Albert Sterr

Gewalt und Wahrheit

Ein Gespräch mit dem salvadorianischen Schriftsteller Horacio Castellanos Moya

 

 

Horacio Castellanos Moya stammt aus einer binationalen, politisch gespaltenen Familie. Die Mutter kommt aus einer erzkonservativen Familie aus Honduras, ihr Vater war Präsident der Nationalen Partei Honduras, der Militärpartei. Castellanos Moyas Vater, aus einer linken Familie in San Salvador und deutlich älter als seine Frau, starb 1971. Castellanos Moya war 1979 auf dem Weg zum Studium nach Kanada, als die sandinistische Revolution in Nicaragua siegte und bald danach in El Salvador ein Putsch ausbrach. An der Übergangsjunta beteiligten sich auch die Kommunisten. Angesteckt vom revolutionären Enthusiasmus kehrte er zurück, ging dann nach Mexico und Costa Rica, wurde Chef der Presseagentur SALPRESS, die zu den Volksbefreiungskräften FPL gehörte, einer FMLN-Mitgliedsorganisation. Im Dezember 1984 zog er sich wegen deren Stalinismus zurück. Verbrechen gegen die beiden höchsten Führungspersönlichkeiten dieser Organisation in Managua im April 1983 führten zu einem Ambiente moralischer Auflösung und zerstörten seinen Glauben an die Ideen der revolutionären Bewegung, wovon sein erster Roman Die Diaspora handelt. Castellanos Moya spricht davon, dass er eine Zeit der Verarbeitung bedurfte um zu verstehen, dass »es sich nicht um isolierte Verbrechen handelte, sondern dass diese Teil einer allgemeinen Zersetzung waren«. Er verweigerte sich dem wachsenden »Autoritarismus« und »Vertikalismus« in der Linken, ihrer Fixierung auf die politischen Führer in Cuba und Nicaragua und darauf, »dass politische Probleme mit militärischen Mitteln ›gelöst‹ wurden«.

Bei unserem ersten Telefonkontakt sprachen Sie davon, dass Sie in Deutschland in erster Linie als Phänomen öffentlich wahrgenommen werden und weniger als Romancier. Was ist damit gemeint?
Ich wurde nach Deutschland eingeladen unter den Auspizien des Programmes »Städte der Zuflucht«, das eingerichtet wurde für verfolgte Schriftsteller, die nicht in ihrem Land leben können. Wenn man sich ansieht, was etwa die FR oder die FAZ über mich geschrieben haben, so gewinnt man den Eindruck, dass keiner der betreffenden Reporter meine Bücher gelesen hat. Ich werde nur als soziales Phänomen wahrgenommen. In Frankreich oder Spanien werden meine Bücher kritisiert.

Wird denn Ihrer Ansicht nach heute in El Salvador trotz Friedensabkommen, Wahlen und einer starken Opposition im Parlament das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit nach wie vor verletzt? Sind Sie deshalb in Deutschland?
Man kann nicht behaupten, dass diese Grundrechte im strikten Sinne verletzt werden. Es kommt jedoch sehr auf die Kriterien an, mit denen wir an das Problem herangehen. Die Definition dieser Schutzrechte bezieht sich bekanntlich auf den Staat und seine Institutionen. Aber die Realität Lateinamerikas wird von diesen Kriterien nicht mehr hinreichend erfasst. So sterben die Journalisten, die in Mexiko ermordet werden, in einem demokratischen System. Es ist nicht der Staat, der die Attentate verüben lässt. Ich kann in El Salvador nicht normal leben. Der Staat kann mein Überleben nicht garantieren. Was er im Fall der 15 Personen, die dort tagtäglich ermordet werden, übrigens auch nicht kann. Es handelt sich um einen Staat, der sich in einem Zersetzungsprozess befindet. Die Verschlankung der Staatsapparate in Lateinamerika verläuft parallel zur zunehmenden öffentlichen Unsicherheit. Letztere ermöglicht einer privaten Sicherheitsindustrie beste Geschäfte.

