Dunja Melcic

Versunkene Brücken

Islam in Europa: diskursgeschichtliche Ansätze

 

 

Europas Geschichte ist durch eine Vielzahl von Religionen geprägt. Auch die islamische war hier über Jahrhunderte durch ein mächtiges Imperium vertreten, so dass in Teilen Südosteuropas ein doppelt konnotierter Raum entstanden ist, der Prägungen des Westens und des Orients trägt. Ebenso auch das ganz Alte, Untergegangene, oft Vergessene, das entscheidende Traditionen bewahrt und weitergegeben hat – was in heutigen Diskursen sträflich vernachlässigt wird: Das tausendjährige Byzanz war die Wahrerin der aristotelischen Ideen und des römischen Rechts.

Wenn Autoren im englischsprachigen Raum über das Verhältnis zum Islam, zur islamischen Welt schreiben und diverse Fragen aus diesem vielfältigen Geflecht thematisieren, erinnern sie sich regelmäßig an Ereignisse in Bosnien-Herzegowina und/oder den Kosovo. Unlängst besprach Timothy Garton Ash unter dem Titel »Islam in Europa«(1) die Veröffentlichungen von Ayaan Hirsi Ali und Ian Buruma und wies darauf hin, dass es in Europa alt angesiedelte muslimische Bevölkerungsgruppen sowie Staaten mit muslimischen Mehrheiten oder erheblichen Bevölkerungsanteilen gibt, und erwähnte ebenfalls das Zögern des Westens (»the shameful feebleness of western Europe’s response …«) gegenüber dem Krieg in Bosnien-Herzegowina und die militärische Intervention im Kosovo zum Schutz von Albanern (»Muslim Albanians«). Oder wenn der amerikanische Historiker Paul Kennedy in einem Gespräch über die Weltlage im Allgemeinen und Möglichkeiten oder eher Unmöglichkeiten der Demokratisierung im Besonderen sinniert, sind ihm die Ereignisse um den Zerfall Jugoslawiens zumindest nicht außerhalb des Bewusstseins.(2) Etliche andere amerikanische Intellektuelle – von Michael Walzer über Peter Galbraith, Tony Judt und Michael Ignatieff – streifen oft in ihren Essays zur aktuellen Politik im Nahen und Mittleren Osten auch die Verwicklungen auf dem Balkan. Demgegenüber fällt auf, dass bei den Auseinandersetzungen mit den aktuellen kulturellen und politischen Fragen im Zusammenhang mit dem Phänomen des Islams im deutschsprachigen Raum eine wie auch immer geartete Bezugnahme auf den Balkan nahezu ausgeschlossen erscheint. Das ist in doppelter Hinsicht verwunderlich. Zunächst weil aus mitteleuropäischer Sicht der Balkan der geografisch nächste Raum der Berührung mit dem Orient ist, in dem sie zugleich am intensivsten, am längsten und für die europäische Geschichte am wichtigsten war. Ein Land wie Bosnien-Herzegowina ist der evidente Beweis dafür, denn es ist ein Produkt der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident auf europäischem Boden, ein aus gemeinsamer europäisch-muslimischer Geschichte geformter Schnittpunkt der Kulturen. Das zweite frappante Faktum ist, dass die Kenntnisse über Länder, Kulturen und die Geschichte auf dem Balkan, die die deutschsprachige Südosteuropaforschung gesammelt hat, um Längen alles übertreffen, was in irgendeiner anderen Sprache darüber zu Tage gebracht und veröffentlicht wurde.

Dies soll als eine Erinnerung dafür dienen, dass bei vielen Fragen, die uns heute im Zusammenhang mit der Islam-Problematik beunruhigen, ein Rückgriff auf die Erfahrungen auf dem Balkan und ein Rückblick in die Geschichte hilfreich sein können. Das wird allerdings nur dann möglich, wenn man sich bewusst ist, dass die intellektuelle, um Differenzierung sich bemühende Auseinandersetzung der Klärung von Sachverhalten und nicht der Stärkung des kulturellen Kampfgeistes dient. Das, was wir gegen Rhetorik und Tendenzen eines Kampfes der Kulturen setzen müssen, sagte Wolf Lepenies in seiner Dankesrede bei Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2006 in Frankfurt, »ist zunächst die historische Einsicht in die engen Verflechtungen des Westens mit der islamischen Welt«.

