Peter Schyga

Imperium der Freiheit?

Die USA zwischen Befreiungsemphase und weltpolitischer Unvernunft

 

 

Schon im Gründungsakt stellten die USA den Anspruch als Weltordnungsmacht auf: eine von den alten Mächten befreite demokratische Republik, die sich als Refugium der Freiheit verstand. Dieses Freiheitsbewusstsein war immer mit einer Befreiungsmission gekoppelt, die nicht selten expansionistische Züge annahm. Unser Autor zieht einen historischen Bogen über Eckpunkte US-amerikanischer Außenpolitik, ihren Grundlegungen und ihren aktuellen Verflachungen durch die Bush-Administration.

Vor den US-Kongresswahlen im November 2006 meldeten sich Teile der liberalen intellektuellen Elite der Vereinigten Staaten kollektiv mit ihrer Kritik an einer seit langem betriebenen fundamentalen Fehlentwicklung US-amerikanischer Innen- und Außenpolitik in einem »Liberalen Manifest« zu Wort. Ihr Appell: Vernunft wieder zum Fundament amerikanischer Politik werden zu lassen. »Der unter der Bush-Regierung grassierende Machtmissbrauch kann nicht allein dem Präsidenten und seinem Vizepräsidenten zur Last gelegt werden; er ist vielmehr einer konservativen Bewegung anzukreiden, die seit Jahrzehnten die Fähigkeit der Regierung unterminiert, vernünftig und wirksam zum Wohl der Allgemeinheit zu handeln.«(1)

Diese Wortmeldung reiht sich in eine seit etlichen Monaten in liberalen Medien wie etwa der New York Times zunehmend aggressiver formulierte Kritik an der gegenwärtigen Innen- und Außenpolitik ein. Es hat allerdings lange gedauert, bis man sich entschließen konnte, die Verfassungsgrundsätze in Frage stellende Politik der Bush-Administration grundsätzlich anzuprangern. Der Impetus, sich nach dem 11. September um seinen Leader zu scharen, wie das in Krisensituationen üblich ist, hat lange vorgehalten. Erst die Kongresswahlen vom November 2006 wurden eine Abstimmung über eine insgesamt verfahrene Politik der Bush-Administration, die kein innenpolitisches Problem lösen konnte und außenpolitisch eine »beschämende Vergangenheit« produziert hat. Eine Lösung der verfahrenen außenpolitischen Situation ist freilich noch lange nicht in Sicht.

Im Zurückweisen der Kritikkeule, Liberale seien unpatriotisch, setzen die Unterzeichner des Manifestes auf die Grundsätze und den Geist der Verfassung: »Auch wir Liberale lieben dieses Land. Wahrer Patriotismus gedeiht nicht auf dem Boden von Großspurigkeit und Verleumdung. Patriotismus zeigt sich vielmehr im Festhalten an den Idealen unserer großartigen Verfassung.« Es ist die Rede davon, dass »wirkliche Feinde eine reale Verteidigung erfordern, keine Hingabe in der Art Wahnsinn, wie wir sie im Irak erleben«, von der Notwendigkeit, eine »Weltordnung aufzubauen, die mit friedlichen Mitteln auf die ehrgeizigen Ziele aufstrebender Mächte in Asien und Lateinamerika eingeht«.

Drei zentrale Punkte amerikanischen Selbstverständnisses greifen die Verfasser heraus: Einen Patriotismus, der sich auf die Grundsätze der Verfassung und die Gesetze besinnen muss, eine Verfassung, die von Vernunft bestimmt ist und ebensolche Politik im Innern fordert, eine Gründungsvereinbarung, die zur Vision einer Weltordnung der Freien verpflichtet. Der Verweis auf die Verfassung und das Bewusstsein, dass es um eine neue Weltordnungspolitik in deren Geist gehen muss, leitet die folgende Skizze US-amerikanischer Geschichte. Sie fragt unter anderem, welche Anhaltspunkte es gibt, dass der Anspruch auf eine vernunftorientierte amerikanische Außenpolitik trotz der Erfahrungen mit imperialer Unvernunft und Gewalthybris ernst genommen werden kann.

