Siegfried Knittel

Komplexes Viereck plus USA

Warum die Länder Nordostasiens sich so schwer verständigen können.

 

 

Nordkoreas Raketentest im Juli und der Nukleartest im Oktober dieses Jahres haben deutlich gemacht, wie fragil die Sicherheit Nordostasiens ist. Politik in der Region Nordostasien wird nach anderen Gesetzen betrieben als in Europa. Sie ist viel unverhüllter Machtpolitik, und dem Nationalstolz kommt dort die Bedeutung zu, die er bis zum Ersten Weltkrieg in Europa besaß. Das macht die Lösung der Konflikte zwischen den Staaten der Region, in denen sich territoriale und materielle Interessen vermischen, so schwierig.

Japan, die beiden Koreas und China haben bis heute zu keinem friedens- und vertrauensvollen Miteinander gefunden. Ein Prozess wirtschaftlich-politisch-militärischer Integration wie in Europa, der an die Auseinandersetzung der BRD mit der Nazivergangenheit Deutschlands gebunden war und die Schaffung gemeinsamer europäischer Institutionen, mittels derer unterschiedliche Interessen abgeglichen und die Schranken zwischen den einzelnen Ländern abgebaut werden konnten, entwickelte sich in Nordostasien nicht.

Alle Länder der Region waren nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg vor allem mit sich selbst beschäftigt. Sie knüpften damit an jene Form der Nichtwahrnehmung der Nachbarn an, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert zwischen ihnen geherrscht hatte. Dazu waren China und Nordkorea Teile der feindlichen kommunistischen Welt hinter dem Eisernen Vorhang. Südkorea orientierte sich zwar wirtschaftlich ganz an der ehemaligen Kolonialmacht Japan und politisch-militärisch an den USA, war aber zugleich wie zu Zeiten des feudalen Hermit Kingdom ganz auf nationalistische Abgrenzung bedacht und sah nach der Erfahrung des Koreakriegs in China und Nordkorea den tödlichen Feind. Japan lehnte sich ganz an die USA an und verstand sich als wirtschaftliche Großmacht Ostasiens. Die imperialistische Vergangenheit, Krieg und Kolonialisierung der Nachbarländer waren in Japan, aber auch in den Nachbarländern, kein gesellschaftlich diskutiertes Thema.

Positionswechsel zwischen China und Japan

Es gab und gibt jedoch zugleich eine ältere Beziehungsebene zwischen China, Japan und Korea. China als das größte Land der Region mit der ältesten Kultur bezeichnete sich immer mit dem Schriftzeichen ka, das für Blume, Kultur und Zivilisation steht. Aber zur »Blüte« konnte es keine gleichberechtigten Beziehungen geben. Die Blüte betrachtete die anderen Länder als kulturlos, als Barbaren.(1)

Ein umso größerer Affront war es deshalb für China, dass der Barbar Japan, nach der Öffnung des Landes und der Hinwendung zu den Ländern des Westens, gegenüber China und Korea Ende des 19. Jahrhunderts einen Überlegenheitsdünkel entwickelte und sie als minderwertige Völker betrachtete. Im Streit um Korea kam es dann zum ersten Krieg zwischen China und Japan, in dem die chinesische Armee gegen die nach westlichem Vorbild geschulte und ausgerüstete Armee keine Chance hatte und gegen seinen langjährigen Vasallen verlor. Vor allem aber der von 1931 bis 1945 dauernde Krieg mit Japan wurde in China als enorme Demütigung erlebt. Dem Terror der Armee des verachtenswert kleinen Inselstaates an der Peripherie des großen Chinas hilflos ausgeliefert zu sein, war für China ein Trauma, das man mitdenken muss, wenn man die heutige Rivalität beider Länder verstehen will.

Auch nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg änderte sich noch nichts am Selbstverständnis Japans als der überlegenen Nation Ostasiens, weil das Land nach wie vor die dominierende Wirtschaftsnation der Region war. Dies nährte weiterhin das japanische Selbstverständnis von der geistig-materiellen Überlegenheit über die Nachbarn auf dem asiatischen Festland. Mit dem beginnenden Aufstieg Chinas nach Deng Xiaopings Machtübernahme Anfang der Achtzigerjahre begann sich das Kräftegleichgewicht jedoch zu verschieben. Heute muss Japan lernen, wieder die Nummer zwei der Region zu werden.