Die geschichtlichen Verflechtungen mit dem Balkan

Wer sich auf »Verflechtungen« einlassen will, muss etwas Geduld und Sinn für Genauigkeit mitbringen. Das empfindliche Gewebe der Geschichte ist bereits durch polarisierende Einstellungen in separate Knäuel entflochten: die einen sind aufs Harmonisieren aus und ignorieren die Tatsachen, die anderen ziehen eine Konfrontation vor und ignorieren die Tatsachen. Diese Einstellungen haben wohl »inländische« ideologische Wurzeln und zeigten sich bereits während der serbischen Kriege der Neunzigerjahre: einmal als Appeasement-Haltung gegenüber dem Stärkeren und zum anderen als Idealisierung der bosnischen Muslime als beinahe multikulturelle Engel.

Nach der neuerlichen Aufregung im Zusammenhang mit der Regensburger Vorlesung des jetzigen katholischen Oberhauptes scheint eine substantialistische Haltung, ein unmittelbares Verbinden von Glaube und Geschichte die Öffentlichkeit zu erobern, in welchem sie wie in einer geradezu mythopoetischen Gleichzeitigkeit zur Erscheinung gebracht werden. Dabei wird dieses Verhältnis oft auf nur eine Ebene reduziert – die der Gewalt. So als seien die Eroberungen von Sevilla im 9. Jahrhundert oder Konstantinopel fünf Jahrhunderte später durch unterirdische, Äonen überdauernde Tentakel mit den islamistischen Terroristen in London und anderswo verbunden beziehungsweise könnten umgekehrt die tausend Jahre zurückliegenden Kreuzzüge mit islamfeindlichen Einstellungen im Westen in direkten Zusammenhang gebracht werden!

Blickt man auf die gemeinsame Geschichte Europas und der »Welt des Islams« (ein Ausdruck, den ich nur behelfsweise benutze), die zeitlich und geografisch näher liegt, fällt das Bild gleichsam von alleine differenzierter aus. Diese Geschichte ist freilich eine der Gewalt und der Kriege. Die gemeinsame Geschichte der westeuropäischen Dynastien, Könige und Fürsten war bekanntlich ebenso durch Gewalt und unzählige Kriege gekennzeichnet wie die spätere zwischen den Nationalstaaten. Kriege kennzeichnen auch die gemeinsame Geschichte mit den Königreichen und Ländern in Osteuropa. Über Jahrhunderte ist das Osmanische Reich eine unbezwingbare Großmacht nicht bloß vor den Toren Europas, es kappt nicht nur die alten See- und Handelswege über Byzanz und Konstantinopel, sondern erstreckt sich über Kerngebiete des Kontinents, mit dem besetzten Griechenland als Wiege des Abendlands. Und was geschichtlich noch wirksamer ist, diese Besetzungen und die Jahrhunderte der osmanischen Herrschaft ändern die Geschichte, das »Gesicht« Europas nachhaltig. Unzählige Ortsnamen auf dem Balkan sind griechischer und lateinischer Herkunft, nur hat der türkische Name den alten Gebirgsnamen Haemon und die lateinischen Provinznamen verdrängt. Die letzten osmanischen Expansionserfolge im Westen liegen gar nicht so weit im Dunkeln des Mittelalters zurück. Eine ganze Gegend in Österreich ist im 17. Jahrhundert zur neuen Heimat der geflüchteten (kroatischen) Katholiken aus Bihac geworden. Es hatte schon Gründe, dass Mozarts Opern sich mit »Türken« und »Mohammedanern« beschäftigten.

Die osmanische Herrschaft, der Islam und die Macht

Die erste geschichtliche Ebene, mit der man hier zu tun hat, ist die der Macht. Das christliche Abendland hat der osmanischen Eroberungsstärke – aus diversen Gründen – nichts entgegenzusetzen. Auch nachdem das Großreich den Zenith seiner weltumspannenden Macht überschritten hat (manche sehen das historische Datum bei der Seeschlacht von Lepanto, 1571, als die türkische Flotte zerschlagen wurde, andere in der Niederlage bei Sisak, 1593), braucht es noch Jahrzehnte, bis die »Türkenherrschaft« im Vorhof der Zentren europäischer Herrlichkeit – Wien und Venedig – richtig zu bröckeln beginnt. Erst ein Jahrhundert später scheitern die Osmanen vor Wien (1683). Die »Türkenkriege«, danach die »Orientalische Frage« beschäftigen – zusammen mit den Aufständen der christlichen Bevölkerungsteile und den nationalen Aufständen gegen die Osmanen – jahrzehntelang die europäische, ja die Weltpolitik, die Politik der neuen Weltmächte bis zum Ersten Weltkrieg. Nicht ohne Grund nimmt Dan Diner die Orientalische Frage zu einer Achsenkomponente für die Deutung des 20. Jahrhunderts.(3)