Es ist keine neue Erkenntnis: Die USA ist nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die entscheidende – politische, ökonomische, militärische – Macht auf der Welt geworden. Es entstand ein brüchiges Fundament einer neuen Weltordnung, das zu stabilisieren Aufgabe der Gegenwart ist. Welche Gestalt die Ordnung auf welchem Fundament annimmt, ist noch lange nicht ausgemacht. Inwieweit die Vereinigten Staaten ihrer Verantwortung als Ordnungsmacht gerecht werden können, darum wird spätestens seit Bushs Krieg gegen den Terror gerungen. Schon Reagan hatte in Folge seiner konservativen Revolte die Frage von Krieg und Gewalt ins Zentrum außenpolitischen Machtkalküls gerückt. Das Gleichgewicht des atomaren Schreckens durch das SDI-Programm aufzuheben und damit Krieg gegen das »Reich des Bösen« führbar zu machen, wurde zwar nicht Realität. Doch die ideologische Feindbestimmung »wer nicht für uns ist, ist gegen uns« wirkte dank der langen und hartnäckigen Arbeit der Neocons. Der Boden war bereitet, zur Abwehr terroristischer Angriffe nach dem 11. September einen Krieg zu erklären. Bushs und des Pentagons Arroganz der Gewalt, angeheizt durch die Hybris einer Weltbeglückungssendung, wird gespeist durch die Machtfülle, die dem Präsidenten das amerikanische Volk und die Verfassung übertragen hat. Sie wird gefördert durch ein uneiniges und unentschlossenes Europa und provoziert von regional und weltweit operierenden, Menschen und Völker terrorisierenden Banditen. Erst das jüngste Wahlergebnis könnte diese Arroganz einschränken.

Keiner weiß genau, wie es im Nahen und Mittleren Osten weiter gehen soll, wie die politisch-ökonomische Entwicklung in Zentral- und Ostasien verlaufen wird, oder mit welchen Instrumenten fundamentalistischer Terrorismus wirksam zu bekämpfen ist. Doch es wäre schon ein wichtiger Schritt getan, wenn es gelänge, dem Gerede von Freiheit wieder Substanz zu geben: Und diese besteht nicht in der Akkumulation von Gewalt, sondern in der Konstituierung und Ausübung von Macht. Nur wenn das republikanisch-freiheitliche Wesen von politischer Macht anerkannt wird, nur wenn es auch anderen Völkern als Selbstverständlichkeit zugestanden wird und sich nicht auf formale Wahlakte beschränkt, nur dann macht es einen Sinn, sich auf die auch imperiale Tradition US-amerikanischer Gründungsideen der Verfassungsväter zu besinnen und den Anspruch glaubhaft zu vertreten und durchzusetzen, Leitfigur und Führer einer neuen Weltordnung mit den obersten Prinzipien Freiheit und Demokratie zu sein.

Was das »Liberale Manifest« aus den zahlreichen Kritiken der letzten Jahre heraushebt, ist die formulierte Erkenntnis, dass die Politik der konservativen Netzwerke mit Cheney, Rove, Bush und anderen an der Spitze die Grundsätze und den Anspruch amerikanischer Politik verrät.

Novus Ordo Seclorum

»Novus Ordo Seclorum – Annuit coeptus« und »In „God We Trust«. »Gnädig im Vertrauen auf Gott der Welt eine neue Ordnung weisen«, lautet der Anspruch und die Verpflichtung im Gründungsakt der Vereinigten Staaten. Die Ein-Dollar-Note zitiert dies grundlegende Selbstverständnis der Vereinigten Staaten. Diese Nation neuen Typs war im antikolonialen Freiheitskampf entstanden, und ihre Selbstdefinition sollte den Weg in die Freiheit weisen.

»Novus Ordo Saeclorum« hatte Hannah Arendt das fünfte Kapitel ihres Revolutionsbuches überschrieben. Gewiss nicht, weil sie mit den Gründervätern Vergil in Rom nachspürte, sondern weil sie den Gründungsakt, die Bildung des Neuen aus der Revolution heraus als »einen Anfang machen, novus ordo saeclorum« begriff.(2) Dieser Abschnitt ihrer Schrift handelt von den Unterschieden der Revolutionen in Frankreich und in Amerika, er handelt zentral von dem Unterschied zwischen Macht und Gewalt, von Vernunft, Wahrheit, Gesetz und Institutionen. »Gerade Macht hatte in Frankreich niemand. Der König und die Bürokratie des absoluten Staatsapparates hatten Gewalt über das Volk, und diese Gewalt sollte nun durch die Revolution auf das Volk übertragen werden. … Da die Männer der Französischen Revolution zwischen Gewalt und Macht nicht unterschieden, glaubten sie, dass sie auch diese ›präpolitischen Naturkräfte‹ (der gewalttätige, politische Organisationen und Gesetze missachtende Volksaufstand aus dem Massenelend, Anm.: P. S.) der Menge zu der legitimen Macht des Volkes gehörten… Dagegen verstanden die Männer der Amerikanischen Revolution unter Macht das genaue Gegenteil einer politischen Naturkraft; sie meinten die Institutionen und Organisationen, die nur auf wechselseitigen Versprechen, gegenseitigen Verpflichtungen und Abkommen beruhen. (Hervorhebung: P. S.)«(3)