In Ihrem Fall ist also weniger der Staat das Problem als vielmehr spezifische Gruppen, die vom Staat nicht in Schach gehalten werden?
Es sind verschiedene Gruppen, die sich durch meinen Roman Der Ekel angegriffen fühlten. Die Rechte sah sich durch Passagen attackiert, in denen es um die Ermordung von Erzbischof Romero geht. Die ARENA-Partei, die El Salvador seit etwa 15 Jahren regiert, wurde in der Komplizenschaft mit diesem Mord gegründet. Vor allem der Sarkasmus in einigen Details über ihren Gründer Major D’Aubuisson passt ihnen nicht. Auch die Linke fühlte sich angegriffen. Der Erzähler spricht von über 300 Guerillakämpfern, die in den Ausläufern des Vulkans San Vicente auf Befehl des dortigen Regionalkommandanten Mayo Sibirián ermordet wurden. Dieses historische Faktum wurde nie öffentlich anerkannt. Die Chefs dieser FMLN-Mitgliedsorganisation handelten aus, dass es unter der Decke gehalten werden sollte.

Wer war dafür verantwortlich?
Die Volksbefreiungskräfte FPL. In meinem Roman werden sie nicht direkt beim Namen genannt. Der Erzähler spricht davon, dass »Stalinisten ihre eigenen Leute umgebracht haben«. Aber in El Salvador weiß man, wer damit gemeint ist. Ein Leser hier oder in Japan weiß es natürlich nicht konkret. Das ist auch so ein Detail, über das es verboten ist zu sprechen.

Glauben Sie, dass diese Details immer noch unbequem sind?
Ich denke schon. Die Lage hat sich durch meine nachfolgenden Romane nicht verbessert. Denn diese passen vor allem den herrschenden Kreisen nicht. Aber auch Linke sind nicht erfreut. Bei Lesungen in Deutschland kommt es vor, dass Linke sich erklärtermaßen weigern zu kommen.

Sie sitzen zwischen allen Stühlen?
Ja, klar. Dazu kommt, dass meine letzten Bücher in El Salvador nicht einmal mehr vertrieben werden. Man muss ins benachbarte Guatemala fahren, um sie zu kaufen. In Guatemala verkaufen sie sich gut, aber in El Salvador gibt es so etwas wie ein allgemeines Schweigen.

Gibt es andere Autoren oder Journalisten, die in El Salvador verfolgt werden?
Ich kenne keine anderen, die solche Probleme hatten, wie ich. Aber man muss natürlich auch sehen, dass sie nicht diese Art von Büchern geschrieben haben. Es ist sogar so, dass etwa Manlio Argueta *, der bekannteste Romancier des Landes, der zur Linken gehört, für die rechte ARENA-Regierung arbeitet. Er wurde vom Staatspräsidenten zum Direktor der Nationalbibliothek berufen.

Gewalt: die Hauptthematik des Werkes

Damit kommen wir auf die Rolle der Gewalt in Ihrem Werk. Warum geht es in ihren Romanen so gewalttätig zu?
Da ist einmal die soziale Ebene. Meine Persönlichkeit hat sich inmitten dieser Gewalt herausgebildet. In die wichtigsten Jahre meines Lebens fallen der Beginn des Konfliktes und danach der Bürgerkrieg. Meine Generation verblutete darin. Wir waren die gezeichnete Generation, denn wir wurden zu diesem Zeitpunkt erwachsen. In dieser Lebensphase ist man zu vielem bereit und scheut keine Abenteuer, auch wenn sie das Leben kosten können. Zu dieser soziokulturellen Ebene kommt die individuelle: Meine erste Erinnerung überhaupt ist der Knall einer Bombenexplosion. Mein Großvater hatte in Honduras gegen den Präsidenten geputscht, und ich war aus familiären Gründen zu jener Zeit bei meinen Großeltern. Im Arm meiner Großmutter überquerten wir den Innenhof ihres Anwesens, denn die vordere Hauswand war in Folge der Explosion eingestürzt. Lange Jahre war ich traumatisiert, wenn ich eine Sirene hörte, denn unmittelbar nach der Explosion hörte ich das Geheule von Sirenen.