Hierzu sind drei Punkte von Belang: Erstens haben wir es mit einem Imperium, mit der Macht zu tun; zweitens erstreckt sich das Reich über Jahrhunderte auf dem geschichtlichen europäischen Boden, der die gleichen griechisch-römischen Wurzel hat wie Westeuropa – die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich sind Teil europäischer Geschichte; drittens haben westeuropäische Ideologietraditionen diverse Diskursmodelle hervorgebracht, die auf grobe oder raffinierte Weise die Völker und den Raum, genannt Balkan, aus »Europa« ausschließen.(4) »Balkan« – ein kurzes Wort für den langen Satz, dass in der Nacht alle Katzen grau sind. Dass es Völker auf diesem Balkan gibt, die geschichtlich durch europäische und orientalisch-osmanische Traditionen geprägt sind, gerät in den Blick nur, wenn dort Blut in Strömen fließt. Nicht im Traum denkt man, dass deren Erfahrungen in einem europäischen Dialog – gerade jetzt angesichts der Herausforderungen durch den radikalen Islamismus – nützlich sein könnten.

Dass das Osmanische Reich auch einen Auftrag der islamischen Religion ausgeführt hat, ist selbstverständlich. Die Wesire haben ein Gebiet erobert, mit Befestigungsanlagen gesichert und als Erstes eine Moschee gebaut. Das war die Regel. Die Untertanen, die kläglichen Bevölkerungsreste, die die Eroberung überlebt haben, konnten – unter diskriminierenden Umständen – ihre Religion behalten, wenn es noch irgendwelche halbwegs existierenden Kirchen- oder Glaubensinstitutionen gab, und wenn sie der Grundbedingung genügten, dass es sich um so genannte Schriftreligionen handelte. Auch galten andere »Rechte« für Kirchen, deren Sitz sich auf islamischen Boden, und für jene, deren Zentrum sich in der Welt außerhalb des Islams befand. Folglich waren Katholiken, deren Oberhirte sich in Rom befand, am meisten diskriminiert. Sehr wohl wurde die Bevölkerung mit Gewalt zum Islam bekehrt, wobei Gewalt natürlich unterschiedliche Formen hatte, wie sie es eben auch immer haben kann. Dass es gerade auf dem Balkan während der osmanischen Herrschaft eine erhebliche Gruppe von Kryptochristen, also Scheinmuslimen, gab, ist der ultimative Beweis für das gewaltsame Aufdrängen des islamischen Glaubens. Dennoch hängt das alles mit der materiellen und politischen Macht eines Imperiums zusammen, mit der militärischen Stärke, der organisatorischen und technischen Überlegenheit bei der Eroberung und Sicherung der einverleibten Gebiete. Die islamische Religion wird natürlich eine Rolle gespielt haben, weil das Reich in seinem Wesen theokratisch war, aber sie ist weder überall noch zu allen Zeiten gleich gewesen. Wie auch immer es um das Verhältnis zwischen Dschihad und Eroberungswut bestellt gewesen sein mag, primär für die Erfolge bleibt die militärische Stärke einer zentralistisch organisierten Herrschaft. Die Schwäche der christlichen Reiche gegenüber dieser Macht rührte eben auch nicht aus dem Glauben oder angeblich gewaltlosen Bekehrungspraktiken.