Diese Verpflichtungen sollen – in der Formulierung von Benjamin Franklin – nicht nur für das eigene Volk verbindlich sein, sondern gegenüber der Welt, Verpflichtungen, die das »Liberale Manifest« von heute anmahnt: »Establishing the liberties of America will not only make that people happy, but will have some effect in dimishing the misery of those who in other parts of the world groan under despotism, by rendering it more circumspect, and inducing it to govern with a lighter hand …« In der Präambel der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 heißt es, die USA hätten die Absicht »unter den Mächten der Erde jene selbständige und gleichberechtigte Stellung einzunehmen, zu der sie das Naturrecht und Gott selber berechtigten«. Damit sind die USA bei ihrer Nationengründung mit dem Anspruch einer Weltordnungsmacht auf die Bühne getreten. Wie Hans-Christoph Schröder interpretierend betont hatte: »Die amerikanischen Revolutionäre haben jedoch überwiegend im internationalen Bereich große Zurückhaltung geübt und für andere Nationen zum Teil sehr konservative Perspektiven entwickelt. Selbst Benjamin Franklin sah als Folge der amerikanischen Revolution nicht die Beseitigung, sondern die Mäßigung despotischer Regime in anderen Teilen der Welt… Die internationalen Implikationen der amerikanischen Revolution sahen sie weniger darin, dass sie den Anstoß zu einer weltweiten Revolutionierung geben würde, sondern eher in der Schaffung eines Refugiums der Freiheit, das anderen Völkern offenstand.«(4)

Die Herausbildung von Manifest Destiny

Besondere historische Konstellationen, geografische Bedingungen, im Siedlungsprozess und in antikolonialer Befreiung gebildete Mentalitäten verschafften diesem doppelten Anspruch Plausibilität und verliehen ihm Wirkung: Der Atlantik bildete eine Barriere gegen Europa und gleichzeitig ein offenes Handelsmeer, die Weite des Landes ließ eine umfassende kolonial-imperiale Kontrolle durch die Kolonialmächte England, Frankreich und Spanien nicht zu. Das europäische Staatensystem befand sich seit dem Siebenjährigen Krieg auf dem eigenen Kontinent in prekärer Unruhe, die politische, ökonomische und militärische Kräfte band. Der nordamerikanische Kontinent verfügte seit Anbeginn über sämtliche natürliche Ressourcen, die zu eigenständiger Existenz und darüber hinaus zur Behauptung am Weltmarkt nötig waren. Die potenzielle Entwicklungskapazität war historisch einmalig Die europäischen Einwanderer wollten die individuelle und kollektiv-politische, kulturelle und wirtschaftliche Befreiung von den Restriktionen Europas. Die Amerikaner verstanden es, dieser Tatsache politisch durch die Weiterentwicklung ihres republikanischen Gemeinwesens Rechnung zu tragen. Entgegen älteren Auffassungen etwa von Montesquieu galt jetzt nicht nur die kleine feine Gemeinde als Ideal republikanischer Staatsverfassung, sondern wurde ergänzt durch die Dynamik der Expansion über den Kontinent. Revolutionäre Staatsgründung in einer Phase prä-industriekapitalistischer Expansion prägte Erfahrung, Motive, insgesamt die Mentalität der Gesellschaft.

Dabei verschränkte sich demokratisch-republikanisches Freiheitsrecht unter und gegenüber den eigenen BürgerInnen mit dem Anspruch und der Tat als »Renovator of the World« (Jonathan Edwards), die Expansion als »The Principle of our Institution« (Außenminister Everett um 1820) voranzutreiben. Eine Kolonie befreit sich im bewaffneten Kampf, widersteht Handelskriegen, überflügelt die kommerzielle Konkurrenz, kennt keine geografischen und politisch-militärischen Grenzen auf dem Kontinent und stattet sich mit einer geistig-moralischen Ausrüstung aus, die sie über den Rest der Welt erhebt: Freiheit gab es in der übrigen Welt nicht. Das amerikanische Freiheitsbewusstsein ist seit der Verfassung mit einer Befreiungsmission gekoppelt. Sie bündeln sich im Begriff Manifest Destiny. Unzureichend übersetzt mit offenbarer Bestimmung meint dieses Wort auch einen Hegemonialanspruch zur Durchdringung der Welt mit dem American System. Manifest Destiny formulierte sich als Konglomerat zwischen ideologischen Motiven und spezifischen politisch-ökonomischen Interessen, beides Produkte des Krieges (1812) gegen den Kolonialherren England. Die Vereinigten Staaten führten einen antikolonialen Befreiungskrieg, in dem die Abwehr des kolonialen Aggressors, der sich auf den Weltmeeren genauso tummelte wie – in amerikanischer Wahrnehmung – als Aufwiegler der Indianer gegen die Siedler agierte, verbunden wurde mit dem unverzichtbaren Anspruch auf den Kontinent.