Würden Sie zwischen verschiedenen Arten von Gewalt unterscheiden, etwa jener von Staat/Sicherheitskräften und Paramilitärs, einer zumindest im Prinzip legitimen Gegengewalt der Guerilla und heute einer kriminellen Gewalt im Umfeld der Drogenmafia?
Ich denke schon, dass dies sinnvoll ist. Viele Leute neigen dazu sich zu täuschen: Zwar wurde der Bürgerkrieg mit einem Friedensvertrag und, so die These, ohne Sieger und Besiegte beendet. Aber ungeachtet dessen hat den Krieg jemand angefangen. Das war die Armee. Sie hat den Krieg begonnen, indem sie Unschuldige ermordet hat beziehungsweise Leute, die gegen völlig inakzeptable Lebensbedingungen protestierten. Zivilisten, die sich nicht verteidigen konnten. Die sozialen Bewegungen, die Revolutions- und Guerillabewegung waren Ausdruck von Gruppen, die begannen sich gegen diese systematische Aggression zu verteidigen. Das ist eine ganz andere Sache, als die Gewalt von Seiten der Armee. Dass im Laufe der Jahre und mit Fortdauer des Bürgerkrieges auch von der Guerilla Gewalt ausgeübt wurde, stimmt. Es stimmt jedoch nicht, dass wir alle, wie in El Salvador immer getan wird, Opfer der Gewalt wurden oder sind. So sagt die Regierung heute: »Wir sind Opfer der Gewalt. Wir haben jährlich 52 Gewalttote pro 100 000 Einwohner, täglich 14 Ermordete.« Das ist eine Wahrnehmung, wonach wir immer angegriffen werden. Früher war es die kommunistische Aggression aus dem Ausland, heute die Kriminellen. Aber jemand macht es doch! Die Mörder sind mitten unter uns!

Irgendjemand gibt auch die Befehle…
Exakt. Das Problem ist, das wir eine Gesellschaft von Kriminellen sind ... und auch von Opfern.

Wenn alle Kriminelle sind, dann gibt es keine Kriminellen mehr. Eine derartige Aussage nivelliert die Schuld und kann den wirklichen Tätern als bequeme Ausrede dienen!
Das ist das Risiko. Aber noch einmal aus einer anderen Perspektive: Vaclav Havel sagte, das System in Osteuropa war nicht nur Sache der Kommunisten, sondern alle zusammen waren verantwortlich dafür.

Einverstanden, aber es gibt dafür verschiedene Niveaus von Verantwortung!
O.k. Aber den Grundgedanken muss die Gesellschaft erst einmal akzeptieren. Wenn sich die Gesellschaft nicht einmal der Waffen in Privatbesitz entledigen will, und die Reichen haben sich heftig gegen eine derartige Gesetzesinitiative ausgesprochen, was soll das? Eine Gesellschaft fällt nicht in Trümmer, wenn nicht die herrschende Klasse verrottet ist. Eine Gesellschaft wird nicht in einem derart verallgemeinerten Maße kriminell, wenn es ihr die herrschende Klasse nicht exemplarisch vormacht.

Dieses sich nicht einmal an die eigenen lausigen Gesetze zu halten, die Gewalt, die Doppelmoral der Oberschicht, all das ist doch gerade in Mittelamerika alles andere als neu. Nun gibt es jedoch seit etwa einem Jahrzehnt eine qualitativ veränderte Situation, dass wirklich jedermann nahezu an jedem Ort Opfer eines Gewaltverbrechens werden kann. Worauf ist diese spürbare Veränderung im Alltagsleben Ihrer Ansicht nach zurückzuführen? Auch die Gewalt ist ja nicht mehr dieselbe!
Die Gewalt ist zu einem allgemeinen sozialen Phänomen geworden. Davor war Gewaltanwendung das Monopol politischer Kräfte. Dieses Monopol ist verlorengegangen zumal auf die Ausdehnung der Gewalt auch nicht angemessen reagiert wurde. Die Kultur der Straflosigkeit besteht fort.

Ist nicht ein weiterer Faktor, dass der Staat sein Gewaltmonopol schon vor Jahrzehnten de facto aufgegeben hat, indem er beispielsweise die schmutzige Repressionsarbeit an extralegale paramilitärische Gruppen delegierte?
Dies ist eine Tendenz in vielen Ländern, vor allem solchen, die von den Vereinigten Staaten abhängig sind. Was sehen wir denn im Irak? Die Privatisierung der Sicherheit! Das ist doch das große Geschäft! Nach dem Bürgerkrieg gab es in El Salvador Leute, die dachten, dass es ganz positiv sei für tausenderlei Zwecke private Wachdienste zu gründen. Denn, so ihre Überlegung, auf diese Weise fänden Zehntausende Demobilisierte beider Seiten wenigstens eine Arbeit, und so könnte eine unkontrollierte Ausbreitung gewaltförmigen Handelns gestoppt werden. Was dabei herauskam ist, dass die Gewalt, die von all diesen so genannten Sicherheitsdiensten ausgeht, von niemandem kontrolliert werden kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Staat damit besonders glücklich ist.

