Eike Hennig

Von Unterschichten und Leistungsindividualisten

Moderne Formen der Armut und Verarmung

 

 

Zweierlei umfasst das heutige »Prekariat«: die deutlich wachsenden Unterschichten mit den bekannten Phänomenen und jene absteigenden Mittelschichten und Akademiker, die an ihren Möglichkeiten zweifeln, zumal Bildung nicht mehr Garant für Existenzsicherung ist. Ausgehend von Studien – und ihren Schwächen –versucht unser Autor das Spezifische neuer Armutsformen herauszuarbeiten. Angesichts drohender Konflikte von neuer Qualität sieht er zentrale Begriffe der Politik wie den der Gerechtigkeit in Frage gestellt.

Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich
die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.
G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, 1821

Ein Drittel der Gesellschaft zählt mittlerweile zu bedrohten, gering qualifizierten und abgehängten politischen Typen: Einstellungen und Verhalten dieses Drittels entscheiden mit über den Gang der Demokratie, zumal sich – entlang der Gegnerschaft »Marktfreiheit« oder »soziale Gerechtigkeit« – eine Konfliktlinie zu den »Leistungsträgern« ausgebildet hat. Die Armen verstehen sich wenig mit denjenigen, die eine Verarmung befürchten, weil ihre guten Möglichkeiten schwinden. Armut ist ein Schlüssel zum Gang der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Integration und Politik.

Unverstandene Armutslagen, deren Manipulierbarkeit und Funktionalität sind ein nicht zu unterschätzender Beitrag zum Faschismus gewesen, sie finden sich in Massenorganisationen wie der SA und in der SS-Elite; Erich Fromms Arbeiterstudie(1) (ebenso wie die Marienthal-Studie) zeigt solche Dispositionen im Dreischritt von autoritärem Staat, autoritärer Ökonomie und autoritärer Persönlichkeit. Autoritäre Personen, auch arme, und Arbeitslose führen selten zu einer revolutionären Alternative, aus der Entfremdung führt kein direkter Weg in die Freiheit. Das bipolare Revolutionsmodell Marx’ ist schlicht falsch, was neben Nationalismus, Imperialismus und Militarismus der mit der Wirtschaftskrise wachsende Faschismus zeigt.

Das betrifft die organisierbare Armut und Statusunsicherheit der Zwischenkriegszeit. Wie verhält es sich mit dem heutigen »Prekariat«? Gemeint ist ein Armutspluralismus mit Unterschichten, konzentriert in städtischen Multiproblemzonen mit hohen Anteilen an Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, geringer Bildung, Ungelernten, Jugendkriminalität, Nicht-Deutschen beziehungsweise Segregation, Nichtwählern, kommunikativer Schließung und schwacher Infrastruktur, sowie mit Mittelschichten und Akademikern, die an den Möglichkeiten ihrer Ressourcen (Bildung, berufliche Akzeptanz, Selbstverwirklichung, Kommunikation) zweifeln und den Abstieg nicht ausschließen. Dabei ist davon auszugehen, dass beide Armutsgruppen sich wechselseitig nicht grün sind. Die Prekären setzen auf die eigene Leistung, die Verarmten auf Statusgarantie durch den Staat. Die SPD wird sich entscheiden müssen. Viel deutet darauf hin, dass sie auf die Leistungsträger setzen wird, um den tatsächlich abgehängten Armen nur ein tröstliches Wort anzubieten.