Kontinentale Expansion

Nach dem Schöpfer der Idee von Manifest Destiny, Präsident Andrew Jackson (1812), habe Amerika das Recht und die Pflicht, den Geltungsbereich der Freiheit durch die ständige Verschiebung der Frontier gegen Barbaren und halbbarbarische Völker auf dem Kontinent auszudehnen. Die USA konnten die imperialen Mächte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – England, Frankreich, Spanien, Russland – gegeneinander ausspielen und gingen immer als Gewinner aus diesen Konflikten hervor.

Ein wesentliches Element US-amerikanischer Außenpolitik aus den Erfahrungen im Streit mit und gegen die europäischen Mächte hatte Georg Washingtons »Farewell Address« formuliert; Bündnispolitik dann und nur dann, wenn die eigene Stärke groß genug ist, ein Bündnis zu dominieren; oder, wie es Jefferson wenig später als Axiom ausdrückte, eine Außenpolitik des »Entangling Alliances with None« (sich niemals in Allianzen verwickeln lassen) zu steuern, was natürlich nicht bedeutete, fremde Mächte nicht gegeneinander auszuspielen oder Allianzen zu dominieren. Die erste große Probe gelungener Außenpolitik nach diesem Maßstab war der Kauf Louisianas von Frankreich: Für 15 Millionen Dollar erwarben die USA 1803 ein Gebiet, das heute ein Drittel der Fläche westlich des Mississippis einnimmt. Dieser Coup zeigte die Potenz des amerikanischen Systems. Binnen ganz kurzer Zeit hatte sich eine ehemalige Kolonie die materiellen und politischen Ressourcen und das Selbstbewusstsein verschafft, um unter diplomatischer Ausnutzung der napoleonischen Kriege in Europa ihr Staatsgebiet zu verdoppeln. Das gab es noch nie in der Geschichte, und es sollte weiter gehen – und woanders auf der Welt unnachahmlich bleiben.(5)

Verkürzt gesagt funktionierte Expansion auf dem Kontinent nach immer dem gleichen Prinzip: Die Siedler rückten vor, sie erhielten erst militärische und logistische Unterstützung, bildeten ihr Territorium und irgendwann kam es zum Entscheidungsdruck, sie in die Vereinigten Staaten aufzunehmen. So im spanischen Gebiet Westflorida, wo sich 1810 die Siedler für »frei und unabhängig erklärten« und Washington um Annexion baten. Das wiederholte sich in Ostflorida (dem heutigen Staat Florida) 1812. Der Blick nach Westen war weiter gerichtet auf das Oregongebiet. In öffentlicher Debatte einigte man sich, das südlich gelegene Kalifornien gleich mit in Besitz nehmen zu wollen, weil dort die besten Häfen seien. Zur geografischen Abrundung wurde auch das Texasgebiet auf die Agenda gesetzt. Texas hatte sich im März 1836 für unabhängig erklärt, und am 29. Dezember 1845 wurde die Aufnahme in die Union als Staat vollzogen. Gleich im Anschluss wurde Mexiko nach etlichen Scharmützeln am Rio Grande der »Verteidigungskrieg« erklärt. Mit dem Frieden von Guadalupe Hidalgo am 2. Februar 1848 musste Mexiko an die USA abtreten: Kalifornien, die heutigen Bundesstaaten Nevada, Utah, New-Mexico, Arizona und Teile von Wyoming und Colorado. Der Rio Grande bildete die Grenze. Mexiko verlor damit die Hälfte seines Staatsgebiets. Als Ausgleichszahlung erhielt es 15 Millionen Dollar. Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte bedeutete nun Expansion nicht mehr Befreiung vom Kolonialismus, sondern aggressive Annexion – die »Gringos« waren ab nun südlich des Rio Grande schlecht gelitten.