Diskurse und Kriege

Die Gründe dafür, dass man den türkischen Vormarsch und die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte vollziehende Ausdehnung des Reiches nicht aufhalten konnte, sind vielfältig und ebenso vielfältig sind die Gründe, die zur Umkehrung der Kräfteverhältnisse im 18. Jahrhundert führten. Zuvor schon sichert die Militärgrenze quer durch den Süden Mitteleuropas von der adriatischen Küste bis nach Siebenbürgen eine gewisse Stabilität, und dieses militärische Grenzregime hat sich der Wiener Hof von den Osmanen abgeschaut. Über zwei Seiten reiht der Althistoriker Egon Flaig(5) die Untaten und Massaker der Araber und Osmanen quer durch die Jahrhunderte an, um die »kämpferische Religion« Mohammeds zu beweisen, so dass man sich schon darüber wundern muss, dass so etwas möglich ist: die Grundsätze einer Religion eins zu eins mit Eroberungen, Versklavungen und Massakern einer expansionistischen Macht gleichzusetzen. Die »Türkenallianz« hinterlässt eben auch nach jedem Vordringen in das osmanische Gebiet auf dem Balkan verbrannte Erde: Moscheen werden ausradiert, wie das eben auch mit den katholischen Kirchen zuvor durch die Osmanen der Fall war. Städte werden vernichtet: 1688 Belgrad, 1697 Sarajevo. In den dauerhaft zurückgewonnenen Gebieten (in Ungarn, Ostkroatien, an der Küste) bleibt keine islamische Spur übrig. Gewiss geht es auch um Religion: um »Befreiung« der unterjochten christlichen Bevölkerung. Diese Beschreibung hat allerdings mit neuzeitlichen ideologischen Diskursen, der christlichen Feindrhetorik und den »humanistischen Barbarendiskursen«, mit jahrhundertelang perpetuierten Konzilsdeklamationen, also mit der sprachlichen Konstruktion vom »Türken als Erbfeind« zu tun. Und nicht einmal das würde man eins zu eins mit den Schlachtfeldern und Eroberungsstrategien setzen. Der »Türkenkrieg« beherrscht als Beschwörungsformel über Jahrhunderte die christliche, politische und zivile Rhetorik, humanistische, Renaissance- und Reformationsschriften (von Petrarca bis Erasmus und Luther) und unterliegt selbst den diskursgeschichtlichen Wandlungen, die ihre eigene, innere Dynamik haben. So gab es etwa auch einen Strang des religiösen Diskurses, in dem das türkische Vordringen als Zeichen Gottes interpretiert wird, Geschenk und Strafe für die Sünden der Christen. Dass es politisch möglich wird, eine Allianz gegen die Osmanen zu bilden, hat nur entfernt mit diesen Diskursen etwas zu tun – wobei selbst die eigentliche Kreuzzugsrhetorik zu diesem Zeitzpunkt schon ziemlich verblasst ist, als die »Orientalische Frage« am politisch-ideologischen Diskurshimmel zu dämmern begann. Ausschlaggebend waren immer interne dynastische, politische Gründe zwischen jenen Mächten des Westens, die eine Allianz (kurzzeitig und partiell) ermöglichten oder nicht zustande kommen ließen.(6) Würde man nun die Türkenkriege (1682–1699), die tatsächlich stattfanden und natürlich mit Verwüstungen und Plünderungen einhergingen, mit kulturellem Vokabular beschreiben, das heißt die verübte Gewalt als Ausdruck und Eigenschaft der christlichen Religion kennzeichnen, so hagelte es zu Recht Proteste. In dieser Manier aber hat der erwähnte Althistoriker in der FAZ den Islam als eine Gewaltreligion beschrieben, indem er alle arabischen und späteren osmanischen Ausdehnungen mit diesem kulturellen Idiom über einen Kamm scherte.(7) So reiht man sich unter die Kombattanten im »Krieg der Kulturen« ein, von denen Lepenies in seiner Rede sprach.(8)

Über Besonderheiten und Unterschiede kann man auch reden

Das Bedürfnis, jenem Diskurs zu widersprechen, der im Glauben an die Friedfertigkeit von Kulturen und Religionen wurzelt und entsprechende ideologische Codes verbreitet, ist wiederum auch verständlich. So beruht die verbreitete Rede von der großen oder größeren Toleranz des Osmanischen Reiches und der islamisch geprägten Kultur gegenüber Andersgläubigen bestenfalls auf Unkenntnis. Die entsprechenden Sachverhalte müssen differenziert geklärt und dargelegt werden, wenn es einen ehrlichen Diskurs über die Problematik der Toleranz in multikulturellen Gesellschaften geben soll. Dass auf Erwähnung des Wortes Dschihad gekontert wird mit der angeblichen Ersttat der Kreuzzügler ebenfalls. Und auch eine besondere Beziehung des Islam zur Kriegsführung, die sich nicht nur in dem erwähnten Begriff äußert, braucht man nicht verleugnen. Die Dynastie der Osmanen entstand aus der militärischen Eliteschicht der Glaubenskämpfer (Gazi), die sich im Kampf gegen Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten herausbildete.