Neu am Pluralismus der Armutslagen ist die Mischung akuter Armut mit eigentlich privilegierten Gruppen, die schwindende Opportunitäten befürchten. Dies führt zu unterschiedlichen Bewertungen sozialstaatlicher Garantien und Eigenleistungen. Der Wohlfahrtsstaat erscheint denen, die um ihre Opportunität, um Chancen und deren Verwirklichung bangen, als Leistungshemmnis und Quelle möglicher Verarmung. Leistungsorientierung und Individualismus andererseits sind für die akut und dauerhaft Armen die Provokation eines unerreichbaren Ziels. Alte, für Tocqueville demokratietypische Konflikte zwischen Freiheit und Gleichheit brechen wieder auf, nachdem sie im schwammigen Gerechtigkeitsdiskurs seit den Siebzigerjahren überdeckt waren. Aus dem Szenario der Armut und der Deutungen ergibt sich so eine nicht nur finanzpolitisch bedeutende Konfliktmasse, vielmehr sieht es nach einer grundsätzlichen Überforderung von Politik aus. Die neue Pluralisierung entzieht sich dem Sozialstaat, der der alten sozialen Frage mit passager eingeschätzten Verlaufsmustern verhaftet ist. Es ist also sinnvoll, über die mit Armut oder Verarmung verbundene Spaltung und Exklusion sowie den Schwund an sozial-moralischem Kitt und Leim nachzudenken.

Armutslagen und »Gesinnung«

Hegels Aussagen über die sozialen und psychischen Kosten sowie politischen Aufgaben der bürgerlichen Gesellschaft sind immer noch bedenkenswert. Für Hegel löst sich die Frage der Armut durch Migration oder Ausschluss, vor allem durch Versöhnung im Staat. Die Frage nach Struktur, Strukturierung und Psyche sowie dem Umgang mit Armut in der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft kennt Auf- und Abschwünge, viele Formen und Gewichte.

Mehrere Studien lösen im Oktober 2006 – in Zeichen von Globalisierung, Grenzen des Sozialstaats, Polarisierung, Überfluss und Überflüssigen, Unsicherheit und Exklusion – einen neuen Armutsdiskurs aus. Die »Anfangseuphorie« nicht nur der Großen Koalition von 2005, sondern länger schon die Träume sozialstaatlicher Versöhnung und immerwährender Konjunktur um das magische Viereck von Wachstum, Preisstabilität, Vollbeschäftigung und Exportgleichgewicht sind verdampft. Da kann Sozialforschung wirken. Am Anfang des neuen Diskurses steht eine repräsentative Umfrage der SPD-nahen Ebert-Stiftung (»Gesellschaft im Reformprozess«, Juli 2006)(2). Es folgt ein Interview des nach Positionen und Begriffen suchenden SPD-Vorsitzenden.(3) Naiv verwendet er einen sogleich gebrandmarkten Begriff (»Unterschichten«), Parteitaktiker und Gewerkschafter reagieren (Becks Thesen seien »zynisch«, der Begriff sei weltfremd),(4) man beschönigt die »Unterschichten« zur »sozialen Schattenseite«.

Bezogen auf den »Wert« nationaler, besonderer Kapitalismen liefern Armut, soziale Sicherheit ebenso wie Leistung und Innovation wesentliche Differenzkriterien. Fragen nach Armut sind bedeutend: Welches Ausmaß, welche Verdichtung, welche Verstetigung kennt sie, oder bleibt sie Passage, ein Lehrstück für Einzelne? Erfasst sie Kinder,(5) oder gilt für sie auch unter Bedingungen von Armut und »Bildungsferne« Chancengleichheit? Welche Formen nimmt Armut an, wie sind Arme verfasst, welche Deutungen haben Arme, »prekär« sich Fürchtende, Armutspolitiker, Ausgrenzer, Mitleider? Gerade in Deutschland gibt es hierzu mit dem sozialen Kaisertum, neofeudaler Fürsorge, christlicher Subsidiarität, der sozialen Demokratie versprengter Sozialdemokraten der Weimarer Republik bis zum sozialen Rechtsstaat der Bundesrepublik eine politisch und sozial reiche Geschichte. Ohne diese »Pfadabhängigkeit« lässt sich nichts über Armut und »Reform« erzählen. In den Bericht gehören ferner die Konstrukte der Sozialwissenschaften. Diese Geschichte(n) der Deutungsmuster über Armut und Reichtum sowie über die Gesellschaften (z. B. vom »nivellierten Mittelstand« bis zu »Multioption« und »Wissen«) sind weitgehend noch zusammenzutragen.