Dem Investmenthaus Goldman Sachs zufolge wird die japanische Wirtschaft bis zum Jahr 2050 nicht wachsen – die Gründe liegen vor allem in der rapiden Vergrauung der Gesellschaft und den damit wachsenden Kosten für das Sozialsystem. Chinas Wirtschaft aber wird bis dahin dreißigmal größer sein als heute und sechsmal größer als die Wirtschaft Japans. Schon heute hängt das Wohlergehen Japans ganz wesentlich vom Wachstum der chinesischen Wirtschaft ab. China, nicht die USA, ist der wichtigste Auslandsmarkt für die japanische Industrie. China wird wieder zum großen Bruder und knüpft an die frühere, gewissermaßen naturgegebene Rolle als Hegemon der Region an.

Das erfordert vor allem auch ein Umdenken der politischen Klasse Japans. Gerade in der politischen Generation des neuen Premierministers Abe sind ja Vorstellungen virulent, denen zufolge Japan wieder eine selbstbewusstere Politik verfolgen müsse. Bei ihnen ist immer noch jener Überlegenheitsdünkel präsent, der das Denken der Militärs und Bürokraten der Vorkriegszeit kennzeichnete und der die ideologische Basis des japanischen Imperialismus war. Man muss befürchten, dass die Vorstellungen Abes bezüglich einer neuen Verfassung, die nicht mehr den Makel einer von den USA aufgezwungenen Konstitution tragen soll, von diesem Denken beeinflusst sind. Das macht die vernünftige Überlegung, dass Japan im Rahmen einer solchen neuen Verfassung das Pazifismusgebot lockern soll, vor allem aber auch die neu entfachte, im Zusammenhang mit dem nordkoreanischen Atomwaffenversuch zu sehende Diskussion um japanische Atomwaffen, so ungemütlich. Wollte Japan sich eigene Atomwaffen beschaffen, hieße das, dass man dem atomaren Schild der USA nicht mehr traut. Möglicherweise steckt dahinter gar der Wunsch, den letzten Makel der militärischen Niederlage auszumerzen. Damit aber würde die strategische Partnerschaft, die Premierminister Abe immer wieder aufs Neue beschwört, in Frage gestellt und in letzter Konsequenz das Sicherheitssystem Nordostasiens.

Die Besuche des neuen Premierministers in China und Südkorea haben jedoch deutlich gemacht, dass ihm an einer Verständigung mit den Nachbarn sehr gelegen ist. Er hat damit gezeigt, dass er zu einer pragmatischen Politik fähig und nicht einfach der Gefangene einer Obsession von Japans Größe ist. Allerdings hatte die chinesische Seite ein großes Zugeständnis gemacht, indem sie akzeptierte, dass Abe sich nicht über die Frage späterer Besuche am Yasukuni Schrein äußerte, in denen der vierzehn Hauptkriegsverbrecher Japans gedacht wird. Damit hat Abe aber zum Ausdruck gebracht, dass ihm an einer kritischen Auseinandersetzung mit dem japanischen Imperialismus nicht gelegen ist.

Zugleich hat der Besuch Abes in Beijing nur die Atmosphäre zwischen den beiden Ländern verbessert, die Lösung der realen Konflikte hat er nicht vorangebracht. Nach wie vor ist keine Lösung in der Frage der Erdgasförderung in zwei Arealen zwischen dem chinesischen Festland und der japanischen Inselgruppe Okinawa in Sicht. Da maritime Einheiten beider Länder in dieser Region agieren, um die Ansprüche beider Seiten zu dokumentieren, ist nicht auszuschließen, dass es zu einem ungewollten Zusammenstoß von Schiffen beider Länder kommen könnte, ähnlich dem eines US-Aufklärers und eines chinesischen Abfangjägers 2001 vor der chinesischen Küste. Die japanisch-chinesischen Beziehungen sind aber immer noch so fragil, dass man befürchten muss, ein solcher Konflikt würde nicht so friedlich gelöst werden wie der US-chinesische.