Die ärgerlichste Plattitüde ist jene pauschale Beschwörung der arabisch-mohammedanischen Kulturleistung als Vermittler der Antike nach Europa. Diese Klischees haben sich so verfestigt, dass man sie schon in Nachschlagewerken findet, aus denen sie gedankenlos übernommen werden. So findet sich auch in der Rede von Lepenies die verkürzte Darstellung eines epochalen Sachverhalts, die ich nicht unterschlagen kann, obwohl ich seinen Ansatz, über die »gemeinsame Geschichte« zu sprechen, unterstütze. Er sagte: »Die Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 macht ›den dummen Muselman‹ zum Mit-Urheber von Renaissance und Aufklärung.« Beides bedarf einer kurzen Richtigstellung.

Die Blüte der Künste und Wissenschaften zur Kalifenzeit (9./10. Jh.) ist eine unumstößliche Tatsache; ebenfalls der Einfluss, den besonders die Gelehrten Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Mohammed ibn Ruschd) auf die Scholastik (Thomas von Aquin) haben, und zwar mit ihren Kommentaren zu Aristoteles’ Werken. Aristoteles’ Schriften werden schon zur frühen hellenistischen Zeit gesammelt, neu herausgegeben und kommentiert. Es entsteht der so genannte Aristotelismus, eine eklektische Lehre, die (auf dem neuplatonischen Hintergrund) eine Harmonisierung der klassischen griechischen Philosophie (Platon und Aristoteles), eine Art philosophischen Kanon aufzustellen versucht. Der Aristotelismus wird schon von frühen christlichen Geistlichen rezipiert und insbesondere durch syrische Gelehrte gepflegt. Die Werke werden aus dem Griechischen ins Syrische und später ins Arabische übersetzt. Der große Anstoß, plakativ gesagt: die »Kulturübertragung«, geschieht, nachdem Kaiser Justinian die neuplatonische Akademie in Athen 529 schließen ließ und die heidnischen Gelehrten nach Syrien auswanderten. Hegel sagt zur »arabischen Philosophie« in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie sehr hübsch: »Eine Hauptrücksicht war dabei …, die mohammedanischen Lehren zu verteidigen, wodurch das Philosophieren … eingeschränkt wurde; die Araber sind wie die abendländischen Christen durch die Dogmen der Kirche (wenn man es so nennen kann) beschränkt worden … doch freier … Bei Christen und Ismaeliten war also dasselbe Bedürfnis, die Philosophen zu widerlegen.«(9) Hier hat man alles beisammen, was vom Standpunkt der Aufklärung relevant ist. So wichtig die Impulse auch waren, die durch arabische Vermittlung im frühen Mittelalter nach Westeuropa kamen, vom antiken Gedankengut kann man bei dieser Übermittlung nur bedingt sprechen.

Byzanz und andere untergegangene Welten

Wenn man aber den Eroberer von Konstantinopel »zum Mit-Urheber von Renaissance und Aufklärung« erklärt, dann handelt es sich um eine Verdrehung. Nach der Reichsteilung (395) behauptet sich das »Ostreich« über Jahrhunderte als das prosperierende und stabile Erbe des römisch-christlichen Reiches. Die vom Konstantin dem Großen gegründete Stadt am Bosporus entwickelt sich zur größten Stadt des Mittelalters und wird zum blühenden Wirtschafts-, Handels-, Bildungs-, Kultur- und Kunstzentrum. »Römisches Staatswesen, griechische Kultur und christlicher Glaube sind die Hauptquellen der byzantinischen Entwicklung.« So lautet der erste Satz des Standardhandbuchs zur byzantinischen Geschichte von Georg Ostrogorsky.(10) In der tausendjährigen Geschichte des byzantinischen Reiches wurde das antike Erbe aufbewahrt. Die wichtigsten Stichworte diesbezüglich lauten: »Mit dem Hellenismus ist das Byzantinertum durch tiefe Wesensverwandtschaft verbunden. … Griechentum und Römertum wachsen auf byzantinischem Boden zusammen … Das christliche Byzanz verabscheut weder die heidnische Kunst noch die heidnische Weisheit … Die byzantinische Kirche selbst macht sich das Ideengut der antiken Philosophie zu eigen und verwendet ihren Begriffsapparat bei der Ausgestaltung der christlichen Dogmenlehre.« Daher stellt Ostrogorsky fest: »Das Festhalten an den antiken Traditionen war eine besondere Kraftquelle des byzantinischen Kaiserreiches.«