Monroe-Doktrin

Die Vorstellung des Manifest Destiny(6) setzt sich in dieser Zeit als nationale Selbstdefinition durch. Ergänzt wurde es durch die Monroe-Doktrin.(7) Diese von Präsident Monroe am 2. Dezember 1823 als Kongressbotschaft formulierte außenpolitische Grundsatzerklärung beinhaltete entscheidende strategische Eckpunkte der Zukunft:

Erstens, eine Kolonialisierung durch die europäischen Mächte in der westlichen Hemisphäre sollte nicht mehr geduldet werden. Zweitens, bestehende Kolonialrechte sollten nicht angetastet werden, doch sie dürften nicht ausgedehnt oder übertragen werden. Drittens, Amerika wollte sich nicht in europäische Verhältnisse einmischen. Damit wollte, viertens, Washington durch die Errichtung eines »Informel Empire« die Expansion Großbritanniens nach Mittel- und Südamerika verhindern – das ist für das 19. Jahrhundert gründlich misslungen. Die Suprematie der USA in der Neuen Welt wurde, fünftens, mit der Doktrin formell beansprucht, wenn auch erst später, Mitte der Neunzigerjahre, durchgesetzt. Zuletzt, sechstens, ließ man sich zumindest verbale Interventionen in europäische Angelegenheiten nicht nehmen. Die Vereinigten Staaten bildeten hier das Prinzip der No-Transfer-Politik aus: Die USA würden als hegemoniale Macht der Neuen Welt nicht zulassen, dass Territorien dieser Sphäre an eine auswärtige europäische Macht fallen.

Der Befreiungsgehalt der Doktrin wurde durch die antikolonialen Kämpfe in Lateinamerika zwischen 1810 und 1826 bestärkt. Der Halbkontinent hatte seit den Befreiungskriegen unter permanenten Machtkämpfen der herrschenden Klassen und den Interessen europäischer Investoren zu leiden gehabt. Jahrzehnte später knüpfte Präsident Theodor Roosevelt (1901–1009) an diesen Befreiungsimpuls an und proklamierte offiziell die Monroe-Doktrin als antikolonialistisches Schutzprogramm der USA in Lateinamerika.

Die Monroe-Doktrin wurde zum Etikett eines staatlich abgesicherten »Dollarimperialismus«. Großbritannien hatte auf dem südlichen Halbkontinent massiv investiert und dominierte seine Konkurrenten.(8) Mit der Durchkapitalisierung des nördlichen Halbkontinents und dem Eintritt in den Kreis rivalisierender Weltmächte veränderte sich der Gehalt der Doktrin. »Theodor Roosevelt integrierte diesen Typ des Expansionismus (den ökonomischen, P. S.) mit ideologischen Überlegungen und Imperativen zu einer allumfassenden Logik mit einem Gefüge von Abhängigkeiten, die den Frieden selber als eine Folgeerscheinung der Empirebildung erscheinen ließen. In seinem Weltbild jedenfalls besaß Amerika die ›Pflicht gegenüber den in Barbarei lebenden Völkern dahin zu wirken, dass diese von ihren Ketten befreit werden‹. Und wir können sie nur befreien, bis sich die zivilisierten Staaten in irgendeiner Form über die barbarischen Völker ausgedehnt haben.«(9)

Gewiss haben auch die europäischen Mächte ihre politisch-ökonomisch motivierten Expansionen mit einer Zivilisationsrhetorik ideologisch verbrämt, waren die Grenzen zwischen »formel and informel Empire« fließend politischen Effektivitätskalküls unterworfen, doch beides, Rhetorik und Tat, implizierte in europäischer Vorstellung in erster Linie Unterwerfung.

Roosevelt meinte mit seiner Befreiungsemphase die Entscheidung für ein Informel Empire unter der Strategie einer Open Door Policy. Der offizielle Eintritt in das imperiale Zeitalter zu Beginn der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts, der Ära des »Konkurrenzkampfes um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus« (Rosa Luxemburg), verlief unter der Forderung des freien Weltmarktes. Diese Politik richtete sich primär gegen die alten Kolonialmächte, die ihre Märkte und Einflusszonen abgeschottet hatten, aber natürlich auch gegen unwillige autochthone Eliten. Verbunden wurde sie mit der Einrichtung so genannter Sicherheitszonen wie etwa der Annexion von Hawaii oder Teilen von Panamas. Diese Politik begann für die USA mit dem Krieg (1898) um die spanischen Kolonien Philippinen, Guam, Puerto Rico, Kuba, Hawaii. Wenig später (1903) wurde Panama von Kolumbien kassiert, um den Kanal zu bauen und in eigener Regie führen zu können.

Wie in den europäischen Ländern wurde die imperiale Machtentfaltung auch als Ausweg aus den inneren krisenhaften Entwicklungen betrachtet. Die sozialimperialistische Konnotation von Manifest Destiny wurde jetzt offen formuliert. Sozialimperialismus funktionierte so richtig nur in den USA, weil neben seiner ideologischen Grundlegung im Manifest Destiny drei entscheidende Bedingungen erfüllt wurden:

– Für die Vereinigten Staaten war der sozialimperialistische Impuls von Beginn als Siedlungsexpansionismus konstitutiv.