Kann der Staat die Kontrolle nicht ausüben oder will er es nicht, etwa weil es der aktuelle Modus ist, mit Hilfe dessen die sozialen Verhältnisse bleiben können, wie sie sind? Aus der Sicht der herrschenden Klasse bewirkt die allgemeine Unsicherheit nicht zuletzt, dass als Sorge Nummer eins nicht mehr die weiterhin drängenden sozialen Probleme gelten, sondern die Angst vor Mord und Totschlag. Damit löst ein Kernthema der politischen Rechten das Hauptthema der Linken ab!
Ich weiß es nicht. Es kann sein, dass beides zutrifft und dass sich beide Sichtweisen nicht so unbedingt ausschließen müssen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es könnte sein, dass es genau definierbare Teile der Oberschicht gibt, die auf diese Weise ihre Vorherrschaft aufrecht erhalten. Es kann aber auch Leute in der Regierung geben, welche die Sicherheitslage verbessern möchten, dies aber nicht können.

Könnte es sich um einen Widerspruch handeln zwischen traditionellem Produktivkapital auf der einen Seite und »aufsteigenden Sektoren« (sectores emergentes), wie sie in Guatemala genannt werden, also Leuten und Gruppen, die mit illegalen Geschäften viel Geld verdienen?
Klar. Dazu kommt, dass sich das salvadorianische Kapital um seine Verwertung nicht viele Sorgen machen muss, solange es das Finanzsystem kontrolliert und damit die Remesas, die Gastarbeiterüberweisungen aus den USA. Was interessiert es denn die, wenn gewöhnliche Leute überfallen oder umgebracht werden, wenn sie vom Geldabheben aus der Bank kommen. Das Entscheidende aus der übergeordneten Sicht ist doch, dass die Leute überhaupt erst einmal in die Bank gehen müssen. Sie machen auf jeden Fall ihr Geschäft. Was nachher kommt, warum sollte sie das groß jucken?

Ist dieser Wandel in der Gesellschaft hin zu mehr Gewalttätigkeit Ihrer Ansicht nach etwas typisch Salvadorianisches?
In El Salvador gibt es besondere Elemente, die mit dem Bürgerkrieg zu tun haben. Ich frage mich, warum es in Nicaragua, das im Krieg gegen die Contra ein derart hohes Niveau an Gewalttätigkeit erreicht hatte, heute keine soziale Gewalt gibt, die mit El Salvador vergleichbar wäre. Es ist nicht die Hälfte davon!

Andere lateinamerikanische Großstädte sind genauso gefährlich wie San Salvador, obwohl es in diesen Ländern keinen Bürgerkrieg gab.
Es ist ein Phänomen, das vor allem in Mittelamerika anzutreffen ist. Ich würde sagen, etwa zwischen Carácas/Venezuela und der Nordgrenze Mexikos. Dabei ist vor allem die Grenze zwischen Mexiko und den USA die Hölle. Es gibt nach dem Irak derzeit weltweit keine Gegend, die gefährlicher wäre. Jede Zone hat ihre Besonderheiten. Hier sind es die Entwurzelten, die der Krieg hinter sich gelassen hat, dort sind es die Narcos. Die Narcos vermischen sich mit den anderen Problemen und tragen zur Ausbreitung gewaltförmigen Handelns bei. Auch der Staat sowie seine Institutionen sind keineswegs frei von Einflüssen der Narcos.

Desintegrierte Gesellschaft und zeitgenössische Literatur

Die gegenwärtige Gesellschaft El Salvadors ist vielfach in sich zerrissen. Es gibt keine alles dominierende Klassenspaltung mehr wie früher in Großgrundbesitzer/Landlose. Eine zentrale Konfliktlinie, an der entlang sich die Gesellschaft ausrichtet, fehlt. Liegt es daran, dass in Ihren Romanszenarien illegale Aktivitäten eine so große Rolle spielen?
Ja.