Während die Westhälfte des Römischen Reiches infolge von Völkerwanderungen zugrunde gegangen war, konnte die Osthälfte die analoge Krise überstehen und entwickelte eine faszinierende Integrationskraft »in einem gesellschaftlichen Umfeld, das durch extreme soziale, ethnische, kulturelle und konfessionelle Spannungen geprägt war« (Hösch). Unter dem großen Reichsreformator Justinian (527–565) wurde das wohl dauerhafteste Werk der europäischen Geschichte vollbracht: die Kodifikation des römischen Rechts. Sie vereinte die Gesetzessammlungen des römischen Rechts und die Schriften der klassischen römischen Juristen und wurde zusammen mit völlig neuen Rechtswerken (etwa die so genannten Digesten, eine Sammlung zahlloser Gutachten der römischen Rechtsgelehrten) zu einer einheitlichen Rechtsgrundlage des Reiches und zum dauerhaften Fundament des Rechtslebens. Das römische Recht wurde im Westen erst im 12. Jahrhundert rezipiert, nachdem es Juristen in Oberitalien in einer Sammlung des Kaisers entdeckt beziehungsweise das Gesetzeswerk (besonders in Bologna) studiert hatten. Die Rezeption »des römischen Rechts in der Fassung, die ihm die Juristen Justinians gegeben hatten« bekam für »die Gestaltung der rechtlichen und politischen Auffassung des Abendlandes die allergrößte Bedeutung« (Ostrogorsky).

Das ist ein bedeutender, wenn auch schmaler Ausschnitt aus der reichen Kontinuitätsgeschichte des Byzantinischen Reiches, wodurch man aber wenigstens eine Ahnung vom antiken Erbe bekommt, das dort über Jahrhunderte hinweg bewahrt wurde. Dieses Erbe, hauptsächlich die antiken Schriften, gelangt infolge der wachsenden Bedrohung des Reiches durch die Osmanen in den letzten beiden Jahrhunderten seines Bestehens vermehrt nach Italien. Zuletzt flüchten die griechischen Gelehrten aus Konstantinopel und retten sich und ihre Bibliotheken nach Italien, während eine kleine Schar die den Anstürmen noch trotzende Metropole eines schon untergegangenen Reiches verteidigt, bis Mehmet II. die Stadt erobert, sie in Flammen setzt und verwüstet(11) – das allerdings eignet sich wenig, um zur großen muslimischen Kulturleistung erhoben zu werden.

So könnte man die Osmanen auch zu Entdeckern von Amerika machen, denn es war die zunehmende Sperrung der Seewege nach dem Fernen Osten, die in den Handel treibenden Zentren Westeuropas die Anstrengungen beschleunigte, neue Handelswege zu finden, die nicht blockiert waren. Wenn man sagt, Not macht erfinderisch, dann kann man doch nicht denjenigen, der die Not verursacht hat, zum Erfinder der Lösung aus der Not machen!

Wenn man das richtig stellt, betreibt man keine Verteufelung der Türken, der Osmanen oder des Islams. Erlaubt sei aber die Frage, auf welcher mentalen und psychologischen Grundlage überhaupt eine solche fatale Verdrehung in der Deutung eines so epochalen Ereignisses möglich ist. Ihre Verbreitung in der Literatur zeugt von einer Gedankenlosigkeit, welche man wiederum als eine Haltung interpretieren kann, die das Untergegangene nicht zur Kenntnis nehmen will. Das unbekannte Byzanz, der unbekannte »Balkan«(12) – das sind untergegangene Welten, untergegangenes Europa, an das sich Europa heute nicht erinnern will, das die moderne europäische Geschichtsschreibung weitgehend zu einer Unrealität gemacht hat.