Ähnliches kann auch im Streit um die von Japan und Südkorea beanspruchte Inselgruppe Tokto (koreanisch)/Takeshima (japanisch) passieren. Beide Länder beanspruchen die von Südkorea besetzte Inselgruppe. Und vor allem der koreanische Nationalismus, der sich in der Kolonialzeit als anti-japanischer Nationalismus konstituiert hat, könnte dazu führen, dass eine eigentlich ungewollte Konfrontation ausufert.

Die Koreas und China – schwieriges Dreieck

Auch die Beziehung der beiden Koreas zu China sind sehr instabil. Korea war über lange Jahrhunderte hinweg ein Vasallenstaat, der sich selbst kleine Blüte nannte und konfuzianischer sein wollte als China, um sich dann im 18. und 19. Jahrhundert gänzlich von der Außenwelt abzuschließen. Im Koreakrieg waren beide Länder Kriegsgegner, und in der Folge wurde China von Südkorea neben dem Bruderstaat im Norden als kommunistischer Erzfeind betrachtet. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1992 hatte einen rapiden wirtschaftlichen Austausch zur Folge. Heute ist China Südkoreas größter Handelspartner noch vor den USA und eine große Werkbank der koreanischen Industrie. Der rapide Aufstieg Chinas hat in Südkorea widersprüchliche Gefühle ausgelöst. Zum einen existiert Bewunderung und hohe Erwartung, von Chinas Aufstieg zu profitieren, zum anderen gibt es aber auch die Furcht, vom Riesen geschluckt zu werden. Gleichwohl diskutiert man in Regierungskreisen, ob China nicht ein besserer Verbündeter wäre als die USA.

Die Ängste vor dem alten und neuen Riesen China werden alle paar Jahre nicht zuletzt durch die von chinesischen Historikern immer wieder neu aufgeworfene Frage neu entfacht, ob das von 37 v. Chr. bis 668 n. Chr. existierende nordkoreanische Königreich Koguryo ein Teil Chinas war. Dieser Staat ragte weit über die heutige Grenze nach Nordchina hinein. Man kann davon ausgehen, dass diese wissenschaftlichen Diskussionen von politischer Seite in China zumindest gebilligt werden, zumal dies auch in chinesischen Geschichtsbüchern gelehrt wird. China will damit wohl den Boden bereiten, um im Krisenfall in Nordkorea historische Rechte geltend machen zu können. Chinas Vorstellung von der großen Bruderrolle gegenüber Korea ist die des Hegemons Nordkoreas. In Südkorea ist man in dieser Frage sehr sensibel, weil Koguryo im nationalen Selbstverständnis der Koreaner eine hohe Bedeutung zukommt. Umgekehrt gibt es in Korea Stimmen, die die Wiederaneignung der heute auf chinesischer Seite liegenden Gebiete Koguryos an Korea fordern.

Was die südkoreanischen Ängste vor dem Nachbarn weiter schürt, ist der wirtschaftliche Einfluss China, in Nordkorea, der von vielen in Südkorea als Form von »Neo-Kolonialismus« wahrgenommen wird. Im Wettstreit mit Südkorea um den größeren wirtschaftlichen Einfluss hat China jedenfalls die Nase vorn. Nordkorea wickelt 40 Prozent seines Außenhandels mit China ab, mit Südkorea nur etwa 25 Prozent. Südkorea ist nur in zwei abgeschlossenen Arealen in Nordkorea wirtschaftlich aktiv, im Industriepark Kaesong, in dem mittlerweile 25 südkoreanische Firmen von nordkoreanischen Arbeitskräften produzieren lassen, und im Ausflugspark Mont Kumgang, wohin Südkoreaner gegen teures Geld reisen, um dort ein Wochenende in einer äußerst reizvollen Berglandschaft verbringen können. China hingegen ist mit seinen Infrastrukturprojekten in weiten Teilen des Landes vertreten. Es baut Verkehrsverbindungen wie die Eisenbahnlinie von der chinesischen Grenzstadt Tumen nach Chongjin am Japanischen Meer, wo es einen Hafen für fünfzig Jahre gepachtet hat.(2) China ist in verschiedenen Minenprojekten engagiert, bei denen Kohle, Eisenerz und vor allem eine Reihe seltener, in der High-Tech-Industrie benötigter Metalle in Nordkorea gefördert werden. So fürchtet man heute in Südkorea, dass China wirtschaftliche Dominanz in Nordkorea erlangt und das Land zu einem Vasallenstaat macht. Paradoxerweise sind aber die meisten in den südkoreanischen Think Tanks mit der Vereinigung Koreas befassten Wissenschaftler davon überzeugt, dass China die koreanische Vereinigung befürwortet.