Ist der Kriminalroman als Genre besonders geeignet, diesen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen?
Im strikten Wortsinne sind meine Romane keine Krimis. Es gibt Elemente davon, vor allem was den Aufbau von Spannung oder bestimmte Persönlichkeiten betrifft. Mein zuletzt in deutscher Übersetzung erschienener Roman Aragons Abgang ist kein Krimi, eher ein Anti-Krimi. Denn als der Detektiv anfängt zu ermitteln, ist die Geschichte schon gelaufen. Es ist kein Verbrechen worüber er ermittelt, sondern ein Verrat, über den er nichts weiß, als er den Auftrag annimmt. Der Kriminalroman ist nicht notwendigerweise das geeignetste Genre, um sich dieser sozialen Realität anzunähern. Auch aus anderer Perspektive ist dies möglich. Bestimmte Züge des Kriminalromans ermöglichen, die Korruption, den Niedergang von Institutionen oder von Individuen zu thematisieren.

Die Angst ...
Individuell und kollektiv. Die kollektive Paranoia, aber eine Paranoia als Laster. Den Leuten scheint es so zu gefallen. Alle reden nur noch davon, wen haben sie überfallen, wen entführt oder wen ermordet. Neue Schlüssel da, irgendeinen Sicherheitskram dort, was mache ich um das Auto besser abzusperren, das ist Tag für Tag der Gesprächsstoff. Es ist die Hölle, in der sich alles um die Angst dreht.

Kann es sein, dass einem, der außerhalb lebt, das mehr auffällt?
Natürlich. Für die Leute in El Salvador ist das die Normalität, eine pathologische Normalität.

Ihre Literatur ist fest in der Realität verankert. Manchmal werden sehr präzise Orte, Namen und Begebenheiten genannt, manchmal werden sie nur angedeutet. Wie sehen Sie das Verhältnis von erzählter Realität und literarischer Bearbeitung oder Verfremdung in Ihren Romanen?
Das hängt sehr vom jeweiligen Buch und Kontext ab. Ich unterwerfe die historische Wirklichkeit den Notwendigkeiten meiner literarischen Fiktion. Nicht in dem Sinne, dass ich Tatsache verändere oder etwa Daten erfinde, die es nicht gab. Wie diese Realität aber erlebt wird, hängt von der jeweiligen Person ab, die ich gerade beschreibe. Robocop zum Beispiel, berichtet von einem Land, das die Hälfte der Einwohner El Salvadors nicht kennt und nicht erlebt hat. Die Linke kann nicht verstehen, wie er davon redet. Die Linke kann sich seine Perspektive nicht zu eigen machen. Im Buch Waffengänger wird beispielsweise auf einen Hinterhalt gegen einen Guerillakommandanten bezug genommen, den es in Chalatenango wirklich gegeben hat. Aber ich behandle dieses Ereignis als Ausgangsmaterial um die Geschichte des Robocop zu erzählen und zu zeigen, wie er denkt.

Als Leser sollte man sich also vor einer historizistischen Kritik hüten. Ein Hallo, Herr Autor, das war nicht so, wie Sie erzählen, sondern vielmehr folgendermaßen, das macht keinen Sinn.
Die Mehrzahl meiner heutigen Leser weiß ja nicht einmal, worauf sich die Romane im Einzelnen beziehen. Wir sind mittlerweile wenige, die sich noch daran erinnern, was in den Achtzigerjahren passierte. Aus diesem Grunde verweise ich in der Regel auch nicht auf die historischen Fakten. Meinen letzten Roman Insensatez, der bisher nicht ins Deutsche übersetzt ist und der in Guatemala handelt, haben Rezensenten der beiden führenden spanischen Zeitungen El País und El Mundo besprochen. Es ist kein Zufall, dass beide annahmen, er spiele in El Salvador. Im ganzen Roman fällt das Wort Guatemala kein einziges Mal.