Hegel kennt die Nachtseiten der bürgerlichen Gesellschaft, des Notstaats und der »Reinigung der Triebe«. Er bemüht die letzte Großerzählung des deutschen Idealismus.(6) Die bürgerliche Gesellschaft stellt sich ökonomisch und sozial über Ungleichheiten dar, um politisch Freiheit und Gleichheit sowie soziale Grundrechte dagegenzuhalten. Reichtum und Verfügung sowie Armut, Vereinzelung und Abhängigkeit stehen sich gegenüber, davon ist Hegel überzeugt. (Marx auch, wobei er die organisierende Kraft des Elends betont und die vereinigten Proletarier aller Länder gegen das konzentrierte Kapital stellt.) Die Not der an Lohnarbeit gebundenen Klasse erzeugt, so Hegel, den Pöbel.(7) Das können ehrliche, rechtschaffene, Arbeit suchende Arme sein, sie wollen die Armut verlassen. Pöbel kann aber auch eine leichtsinnige, ehrlose, arbeitsscheue Bande beziehungsweise ein wüstes, die bürgerliche Gesellschaft bedrängendes und verunsicherndes Gesindel, ein Pack von Lumpenproletariern(8) und verkommenen Gesellen sein.

Armut gehört zum Kapitalismus, immer. Hegel beschreibt die Differenz der Armut, lange bevor Bourdieu die Differenz der Kapitale und die Distinktion erkennt. Über die »Gesinnung« unterscheidet Hegel im Pauperismus den Pöbel, den Mob sowie (heute) »überflüssige Schreckensmänner« vom arbeitsamen, dankbaren und unsichtbaren Armen und jenem Fremden, der sitt- wie gehorsam auf seine Einbürgerung und eine Arbeitserlaubnis wartet. Es sind der Verlust von Rechtsgefühl, Ehre, Selbstständigkeit sowie die Empörung gegen Reiche, bürgerliche Gesellschaft, Regierung, die die Revolte hervorbringen.

Weniger die Ökonomie per se als vielmehr die Interaktionen von Lage und Deutung sind maßgeblich. Damit zeigt Hegel für die heutige Forschung eine Richtung, die im Methodenmix von Umfrage, vertiefenden Interviews und Diskursanalyse quantitativ und qualitativ beziehungsweise analytisch und verstehend abzuarbeiten wäre. Dem entspricht der Forschungsstand nicht. Er verbleibt bei essayistischen Näherungen und Fallstudien. Vornehmlich die Arbeiten zur Spaltung und Exklusion sind zu nennen, wenn die Pluralisierung der Ungleichheit betrachtet werden soll.

Die Erforschung der Deutungsmuster einer »Gesellschaft im Reformprozess« wird von Wilhelm Heitmeyer zunächst auf den weiteren Horizont von Zusammenhalt und Zentrifugalkräften einer »Konfliktgesellschaft« bezogen, dann aber, mechanisch, wenngleich umfangreich mit aufwändigen, jährlichen Umfragen, auf die Genese rechtsextrem und ethnozentrischer Einstellungen begrenzt.

Die von Heitmeyer seit 2002 in jährlicher Folge analysierten Deutschen Zustände(9) gehen aus von »unübersichtlichen Zeiten«, zeichnen »riskante Entwicklungen« mit zunehmender Orientierungslosigkeit. Berichtet wird über Verbreitung und Ursachen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«. Allgemein: Einflusslosigkeit und Verstörung nehmen von 2002 auf 2005 zu, Fremdenfeindlichkeit, Vorrechte für Alteinwohner und Islamophobie ebenfalls. Integration nimmt ab.(10) 2005 sind 87 Prozent der Ansicht, die Gesellschaft falle auseinander. Das rechtspopulistische Potenzial wächst von 20 (2002) auf 26 Prozent. Auch andere Untersuchungen zeigen seit 2002 eine Zunahme sozial bedingter Ängste, über die Zurechnung von Arbeitslosigkeit wird die Wirtschaft zum Unsicherheitsfaktor, was auch die Bewertung entsprechender »Reformen« belastet. Parallel zur wachsenden Unsicherheit schwindet das Vertrauen in die Lösungsfähigkeiten der Politik, Nichtwählen und Parteiverdruss sind Ausdruck dieser Stimmung.

