensspreizungen und rapide Zunahme der Armut. Mittlere Familieneinkommen nahmen zwischen 1979 und 2003 um 15 Prozent zu, errechnet Alan Krueger (www.krueger.princeton.edu/working_papers.html), relativiert diese Zunahme aber dadurch, dass in diesem Zeitraum die Zuwächse nur durch längere Arbeitszeiten möglich waren. Seit Ende der Sechzigerjahre gibt es in der Lebensarbeitszeit einen »historischen Knick«, weist die Kurve wieder nach oben – allein zwischen 1995 und 2000 stieg sie in den beiden niedrigsten Einkommensquintilen um fünf Prozent (Economic Policy Institute). Die Familie versucht sich durch mehrere Einkommen abzusichern. Zugleich erhöht sich, so Henry Farber, die Unsicherheit bei den Arbeitsplätzen enorm: »Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeiter einen Job im Laufe einer dreijährigen Periode verlieren wird, ist jetzt ebenso hoch wie am Anfang der 1980er-Jahre, die den schlimmsten Wirtschaftsabschwung seit der Weltwirtschaftskrise sahen.« Weitere Untersuchungen ergeben, dass mindestens die Hälfte der weißen US-Amerikaner mindestens ein Jahr ihres Lebens unter der Armutsgrenze leben.

Die Angst vor sozialem Abstieg ist längst in den gebildeten Mittelschichten angekommen. Kein Studium bedeutet automatisch, später zum Segment der unteren 25 Prozent zu gehören, den Ärmeren und Armen. Die Kosten für ein Kind bis zum 18. Lebensjahr, also noch ohne Studium, belaufen sich, so das U.S. Department of Agriculture (2005), auf 237<|>000 Dollar. Die Belastung der Haushalte ist hoch bei immer unsichereren Einkommensmöglichkeiten. Hacker bemerkt sarkastisch, einer der größten Wachstumssektoren der Nation in den letzten zwanzig Jahren sei der Bankrott, sprunghaft zunehmend der private, reihenweise auch von Ehepaaren erklärt. Das Verhältnis Paare zu Singles betrage hier zwei zu eins. Die Familie, der Hort des Bankrotts. Dazu kommt, dass Amerika nicht mehr so viel wandert. Die Mobilität habe, so Alan Krueger, »seit den Siebzigern im Verlauf eines Arbeitslebens wie auch intergenerationell nicht mehr zugenommen, trotz der großen Veränderungen durch den Rückbau der alten Industrien und der vermeintlich erhöhten Wanderbewegungen durch die ökonomische Globalisierung«.

Die Wirtschaft boomt, aber die Existenzängste haben massiv zugenommen und breite Teile der Mittelschichten erfasst. Der Optimismus der Bush-Administration und die Stimmung im Land gehen weit auseinander. Einige Bevölkerungsgruppen haben bei dieser Midterm-Wahl ein deutliches Zeichen gesetzt. Aber die Demokraten haben im Grunde nur Sitze eingenommen, die die Republikaner verloren haben. Sie haben heute kein positives Programm, sie können keine weiterweisende Perspektive aufzeigen. Entsprechend fasst der Washington Monthly das Ergebnis zusammen: »Wir sprechen über den Zusammenbruch der republikanischen Revolution. Aber ein Ausdruck, den wir nie hören, ist ›demokratische Revolution‹.«