Kommt Ihrer Ansicht nach unter den gegebenen Bedingungen Autoren und Intellektuellen eine spezifische Rolle zu? In der vorangegangenen Epoche waren die »wirklichen Schriftsteller«, um ein Wort von Roque Dalton zu zitieren, zumindest Linke und häufig Anhänger der Revolution. Hat sich mit dem Abschließen dieses historischen Zyklus auch das damit verbundene Konzept Schriftsteller/Revolutionär überlebt?
Ich glaube, dass es bereits Roque Dalton mit seinem grotesken Tod beendet hat. Diejenigen, die wir weitergemacht haben, haben es getan, weil es unvermeidbar war. Die Polarisierung war so heftig, dass sich niemand heraushalten konnte. Für mich ist der Tod von Roque Dalton von fundamentaler Bedeutung. Er ist die schlagendste Kritik an seiner Vorstellung von der Welt. Denn die Kritik an Daltons Vision war so hart, dass sie ihn dafür umbrachten. Und es hat ihn nicht die Armee ermordet, nicht die Rechte und nicht die Gringos – wenngleich ich bei letzteren nicht ganz sicher bin, ob sie nicht doch ihre Finger verdeckt mit im Spiel hatten. Roque wurde von seinen eigenen Genossen umgebracht. Leute, die ihm die Kubaner an die Seite stellten, weil sie ihnen vertrauten. Wir können über das Konzept Sartres über den engagierten Intellektuellen reden und kommen in Lateinamerika wieder auf die kubanische Revolution. Wir können die Rolle der lateinamerikanischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verstehen, wenn wir uns nicht klar machen, was die kubanische Revolution für sie bedeutet hat. Hier gab es auch eine große Konfusion in dem Sinne, das man glaubte, wenn ein Schriftsteller links war, dass er dann auch ein guter Schriftsteller sei. Dabei hat beides nichts miteinander zu tun. Wenn man gegen Militär, Unterdrückung und für soziale Gerechtigkeit ist, dann ist man ein guter Mensch, ein guter Bürger oder auch Revolutionär, aber noch lange kein guter Schriftsteller.

Und heute?
Ich glaube, dass die Verwirrung noch größer ist. Denn heute herrscht politische Apathie vor. Das ist noch beschissener. Denn die Lage in Lateinamerika ist schlimm. Ich bin keiner, der Manifeste formuliert oder sich zu tagespolitischen Fragen äußert. Ich glaube auch nicht, dass Schriftsteller Romane schreiben sollten mit dem Ziel, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Aber so wie ich das Schriftsteller-Sein verstehe, muss es in der Fiktion eine Suche nach Wahrheit geben. Es muss eine Ethik geben, in der die Fiktion verankert ist. Wenn mich das alles nicht mehr interessieren würde, würde mich die Suche nach Wahrheit und damit nach Freiheit nicht mehr interessieren.

Literatur und Politik sind also in Ihrer Sicht der Dinge keine getrennten Sphären. Zwar sind sie nicht mehr vereint in Gestalt des Dichter-Revolutionärs alter Prägung, aber doch präsent im Bemühen um Wahrheit gegenüber der gesellschaftlichen Realität.
Natürlich sind wir weiter politische Menschen. Wir kommen aus einem Kontinent, der in Flammen steht. Ein Kontinent, der in Trümmer geht, wo Leute haufenweise ermordet werden, wo die Institutionen nicht funktionieren, wo es jeden Tag mehr Arme gibt. Wenn ich aus Hamburg käme und meine Sorge wäre, wie ich im Alter lebe, weil die sozialen Sicherungssysteme umgekrempelt werden, da wären meine Gedanken natürlich andere. Wenn ein Norweger sich Sorgen um einen See macht, der von einer Ölgesellschaft verschmutzt wird, dann ist das für dort völlig in Ordnung. Aber ich komme nun mal aus einem Land, wo sie dich umbringen, um dir ein Brot zu klauen. Oder sie bringen dich um, bloß weil du einem auf den Keks gehst, weil einer das Gefühl hat, du hast ihn schief angesehen. Das ist für mich sehr politisch, weil es eine Gesellschaft beschreibt, die nicht funktioniert. Das betrifft uns direkt, und deshalb müssen wir uns als Schriftsteller auch damit auseinandersetzen.

In diesem Sinne bleibt die Literatur, wie Sie sie verstehen, politische Literatur?
Sie spiegelt eine politische Welt. Ich denke nicht, dass man dazu unbedingt direkt über Politik schreiben muss. Wir kommen aus einer bestimmten Welt, und wenn man die Wahrheit erzählen will, die einen geprägt hat, wird man unvermeidlicherweise darauf stoßen.