Ein wesentlicher Antrieb für die Wirtschaftshilfe beider Länder ist die Furcht vor einem Zusammenbruch Nordkoreas. Südkorea fürchtet vor allem die Flüchtlingsströme aus Nordkorea und die Kosten für den Wiederaufbau des Nordens. Es möchte daher mittels Industrieprojekten wie Kaesong schon vor einer Vereinigung die Modernisierung Nordkoreas in die Wege leiten. Auch China fürchtet die Flüchtlingsströme. Ihm ist aber vor allem daran gelegen, dass Nordkorea als Pufferstaat zu dem mit den USA verbündeten Südkorea erhalten bleibt.

Südkoreas Verhältnis zu Nordkorea ist auch deshalb so schwierig, weil die Vereinigung, gar die Versöhnung mit dem Norden für die südkoreanische Gesellschaft eine Frage der nationalen Identität ist. Identitätsfragen sind aber meist nicht zu hinterfragen, weil sie emotional so hoch besetzt sind. Diese Einstellung zum Bruderstaat ist diametral verschieden von der Nordkoreapolitik der Bush-Administration. Südkorea sieht in Nordkorea den armen kleinen, aber auch widerspenstigen Bruder, dem man mit Nachsicht begegnen muss, keinesfalls das »Reich des Bösen«. Man will deshalb an der Kooperation mit Nordkorea in Kaesong und dem Mount Kumgang festhalten, auch wenn die USA behaupten, dass die Gelder, die aus dem Süden in diese Projekte fließen, zur Waffenentwicklung verwendet würden. Zu Recht hat die Seouler Regierung darauf hingewiesen, dass die Reduzierung der Getreidelieferung von 500000 auf 100000 Tonnen faktisch die schwerste der von allen Staaten vollzogenen Sanktion ist.

Nordkoreas Erpresserpolitik

Die jahrhundertelange Erfahrung, immer größeren Mächten ausgeliefert zu sein, die ihren Höhepunkt in der Unterwerfung unter das Kolonialregime der Japaner hatte, fand in Nordkorea in der Juche-Ideologie ihren Niederschlag, einer Verbindung aus Vorstellungen nationaler Autarkie und Marxismus, die an das Selbstverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts eines von der Außenwelt vollkommen abgeschlossenen Landes anknüpfte. In Südkorea führte diese Erfahrung zur Herausbildung eines starken Nationalismus, der wesentlich der Kompensation des nationalen Minderwertigkeitsgefühls diente. Daraus resultiert in beiden Staaten ein starkes Bedürfnis nach nationaler Anerkennung. Der Süden hat durch seinen wirtschaftlichen Erfolg ein Stück solcher Anerkennung gewonnen. Der Norden aber – obwohl nach Ende des Koreakriegs mit den besseren Voraussetzungen aufgrund der von den Japanern aufgebauten industriellen Infrastruktur – hat seit dem Zusammenbruch des Ostblocks einen großen Niedergang erlebt und musste mit ansehen, wie der verhasste Süden einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg erlebte.