– Die schnelle Umsetzung technologischer Innovation in marktfähige Produkte, die Revolutionierung der Produktion im tayloristischen Fordismus in Verbindung mit einem riesengroßen unzerstörbaren inneren Markt band auch nach dem ersten Weltkrieg viel Kapital im Innern, führte zu sozialen Befriedungen und machte den Kapitalexport in das zerstörte Europa lukrativer als in andere Regionen der Welt.

– Es konnte sich nie eine Arbeiterbewegung europäischen Ausmaßes und damit einer Systemgefährdung herausbilden, auch weil die Spaltung durch eine gesteuerte Einwanderungspolitik und durch die Möglichkeit der kontinentalen Emigration, der individuellen Flucht in weniger bedrückende soziale Verhältnisse, zumindest als Möglichkeit, gegeben war.

Koalitionen

Bis zum Ersten Weltkrieg hielten sich die Amerikaner getreu der Warnung Georg Washingtons aus Europa und dessen Politik der Bündnissysteme heraus. Nur wenn Weltmarktaufteilungen tangiert waren, an denen US-Interesse bestand (z. B. China, Kongo-Konferenz 1885), mischten sie sich ein. Der Eintritt der USA in die Kriegskoalition (1917) gegen das Deutsche Reich war jedoch nicht durch irgendwelche Weltmarktinteressen motiviert, sondern folgte zuvörderst dem Impuls, das Gemetzel auf dem europäischen Kontinent zu beenden. Einen Sieg der Koalition der militaristischen Reaktionäre des Deutschen und Habsburger Reiches in Europa wollten Wilson und das amerikanische Volk nicht zulassen.

Diese Einmischung, getragen von Wilsons(10) Vorstellungen eines Völkerfriedens, endete jedoch gegen den Willen der Vereinigten Staaten mit dem Diktat von Versailles, dessen katastrophale Wirkung John Maynard Keynes sofort trefflich erkannt hatte. Ein zahnloser Völkerbund (ohne die USA) und ein revanchelüsternes Pulverfass Deutschland waren ein Ergebnis des Krieges. Und für die Zukunft nicht zu unterschätzen: unerwartet hatte dieser Krieg mit der Sowjetunion eine neue, politisch ernst zu nehmende Weltmacht ermöglicht, die das globale Machtgefüge in Unordnung brachte. Nicht durch den gewohnten Kampf um Kapitalanlagen und Warenabsatzgebiete wohl aber durch seine politische und ideologische Ausstrahlung als weltweite soziale Befreiungsbewegung. Die durch die russische Revolution genährte Vision einer politischen und sozialen Befreiung unter der Parole »Proletarier aller Länder vereinigt euch« bildete ja durchaus einen alternativen Gegenentwurf zum US-amerikanischen Freiheitsbild. Globale Auswirkungen sollte diese Tatsache erst durch Festigung und Ausdehnung des sowjetischen Reiches nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Forcierung der antikolonialen Befreiungsbewegungen haben. Der Eintritt der USA in die Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs bedeutete den ersten – und bislang einzigen – wirklichen Befreiungsakt nach den antikolonialen Kriegen des 19. Jahrhunderts. Nicht vergessen werden darf, dass dieser Schritt keineswegs selbstverständlich war. Hitler hatte den USA den Krieg erklärt. Das amerikanische Volk war nicht auf Roosevelts Seite, die Abwendung von europäischen Händeln als legendäre Splendid Isolation während der Zwischenkriegszeit ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Es bedurfte massiver Überzeugungsarbeit, der Anti-Hitler-Koalition zur Hilfe kommen zu können. Ihr opfervoller Einsatz für die Freiheit Europas und der Welt gegen den Nationalsozialismus hat den Vereinigten Staaten einen hohen Glaubwürdigkeitskredit verschafft.