Wider die Klischees

Den »Muselmanen« statt – wenn schon – die Byzantiner zum Mit-Urheber der Renaissance (oder gar der Aufklärung) zu erklären, stimmt aber auch von dem historischen Ablauf im Westeuropa des Spätmittelalters oder der frühen Neuzeit her nicht. Eine unumstrittene Epochendatierung gibt es in der Geschichtsschreibung so gut wie nie, und der Wandel zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit gehört zur meistumstrittenen Epochenbestimmung. Ebenso wenig Eindeutigkeit können die diffizilen Deutungen von Rezeptionsgeschichten für sich beanspruchen. Wenn nichts anderes – lassen wir Dante (1265–1321), Boccaccio (1313–1375) Giotto (1266–1337) und Brunelleschi (1377–1446) beiseite – so ist zumindest seit Petrarca (gestorben 1374) ein Bewusstsein des Anknüpfens an die Antike voll ausgeprägt, das sowohl den geschichtlichen Bruch zwischen Antike und Mittelalter als auch die Erhebung der Antike zur »unvergleichlichen kulturellen und politischen Norm« beinhaltete, »als welche sie das Selbstverständnis der Renaissance beherrschte«.(13) Und immerhin fand auch die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg vor dem Fall Konstantinopels statt.

Viel weiter als solche Klischees bringt uns, wenn wir darauf achten, was Intellektuelle zu sagen haben, die der islamisch geprägten Welt entstammen und sich in ihrer Geistesgeschichte auskennen. Bereits vor einigen Jahren veröffentlichte Lettre International einen aufschlussreichen Text des französischen Schriftstellers tunesischer Herkunft, Abdelwahab Meddeb, in dem es heißt: »Wenn ich hier die Frage des Niedergangs aufgreife, dann um zu einem besseren Verständnis der Kluft zwischen dem alten und dem heutigen Islam zu gelangen und um zu erfassen, was vom einstigen Glanz zum heutigen Elend geführt hat. Bekanntlich stellt al-Biruni, der große islamische Gelehrte des 11. Jahrhunderts, die Elite und das gemeine Volk einander gegenüber, das heißt, eine sehr kleine Zahl und die große Masse. … Es handelt sich um die Dichotomie … zwischen der Elite und dem Volk, die dem Islam in seiner großen Zeit eine Struktur gab. Diese Kategorien waren in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wirksam. … Schriftsteller, Denker und Dichter bildeten eine Hierarchie, deren Abstufungen im Lichte dieser Gegenüberstellung bestimmt wurden. Dies wirkt sich bis zu Averroes aus, wenn er die wörtliche Bedeutung des Korantextes betrachtet: Der Elite fällt die Aufgabe zu, die Argumente zu entwickeln, die nur mit den Methoden des Beweises zugänglich werden, die Masse hingegen hält sich an den wörtlichen Sinn.«

Diese Beschreibung ermöglicht uns zu erkennen, wo die Strukturunterschiede der Stratifizierung von Wissen in beiden Traditionen liegen. In der islamischen Tradition ist gar nicht vorgesehen, dass das Wissen den Zirkel der Wenigen verlässt. Meddeb führt das eingehend im Zusammenhang mit der Frage der Modernisierung aus. Ich möchte hier aber mit der Frage der Rezeption und Übermittlung der Antike anknüpfen. Sie betrifft – eigentlich bekanntlich – antike (aristotelische) Schriften zur Fragen der Natur (besonders der Medizin) und darüber hinaus die Logik. Die arabischsprachige Rezeption der Antike scheint die Bereiche der Politik, aber auch das Theater ignoriert zu haben. Und das könnte einen Wink zu den folgenreichen immanenten Defiziten der islamischen Tradition geben, die im Bereich der Demokratie und der Öffentlichkeit liegen. Von ihrer eigenen Tradition her könnten – wenn man nun verallgemeinern darf – die islamisch geprägten Gesellschaften keinen Weg zur offenen Gesellschaft finden, sondern müssten an Stränge aus der westeuropäischen Entwicklung anknüpfen. Bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchte der Sultanshof, durch administrative, institutionelle und Verfassungsreformen nach westeuropäischem Vorbild die Krise des Osmanischen Reichs zu überwinden. Dem Zerfall des Reiches konnten diese Reformmaßnahmen keinen Einhalt gebieten, aber sie schrieben Geschichte, die man heute Geschichte der modernen europäisch-türkischen Verflechtung nennen könnte.

Und genau diese Anknüpfung und Verknüpfung gibt es auf dem Balkan, in Bosnien-Herzegowina und in anderen Ländern mit muslimischen Mehrheiten. Sie gibt es selbstverständlich auch in der Türkei, aber die bosnischen Muslime vereinigen in sich auf eine ganz eigene Weise das Europäisch-Orientalische, weil sie das geschichtliche Produkt der christlich und islamisch geprägten Welten, einer gemeinsamen Geschichte mit vielen Brüchen und tief greifenden Diskontinuitäten sind. Eine solche Wahrnehmung könnte auch für die geschichtlichen Verflechtungen zwischen Zentren und Peripherien Europas empfänglich machen.