Seine wirtschaftliche Abhängigkeit vom erfolgreichen Süden und vom neuerdings ebenfalls erfolgreichen China sucht Nordkorea dadurch zu mindern, dass es beide gegeneinander ausspielt. Auch die Raketen- und Nukleartechnologie sind ein Mittel, um Hilfe zu erpressen. Sie dienen aber auch dazu, sich im Wettstreit mit dem Süden den Respekt zu verschaffen, den man auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Erfolge nicht gewinnen konnte. Dabei geht es nicht um Respekt und Anerkennung unter Gleichen, sondern darum die eigene Überlegenheit zu demonstrieren sowie die Unterlegenheit zu kaschieren.

Die Unfähigkeit, in anderen Kategorien als denen der Über- oder Unterlegenheit zu denken, macht deutlich, wie schwierig der Integrationsprozess Nordkoreas in die Staatengemeinschaft ist; wie schwierig aber auch eine Vereinigung werden wird. Das Verhältnis zu Südkorea macht deutlich, wie sehr Nordkorea eine ausschließlich auf Eigeninteresse bedachte Politik betreibt. Die nordkoreanische Führung wird niemals müde, in den beiderseitigen Verhandlungen vom Bruderland zu sprechen und doch Raketen und Atomwaffen zu testen, deren Ziel Südkorea ist. Dabei sieht Nordkorea in den USA den eigentlichen Gegner, den man nur mit der Androhung, Südkorea zu beschießen, zu erpressen sucht. Ohne Scham nimmt man vom Süden alle gebotene Hilfe, obwohl man doch die eigene Autarkie so hochhält, aber in der Frage der atomaren Abrüstung will man nur mit den USA verhandeln. Faktisch betrachtet Nordkorea den Süden nur als Zahlkuh, während man die wirklichen Verhandlungen mit den Amerikanern sucht, nicht zuletzt, weil man in der Anerkennung durch die USA die eigenen Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren sucht.

Nach außen wieder als stark zu erscheinen, diente dabei mit Sicherheit der Legitimierung der Macht nach innen. Wenn Nordkorea sich jetzt bereit erklärt hat, an den Sechsergesprächen um seine Atomrüstung wieder teilzunehmen, kommt es als Atommacht an den Verhandlungstisch zurück. Das heißt, die Verhandlungen werden nicht darüber geführt, dass Nordkorea keine Atomwaffen entwickelt, sondern ob es seine bestehenden abschaffen wird. Zudem wird Pyöngyang vor allem über die finanziellen Sanktionen sprechen wollen, die mit Zustimmung der USA jetzt Thema der Gespräche werden sollen. Das alles wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Es spricht einiges dafür, dass das Regime gar nicht wirklich über die Abschaffung seiner Atomwaffen verhandeln, sondern wiederum bei China und Südkorea gut Wetter machen will, um dringend benötigte Lebensmittel zur Überbrückung des Winters zu bekommen und einer zunehmend distanzierteren Haltung Chinas zu entgehen. Einiges spricht auch dafür, dass Nordkorea den Gesprächen zugestimmt hat, weil seine Wissenschaftler noch längere Zeit brauchen, um eine erfolgreich funktionierende Bombenzündung zu bauen, was bei der am 9. Oktober gezündeten Bombe wahrscheinlich nicht der Fall war.(3)

Viel wird darüber spekuliert, ob China nicht stärkeren Einfluss zur Verhinderung des Atomversuches hätte nehmen können. Eine oft vertretene Annahme geht davon aus, dass China die nordkoreanische Atombombe nicht als besonders bedrohlich betrachtet, weil sie amerikanische Militärkräfte in Korea bindet und die USA vom Vermittlungswillen Chinas abhängig macht. Andere argumentieren, der Nuklearversuch sei für China als dem heimlichen Hegemon ein großer Gesichtsverlust gewesen, und es habe deshalb den Sanktionen zugestimmt. Die Zweideutigkeit der chinesischen Politik, Zustimmung zu den Sanktionen, aber, wie Südkorea, keine sehr aktive Beteiligung an deren Durchsetzung, lässt keinen eindeutigen Schluss zu, welche der Theorien der Realität am nächsten kommt. Die meisten Analytiker gehen davon aus, dass China nur begrenzte Einflussmöglichkeiten auf Nordkorea hat, weil es seine Wirtschaftshilfen wegen der Versorgungslage in Nordkorea nicht einfach einstellen kann. Nordkorea hat hier ein starkes Erpressungsmittel gegen China aber, auch gegenüber Südkorea in der Hand. Südkorea wird im Notfall die 400000 Tonnen Reis nach Nordkorea schicken, die es als Sanktionen zurückgehalten hat.