Die detailreiche Analyse Heitmeyers mit fast 90 Beiträgen in vier Bänden von rund 1200 Seiten ist so schlagend wie einfach, unterkomplex: »Soziale Abstiegsängste fördern feindselige Mentalitäten«,(11) ein theoretisch verfeinerter Radikalismus fehlt.(12) Besondere Schwerpunkte liegen in den einzelnen Bänden auf der »Demokratieentleerung« (Folge 2), den Frauen (Folge 3) und den Einstellungen der Mitte (Folge 4). Als »Gegengift« fordert Heitmeyer »überzeugende Visionen zur Zukunft dieser Gesellschaft«, die er nicht sieht.

Neue Konfliktlinien im Gemisch der Lagen und Deutungen

Moderne soziologische Studien(13) unterstreichen die komplexe Strukturierung der Armut und vor allem der Verarmungsprozesse. Wenn (Lohn-)Arbeit verschwindet, wenn Chancen ausbleiben und Potenziale keine Nachfrage finden, nicht akzeptiert werden, dann nimmt Enttäuschung zu, lebt man im Getto der Unterklasse oder verliert in Netzen von Enttäuschten Opportunitäten aus den Augen: Diese Verschränkungen mit ihren verschiedenen Ausformungen bezüglich Armut und Verarmung rücken ins Forschungszentrum. Betont werden die Spaltung der Gesellschaft(14) und der Ausschluss aus der dominanten Deutung des Sozialen.(15) Das Zusammenspiel von Struktur und Deutung prägt diesen Unterklassen-Diskurs. In der Differenzierung von »arm« und »prekär« liegt der Nutzen, der das Bild von Armut bereichert. Alles wird komplexer: Selbst mit der guten Ressource Bildungskapital kann man sich angesichts flexibler Arbeitsverhältnisse und einer Abfolge von »Jobs« und Praktika dennoch bedrängt fühlen und Furcht vor kommender Armut haben; trotz misslicher Lebensverhältnisse kann man sich in der Gesellschaft aufgenommen fühlen, wenn man seine Ressourcen als stabil und akzeptiert erfährt. Maßgeblich sind also Chancenzurechnungen und Ressourcenbewertungen. Damit ist die (bislang nicht eingelöste) Begegnung von Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie sowie Psychoanalyse gefragt, denn die qualitativ zu vertiefende Interpretation und Zukunftszurechnung der Armutslage und der Zukunftschancen entscheidet. »Wer mit Widersprüchen und Unausgeglichenheiten umzugehen weiß und bei aller Unsicherheit in dem, was er sieht und unternimmt, einen Sinn zu erkennen vermag, wird auch durch das massive Schwanken seines sozialen Grundes nicht aus der Bahn geworfen.«(16) Die Verarbeitung der Stofflichkeit von Armut ist ausschlaggebend für unterschiedliche Wendungen, dies verlangt eine methodisch wie theoretisch aufwändige Erforschung und den erwähnten Methodenmix. Zu erforschen sind vor allem die psychischen und sozialen Muster, die in die Interpretation der Armutslage sowie der schwindenden Opportunität hineinwirken.