Sollten sich einmal die überwiegenden europäischen Diskurse dafür öffnen und etwa begreifen lernen, dass diese islamisch geprägten Kulturkreise, gesellschaftlichen Gruppen und Völker zur europäischen Geschichte gehören, könnten sich daraus unerwartete Nachwirkungen ergeben. Warum sollte es nicht möglich sein, dass man sich einmal künftig auch in den außereuropäischen, orientalisch-islamischen Ländern auf die geschichtlichen Wurzeln besinnt, die ihre Kulturen mit der westlichen verbinden. Das sind diskursive Wege der Aneignung von Geschichte. Dann wäre auch dort eine Auseinandersetzung – von innen heraus, nämlich aus dem Bewusstsein um die geschichtliche Verflechtung – mit demokratischen und politischen Defiziten der eigenen Tradition prinzipiell möglich, wodurch sich neue Wege für die dortigen Gesellschaften ergeben könnten.

1

»Islam in Europe«, in: New York Review of Books, No. 15, 5.10.06.

2

Al-Ahram Weekly Online.

3

Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999.

4

Mitunter funktioniert das auch so, dass historisch-geopolitische Gebiete, die weder geografisch noch kulturgeschichtlich zum »Balkan« gehören, wie das Kroatiens, dazugerechnet werden.

5

FAZ, 16.9.06.

6

Bei Edgar Hösch: Geschichte der Balkanländer, 20024, nachzulesen: »Die politischen Vertreter des christlichen Abendlandes, die wegen ihrer divergierenden Einzelinteressen schon beim Heraufkommen der osmanischen Gefahr zu keiner gemeinsamen antiislamischen Abwehrfront zusammenfinden konnten, hatten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert noch erheblich größere Schwierigkeiten, sich bei der anstehenden Beerbung des kranken Mannes am Bosporus und in den einzelnen Phasen einer aktuellen Krisenbewältigung auf eine einheitliche Linie zu einigen.«

7

Bei solch ahistorischem Vorgang muss natürlich auch unter den Tisch fallen, dass die Seldschuken und Osmanen Jahrhunderte auch über Araber und Perser herrschten, es Kriege unter »Muslimen« ebenso wie »Konfessionskriege« und entsetzliche Gewaltexzesse unter mohammedanischen Sekten gab (der Assassinen etwa, die bis in westliche Sprachen als Ausdruck für Meuchelmörder Eingang fanden).

8

Die Baseler Historikerin Almut Höfert hat auf diese Art historischer Unterfütterung des Kulturkampfs einen Monat später mit spitzer Feder geantwortet und für jeden begreifbar gemacht, wie wichtig ein differenziertes Vorgehen ist (FAZ, 19.10.06).

9

G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt 1971, Bd. 19, S. 518–519. Er beruft sich dabei in der Hauptsache auf die Schilderungen des jüdischen Aristotelikers Moses Maimonides (1135–1204).

10

Georg Ostrogorsky: Byzantinische Geschichte 324–1453, München 1996. (Die erste deutsche Ausgabe des Handbuchs erschien 1965) – Ich erwähne hier auch gerne, dass der russische Historiker in Belgrad lehrte, nachdem er aus der Sowjetunion emigrierte, und dort die byzantinische Forschung auf neue Grundlagen stellte; von dieser Forschungstradition gibt es in Belgrad heute leider nur noch seltene Spuren.

11

»Konstantin XI. kämpfte bis zur letzten Stunde und fand im Gefecht den Tod, den er suchte. Drei Tage und drei Nächte dauerte die Plünderung. … Güter von unschätzbarem Wert, Kunstdenkmäler und kostbare Handschriften, Heiligenbilder und Kirchengeräte, wurden vernichtet.« (Ostrogorsky)

12

Ich schreibe das unter Anführungsstrichen, weil dieser Ausdruck an dieser Stelle historisch völlig falsch ist. Für die Zeitgenossen im Westen war eine Welt der Christenheit untergegangen, ein Teil des Römischen Reiches, die Provinzen mit ihren alten lateinischen Namen: Dalmatia, Illyricum, Moesia, Pannonia, die noch bis in die Epoche des Auseinanderbrechens des Osmanischen Reiches gegolten hatten.

13

Herfried Münkler: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 1985, S. 20.