Möglicherweise hat Nordkorea aus dieser Position der Unangreifbarkeit heraus mittels des Nuklearversuchs versucht, Südkorea und China auf die eigene nordkoreanische Seite zu ziehen. Manches spricht dafür, dass das Regime in Pyöngyang mittels der Raketen- und Nukleartests die sowieso unstabile Situation in der Region noch weiter zuzuspitzen sucht. Die Verschärfung der Sicherheitslage in der Region nach den Raketentests im Juli hat ja in Japan prompt dem konservativen Kandidaten für die Nachfolge Premier Koizumis Shinzo Abe in den Umfragen des Sommers Prozentpunkte gebracht. Abe hatte sich 2002 in der Frage der Lösung des Entführtenproblems als ausgesprochener Hardliner profiliert und wurde mit dieser Haltung in der japanischen Bevölkerung populär. Mit Sicherheit war sich die nordkoreanische Führung darüber klar, dass der Raketentest Abe im Wettbewerb um das Premierministeramt helfen würde. Sollte Kim Jong Il mit seiner Politik auf eine Verschärfung der Sicherheitslage in der Region abzielen, hat er mit Shinzo Abe den richtigen Partner auf der japanischen Seite. Es war vor allem die japanische Regierung, die im Sicherheitsrat für Verhängung von Sanktionen, die die Anwendung von Gewalt einschlossen, plädierte.

Die Stellung der USA in Ostasien

Die USA sind in den Augen Nordkoreas ihr eigentlicher Feind. Von ihnen sieht sich das Regime aufgrund der Erfahrung des Koreakriegs, vor allem aber seit der Amtsübernahme durch Präsident Bush bedroht. Und doch sind die USA zugleich das Land, nach dessen Anerkennung das Regime in Pyöngyang am meisten giert. Paradoxerweise steht das Regime, auf dessen Zusammenbruch die Hardlinerfraktion im Weißen Haus abzielte, heute wirtschaftlich, politisch und militärisch besser da als zur Zeit der Vorgängerregierung. Die scheinbar so kompromisslose Haltung der Bush-Administration hat genau dazu geführt, dass das Regime in Nordkorea heute über die Bombe verfügt, zu der es zur Zeit der Clinton-Administration mit ihrer angeblich so nachsichtigen Politik nicht gekommen ist.(4)

Man muss allerdings die Nordkoreapolitik der USA als Teil seiner gesamten Ostasienpolitik betrachten. Da zeigt sich, dass diese Politik sehr vielschichtiger ist, als es aufgrund des kompromisslosen Wortgeklingels gegenüber Nordkorea zu sein scheint. Kirstin Wenk schrieb nach dem Nuklearversuch Nordkoreas zu Recht, dass neben China auch die USA eigentlich kein Interesse an der Lösung der Wiedervereinigung Koreas haben dürften, weil sie dann keinen Grund mehr hätten, in Korea Truppen zu stationieren.(5) Die wichtigsten Gründe für die Stationierung der US-Truppen in Südkorea dürften China und die Taiwanfrage sein. Ob China zum künftigen Widerpart oder Partner der USA in der Region und letztlich auch in der Weltpolitik werden wird, ist noch offen. Die ungelöste Koreafrage ist so gesehen der vorgeschobene Grund für die Anwesenheit der US-Truppen in Südkorea. Ein vereinigtes Korea erforderte jedenfalls keine US-Truppen mehr in Korea. Offensichtlich ist die US-Administration, wenn sie es mit einem mächtigen Gegner zu tun hat, durchaus zu einer differenzierten Politik fähig.