Flexibilisierung, »Drifting«, »Patchwork«-Biografie, Passage, »time-space-compression«, Globalisierung (bzw. Glokalisierung) sind Stichworte, die einen rapiden Wandel anzeigen, der sozioökonomische und sozialpsychologische Begründungen aufweicht und Orientierung zum tagtäglichen Geschäft werden lässt. Zu den Strukturmerkmalen der Armut und den Ausdifferenzierungen der Klassen, Geschlechter, Regionen, Kulturen, Ethnien und Religionen kommen objektiv gegebene wie subjektiv empfundene Unsicherheiten hinzu. Die Einschätzung einer Lage als prekär, als unsicher und verarmungsträchtig, wird selbst für teilprivilegierte Gruppen wie Studenten und ehedem privilegierte Berufe wie Banker und Journalisten(17) wahrscheinlicher. Armut wird unten bleibender, aber auch in der Mitte erfahrbarer, sie ist da und rückt näher. Die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« des »Wirtschaftswunders« ebenso wie die feste Einteilung in ein Drittel Armut und zwei Drittel Mitte und Reichtum ist perdu. Ebenso ist eine automatische Sinngebung qua Bildung obsolet geworden. Vielmehr unterscheiden neuere Beiträge(18) zwischen der Verfestigung einer neuen Unterklasse der Gelegenheitsarbeiter und Niedriglohnempfänger und »wachsenden Spannungen in der Mittelschicht«. Die Mitte spaltet sich in gesicherte und prekäre »Wohlstandspositionen«, teilweise bereitet sich wegen der befürchteten Verarmung »Statuspanik« aus. Diesen zwei Gruppen steht die »zunehmende Abkopplung der Oberklassen« gegenüber. Diese sind wegen ihrer Ressourcen an Kapital auf den Sozialstaat nicht mehr angewiesen, sie kaufen die erforderlichen Leistungen insbesondere an Bildung, Gesundheit und Sicherheit privat ein.

Prekäres findet parallel zum Verlust an Zukunft Eingang in sozioökonomische Lagen. Armut erfährt ihre Formen sowohl über die Deutung als auch durch das Verschwinden von (Lohn-)Arbeit. Für die Unterschichten wird das räumliche Zusammenspiel der Muster und Strukturen als Kumulation depravierender Merkmale und Chancenverhältnisse in städtischen Quartieren sowie in ganzen Regionen in Mitteldeutschland prägend. Armut wird zum Raum,(19) der als abgehängt, gefährlich oder gar als »no-go-area« stigmatisiert wird. In der Mitte verstetigen sich Verarmungsängste durch Kommunikation und Netzwerke, diese Interaktionen sind jedoch mit der für die Unterschichten geltenden räumlichen Verdinglichung (noch) nicht zu vergleichen.

Doch kommt es – anders als etwa in Weimar und der Zwischenkriegszeit – nicht zur Organisation der Armut und schon gar nicht der Verarmung: Informelle Gruppen in der Subkultur der Armut, vor allem aber die Individualisierung in der Mitte sind Reaktionen auf Armut und Verarmung. Besonders in den Armutsräumen zerrinnen Gegenmacht und die gegenhaltende Kommunikation ziviler Organisationen. Im Westen der Bundesrepublik entspricht dem seit der Mitte der Siebzigerjahre der massive Abschied der SPD aus solchen städtischen Quartieren; im Osten werden entsprechende Parteibindungen erst gar nicht aufgebaut. In den Mittelschichten übernehmen abnehmende Parteibindung und der immer mehr mit Interesse und Bildung koalierende Parteiverdruss diesen Raum. In diesen Vierteln kegelt man allein oder informell, man steht allein neben anderen am Wasserhäuschen, trinkt, ist depressiv, nimmt Drogen, lungert herum, Langeweile drückt den Sinnverlust aus, aber man ist, gehört man zur Mitte, um Haltung bemüht. In diesem Klima erfolgen die Zurechnung von Zukunftschancen und die Interpretation der Strukturierung. Hier bilden sich die Gesinnungen. Dies vollzieht sich privat und in abgeschlossenen Vierteln – weitgehend unsichtbar, wenn nicht eine Familiengeschichte, ein Ämterversagen, ein Kindermord als »News« zum kurzen Aufschrei führt.

Unterschichten oder Nachtseiten? – Verteilgerechtigkeit oder Politik?