Gleichzeitig wurden die USA durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs erstmals in ihrer Geschichte auf Dauer in eine Koalition mit einem Teil Europas gebunden. Während sie nach dem Ersten Weltkrieg ihr Hauptaugenmerk auf politische Stabilisierung durch wirtschaftliche Durchdringung des europäischen Kontinents gelegt hatten (der Dawes- und der Youngplan sind hier die herausragenden Beispiele), ohne in weltumspannende Koalitionen einzutreten oder sich politisch in Europa zu engagieren, änderte sich das nach dem Bruch der Kriegskoalition mit dem Aufbau eines transatlantischen Bündnissystems gegen die Sowjetunion. Dabei wurde Jeffersons Axiom des »Entangling Alliances with None« durch die Suprematie der USA in diesen Organisationen kompensiert. Die Suez-Krise von 1956, in der Eisenhower mittels einer UN-Resolution in Absprache mit Chruschtschow gegen die Politik der Bündnispartner Großbritannien und Frankreich massiv Stellung bezog, demonstrierte diese Tatsache, und tatsächlich trabten die Europäer eine ganze Zeit lang willig hinter ihrer Führungsmacht hinterher. Die Überdehnung des Imperiums durch die ideologisch motivierten Invasionen (Dominotheorie) in Indochina, die irrationale Embargopolitik gegenüber Kuba nach der desaströsen Schweinebuchtoperation, die Politik der Dikaturinstallation im Nahen Osten, Afrika und Südamerika beraubte die Weltmacht zunehmend ihrer Glaubwürdigkeit im Bündnis und ihrer Legitimation durch das amerikanische Volk. Die Praxis, in Berlin die Fahne der Freiheit hochzuhalten und in Kuba intervenieren zu wollen, passte immer weniger zusammen.

Die Freiheitsgrundsätze der amerikanischen Verfassung wurden zunehmend einem außenpolitischen Kalkül unterworfen, vor dessen Architekten (dem militärisch-industriellen Komplex) schon Eisenhower in seiner Abschiedsrede gewarnt hatte. Die westweltweite ökonomische Krise des Fordismus, der Zusammenbruch von Bretton Woods, internationale Rohstoffkrisen, der ökonomische und politische Zusammenschluss der EWG – um nur ein paar Faktoren zu nennen – machten die USA wieder von Koalitionen abhängiger – nicht unbedingt williger. Innere Widersprüche und koalitionäre Eindämmung erwiesen sich als Elemente, der amerikanischen Hegemonialpolitik Berechenbarkeit auch unter unberechenbaren Präsidialadministrationen abzuringen. Ohne ein Insistieren der Europäer wäre Reagan nicht nach Reykjavik gefahren, folgt man Helmut Schmidts Erinnerungen. Solch stillschweigendes Agreement schien mit Bushs Krieg gegen den Irak obsolet. Der europäische Teil des Bündnisses hatte nach dem Abtreten der Sowjetunion auf das Gemetzel auf dem Balkan hilflos agiert. In weiten Teilen der Welt nahmen Chaos und Krieg zu. Mancher öffentliche Mensch in Europa beschwor darob verstärkt American Leadership.

Die konservative politische Elite der USA nahm die Chance wahr und versuchte, ihre Vorstellung vom Empire durchzusetzen. Sie hatte schon im ersten Irakkrieg wichtige Grundregeln der amerikanischen Verfassungsordnung teilweise außer Kraft gesetzt. Internationale Verpflichtungen wurden weitgehend missachtet. Mit ihrem zunehmenden Einfluss, auch gestützt auf Teile der evangelikalen Erweckungs- und Armageddonbewegung, erhielt die mehrheitsautoritäre Mentalität im amerikanischen Demokratieverständnis einen kräftigen Schub. Dies verband sich mit einem »beträchtlichen Reservoir an nationalem Narzissmus und bildete ein Gebräu, vor dem sich erschauern lässt. … In ihrer säkularisierten Form spiegelt sich diese narzisstische Vorstellung täglich in den herablassenden Kommentaren amerikanischer Medien über Europa. Die übrige Welt mit ihrem hartnäckigen Beharren auf einer eigenen Identität ist für diese Amerikaner ebenso schwer verständlich, wie es Europa ist. …Wie unausgegoren die Ideen des US-Präsidenten auch sein mögen – an Klarheit fehlt es ihnen nicht. Für George W. Bush zählt vor allem das Formelle an der Demokratie, insbesondere sind das freie Wahlen. Kulturelle und soziale Inhalte kümmern ihn wenig. … In naher Zukunft könnte der Drang zu mehr weltweiter Demokratie auf das eigene Land übergreifen.«(11) Genau dies scheint tatsächlich zu geschehen. Das demokratisch-konstitutive Element von Manifest Destiny scheint wiederbelebt werden zu können.