Paradoxerweise spricht jedoch vieles dafür, dass auch die chinesische Führung die Anwesenheit der US-Truppen in der Region durchaus bejaht. Solange nämlich die USA als Schutzmacht Japans agieren, ist die Gefahr einer japanischen atomaren Bewaffnung nicht sehr groß. Davor aber fürchten sich sowohl China als auch Südkorea. Aber China könnte nur unter großem Gesichtsverlust international wie auch im eigenen Land offen zugeben, dass es die Anwesenheit der US-Truppen in der Region bejaht. Andererseits wäre es für China ein Affront, wenn sichtbar würde, dass die USA ihre Truppen zur Abwehr einer militärisch-aggressiven chinesischen Außenpolitik in der Region stationiert haben. Die gegenwärtige Situation hilft so allen Parteien, ihr Gesicht zu wahren.

Abgesehen von der Nordkoreafrage hat also die politische und militärische Präsenz der USA in der Region eine beruhigende Funktion. Sie hilft gewissermaßen den Umstand auszugleichen, dass die drei, mit Nordkorea vier Länder es nicht geschafft haben, ihre Beziehungen durch die Bildung zwischenstaatlicher Institutionen auf eine stabile Vertrauensbasis zu stellen. Es hat sogar Überlegungen gegeben, die Sechsergespräche nach dem allerdings nicht absehbaren Ende der Verhandlungen mit Nordkorea zu einer permanenten Institution zu machen.

Allen drei Ländern, von Nordkorea ganz zu schweigen, scheint es aufgrund ihrer jahrhundertelangen Isoliertheit schwer zu fallen, vertrauensbildende Institutionen zu schaffen, mittels derer sie ihre Konflikte lösen können. Die europäischen Staaten haben sich viel öfter bekriegt als Korea, Japan und China. Aber sie haben auch immer miteinander gesprochen. Das ist eine Tradition, die den Ländern Ostasiens fehlt und die ihnen heute den Umgang miteinander erschwert.

Die Schwierigkeit, solche vertrauensbildenden Institutionen zu schaffen, hat aber wohl auch damit zu tun, dass China und Südkorea, die vor 100 Jahren nur Objekte kolonialer Begierden waren, heute zu einer ihnen noch völlig ungewohnten Machtfülle gekommen sind. China steht an der Schwelle zur Supermacht und Südkorea ist die elftgrößte Industrienation. Das müssen vor allem die jeweiligen Gesellschaften erst verarbeiten. Ihr mit dem wirtschaftlichen Aufstieg entstandener Nationalismus ist Ausdruck einer neu gewonnenen Stärke, in der die Erinnerung an die erlittene Demütigung durch den Kolonisator Japan jedoch mächtig mitschwingt. Die japanische Gesellschaft hat die Phase eines solch aggressiven Nationalismus Ende des 19. Jahrhunderts durchlaufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber ist er auf gesellschaftliche Randgruppen beschränkt, mit denen die gesellschaftliche Majorität nichts zu tun haben will. Wenn nun der Nationalismus in China und Südkorea wesentlich Ausdruck einer Identitätssuche dieser Gesellschaften ist, so besteht der japanische Nationalismus wesentlich in der Nabelschau als Opfer der Atombomben und der vielen eigenen Kriegstoten, verbunden mit der Unfähigkeit, die Opfer des imperialen Krieges zu sehen. Die Selbstzentriertheit der drei Gesellschaften ist so wesentlicher Grund für die Schwierigkeit der Staaten, zu einem organisierten Miteinander zu finden.

1

Ryotaro Shiba: Kono Kuni No Katachi (Die Gestalt des Landes), Tokyo: Verlag Bungei Shunju 1990.

2

Michael Rank: »Minerals railways draw China to North Korea«, in: Asia Times, 17.12.05.

3

»North Korea’s Nuclear Test: The Fallout«, in: International Crisis Group: Asia Briefing Nr. 56 13.11.06 S. 3, http://www.crisisgroup.org/home/index.cfm?id=4502&l=1

4

»North Korea: 2007 and beyond«, S. 22, Transkript einer Diskussion am 14.9.06 in The Brookings Instititution, Center for Northeast Asian Policy Studies, http://www.brookings.edu/fp/cnaps/ events/ 20060914nk.pdf

5

Kirstin Wenk: »Nordkoreas heimliche Freunde«, in: Die Welt, 16.10.06.