Kurt Beck beklagt den Verlust an »Durchlässigkeit« und die zunehmende »Hoffnungslosigkeit« in der Gesellschaft. »Besorgniserregend« ist die Wende: Zu viele Menschen »finden sich mit ihrer Situation ab«. – »Früher gab es in armen Familien, auch in meiner eigenen, das Streben der Eltern: Meine Kinder sollen es einmal besser haben! Es besteht die Gefahr, dass dieses Streben in Teilen der Gesellschaft verloren geht.«(20) Doch der Blick durch die alte Facharbeiterbrille ist zu unscharf und zu kurzsichtig. Letztlich geht es um Verelendung und Entfremdung im Kapitalismus und um eine Regelung dieser Bedingungen. Insofern wird diese Debatte weitergehen und bedarf dringend einer Vertiefung und Radikalisierung.

Es ist paradox: Mit der rot-grünen Koalition endet die Idylle. Nichts ist mehr auszusitzen! Die Nachkriegszeit des nivellierten Mittelstandes zerbricht, der Osten kommt im Westen an, die Globalisierung wird ökonomisch, die Grenzmauern des Standortes, seiner Wirtschaft, Politik und Wohlfahrt, bröseln. Die Pluralisierung der Armen und Verängstigten aller Schichten ist in Öffentlichkeit und Politik angekommen. Bislang überzeugen die Pointen nicht: Politologen wollen, normativ, wieder einmal die Politik neu erfinden, neue Verantwortlichkeiten sollen der allseitigen Konkurrenz und allfälligen Spaltung die Schärfe nehmen,(21) ähnlich unbescheiden fragen die Soziologen nach dem »Gesellschaftsentwurf«, um damit eine »robuste Politik der Inklusion« zu legitimieren.(22) Tatsächlich drohen an den Bruch- und Formierungslinien der neuen Konstellation neue Konflikte, die »riots« der USA und das »Aus der Vorstädte« von Frankreich warnen. Es muss nicht so bleiben, dass die deutsche Besonderheit vornehmlich in privaten familiären Brutalitäten und im Anwachsen intoleranter, rechts eingefärbter Gesinnungen besteht.

Politisch und analytisch offen sind die kollektiven Deutungsmuster, die über die Bewertung von Opportunitäten und Ressourcen befinden. Warum empfinden sozial gut ausgestattete Personen und Berufsgruppen ihre Lage tendenziell als bedroht, warum und wann vertrauen sie ihren Chancen nicht mehr? Offen ist aber auch eine neue Bewertung der Differenzen, die sich aus den Sphären der Gerechtigkeit(23) ergeben. Dazu gehört ein materielles Grundauskommen. Wie das die Ehre der eigenen Leistung ersetzen kann, verlangt ebenfalls weiteres Nachdenken. Wie lässt sich die wünschenswerte Pluralisierung von Gerechtigkeit ohne Ausschluss und Unterprivilegierung vorstellen? Welchen Teil an Integration kann ein Bürgergeld spielen, obwohl sich doch die ihre Verarmung befürchtende Mitte über eigene Leistungen profilieren möchte? Diese Fragen sind mit der Pluralisierung der Armut zu verbinden. Der Unterschichtendiskurs muss weitergehen. Gefordert sind keineswegs nur die SPD und die Gewerkschaften.

1

Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, Stuttgart 1980. Das Original-Manuskript trägt den Titel German Workers 1929 – A Survey, its Methods and Results.

2

Durchgeführt wird die Umfrage unter 3021 Befragten im Februar/März 2006 von Infratest. Ansprechpartner sind Rita Müller-Hilmer und Richard Hilmer.

3

Kurt Beck, Interview in: FAS, 8.10.06.

4

Spricht man paternalistisch Arme und Entrechtete an, oder wendet man sich Leistungsträgern zu: Das ist die Frage, die für das Grundsatzprogramm der SPD eher alternativ beantwortet werden soll. Der unschöne Unterschichten-Begriff Becks weckt bei Franz Müntefering die Frage, was die SPD in den sieben rot-grünen Regierungsjahren gegen die Armut getan hat. Für die Parteitaktiker steht »Links« vor der Tür. Euphemistische Redewendungen entsprechen eher dem Verständnis der Bundesrepublik.