»Novus Ordo Saeclorum« ist in internationaler Politik angesagt. Gewiss nicht in Form von Trümmern und Toten, wie sie die Bush-Administration im Irak mitverantwortet. Sicher auch nicht im Alleingang der USA, wie die Gründerväter damals in einer unfreien Welt glaubten. Schließlich hat sich diese entscheidend geändert. Die gewissenhaften Nachfolger Jeffersons sollten in ihrem Ringen um die Wirkungsmächtigkeit ihres Erbes alle internationale Unterstützung erfahren. Wie es im »Liberalen Manifest« heißt: »Vernunft ist unverzichtbar in einer Demokratie. Dieser nahe liegenden Wahrheit fühlten sich schon die amerikanischen Gründerväter verpflichtet.«

1

SZ, 10.11.06. Zu den Initiatoren Bruce Ackermann (Politologe und Jurist) und Todd Gitlin (Soziologe) gesellten sich 42 andere namhafte US-amerikanische WissenschaftlerInnen und PublizistInnen, u. a. Richard Sennett, Benjamin Barber und James Galbraith. Sie wehren sich mit ihrer Wortmeldung explizit auch gegen Angriffe etwa von Tony Judt, der sich über die Liberalen der USA empört hatte, »die nur mehr das ethische Feigenblatt für die brutalen Kriege (besorgten) und selbstgefällige Theorien über den Endloskrieg abgeben« (SZ, 8.9.06).

2

Sie knüpft mit diesem Gedanken direkt an den letzten Satz ihres Imperialismusbuches an: »Initium ut esset, creatus est homo – ›damit dieser Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‹, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt des Menschen.« Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, 1986, S.730.

3

Hannah Arendt, 1994³: Über die Revolution, München, S. 233, 235; (Hv., P. S.)

4

Hans-Christoph Schröder,1976: »Die amerikanische und die englische Revolution in vergleichender Perspektive«, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): 200 Jahre amerikanische Revolution und moderne Revolutionsforschung, Göttingen, S. 25-26.

5

In diesem Aufsatz können die Etappen der besiedelnden Eroberung genauso wenig alle benannt werden, wie die Einzelheiten der karibischen, asiatischen und mittelamerikanischen kommerziellen und militärischen Kolonialausflüge.

6

»Die Vorstellung von der Manifest Destiny der Vereinigten Staaten, den ganzen nordamerikanischen Kontinent – zumindest diesen! – in Besitz zu nehmen, wurde offenbar ideologisches Gemeingut. Auch der Begriff selber wurde damals von dem Herausgeber der New Yorker Morning News, John L. O’Sullivan, gebraucht (27.12.1845), als er den ›wahren Anspruch‹ der Vereinigten Staaten auf Oregon darin begründet sah, dass es ihnen ›offenbar vom Schicksal vorherbestimmt‹ sei, den ›gesamten Kontinent, den uns die Vorsehung zugedacht hat, in Besitz zu nehmen‹. Im Nu wurde der Begriff von anderen Journalisten und Politikern aufgegriffen und gab der Diskussion über Oregon eine starke expansionsideologische Färbung.« H.-U. Wehler, 1984: Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik I 1750–1900, Frankfurt/Main, S. 115.

7

Ihr Kern war mit der Unterzeichnung des »Transkontinentalen Vertrages vom 22. Februar. 1819« zwischen Adams und dem spanischen Gesandten Onis, durch den Florida von Spanien abgetreten und der 42. Breitengrad durch das heutige Nordkalifornien als neue Grenzziehung zwischen spanischem und US-amerikanischem Einfluss festgelegt worden war, die spätere Doktrin bereits formuliert.

8

Von 1880 bis 1913 wuchs das britische Investitionsvolumen von 179,5 auf 999 Millionen Pfund Sterling. Es machte über die Hälfte aller ausländischen Investitionen aus. Nur in Mexiko war das US-Kapital führender ausländischer Anleger.

9

William A. Williams, 1962: »Amerikas ›idealistischer‹ Imperialismus 1900–1917«, in: H.-U. Wehler (Hg.) 1979³: Imperialismus, S. 418.

10

Auch der als friedensgläubiger Präsident (1913–1921; Friedensnobelpreis 1919) in die Geschichte eingegangene Woodrow Wilson wusste um die doppelte Bedeutung des Imperial Manifest Destiny: »Wenn Männer (amerikanische, P.S.) zu den Waffen greifen, um andere Menschen zu befreien, dann besitzt der Krieg einen geweihten und heiligen Charakter. Ich werde solange nicht Frieden rufen, wie es Sünde und Ungerechtigkeit auf der Welt gibt.« Nicht ohne zu betonen: »Da der Handel Staatsgrenzen missachtet und der Industrielle darauf besteht, dass ihm der Weltmarkt zur Verfügung steht, muss ihm die Fahne seines Landes folgen, und wo es geschlossene Türen gibt, müssen diese eingeschlagen werden.« Zit. n. Williams, a. a. O., S. 423–427.

11

Normann Birnbaum: »Der scheinheilige Kreuzzug Amerikas«, in: SZ, 2.8.05; s. auch: »Unsere Demokratie verliert ihr Gesicht«, in: Zeit, 3.11.05.