5

Kinderarmut beziehungsweise die »Infantilisierung der Armut« wird seit den Neunzigerjahren angesprochen. Vgl. das Themenheft »Kinderarmut«: Aus Politik und Zeitgeschichte 26/06. Die Armutsquote von Kindern ist größer als die der Alten.

6

Die Bemerkungen zu Hegel stützen sich auf die Rechtsphilosophie (1821), besonders §§ 242–245.

7

Neben dem Pöbel sind Masse und Mob zu nennen. Marx beschreibt dies als Massenbasis des Bonapartismus, Hilferding verbindet den Niedergang des Liberalismus mit dem Aufstieg der imperialistischen Ideologie, und Arendt sieht im Mob die Anhänger imperialistischer Illiberalität, Freud kritisiert die Masse als Träger der Kriegsbegeisterung. – Vgl. die Bemerkungen zum »Pöbel-Mischmasch« in: Renate Reschke: Denkumbrüche mit Nietzsche, Berlin 2000, S. 47 ff.

8

Mit dem Ethos vom Facharbeiter grenzt sich die Arbeiterbewegung hiervon (ebenso wie von der Arbeiteraristokratie) schroff ab.

9

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 1–4, Frankfurt 2002–2006. Der Empirie unterliegen jeweils repräsentative Stichproben mit 3000 (2002) beziehungsweise 2000 (2005) Befragten. Die Befragung wird von Infratest durchgeführt.

10

Kein Wunder, dass kostengünstige Integrationsdiskurse und ideologische Aufrüstungsbemühungen Konjunktur haben. Vgl. Norbert Lammert (Hrsg.): Verfassung Patriotismus Leitkultur, Hamburg 2006.

11

Dieser Beitrag zum Stichwort »Krisenfolgen« findet sich in Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt 2006, S. 39 ff.

12

Konzeptionell vgl. Kirsten Endrikat, Dagmar Schaefer, Jürgen Mansel, Wilhelm Heitmeyer: »Soziale Desintegration«, in: Deutsche Zustände 1, Frankfurt 2002, S. 37 ff.

13

Diese Soziologie wird in den USA seit längerem vertreten in Debatten zur »Ghetto Underclass«, »When Work Disappears« und die »Truly Disadvantaged« zunehmen. Sie wird von William Julius Wilson und Richard P. Taub seit Mitte der Achtzigerjahre betrachtet und als Hypersegregation von Douglas Massey und Nancy Denton seit den Neunzigern analysiert.

14

Stephan Lessenich, Frank Nullmeier (Hrsg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 2006.

15

Heinz Bude, Andreas Willisch (Hrsg.): Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006.

16

Heinz Bude, Ernst-Dieter Lantermann: »Soziale Exklusion und Exklusionsempfinden«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 58 (2006), S. 233 ff., hier: S. 249.

17

Hierzu gibt es eine quantitative Fallstudie von Siegfried Weischenberg u. a.: Die Souffleure der Mediengesellschaft, Konstanz 2006.

18

Ich folge hier der griffigen Zusammenfassung von Bernhard Vogel: »Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand«, in: Heinz Bude, Andreas Willisch (Hrsg.): Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006, S. 354.

19

Zur lokalen Verdichtung gehört die Isolierung, so dass sich die Netzwerke und Kommunikation von Armen immer mehr auf die mit Armen begrenzen. Dies engt vor allem die Chancen der Kinder und entsprechender Schulbezirke ein. – Die gewerkschaftliche Organisation des »abgehängten Prekariats« ist eine Ausnahme, sie dürfte jedoch auch die Basis des von Richard Stöss in den Gewerkschaften nachgewiesenen Rechtsextremismus (unter 20 % der Gewerkschaftsmitglieder) abgeben.

20

Kurt Beck im FAS-Interview, 8.10.06.

21

Lessenich/Nullmeier, einleitend zu ihrem Sammelband: Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft, S. 26.

22

Heinz Bude, Andreas Willisch (Hrsg.): »Einleitung«, in: dies. (Hrsg.): Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006, S. 23.

23

Vgl. Michael Waltzer: Spheres of Justice, 1983 – dt. zuletzt: Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main/New York 2006.