Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Das Yang der Demokratie

 

 

Khaled el-Masri hatte die USA und andere wegen Entführung, Freiheitsentzug und Folter angeklagt. Die Abweisung seiner Klage durch den Supreme Court listet James Bovards im The American Conservative in seinem Beitrag über das Demokratie-Defizit in den Vereinigten Staaten auf (5.11.). Weiter heißt es, Präsident George Bush habe der Justiz und der CIA »Cartes blanches« ausgestellt; die US-Dienste etwa beraten seit 9/11 Geheimdienste von Diktaturen mit einem Programm, das sowjetische Verhörmethoden enthält, die, wie die New York Times am 4.10. berichtet, US-Regierungen zuvor oft selbst wegen Folter verurteilt hatten. Das, so Bovards, könne wohl nicht »das Modell sein, um Amerika im neuen Jahrtausend zu schützen«. In der New York Review of Books vom 11.10. untersucht Peter Galbraith Maßnahmen der US-Regierung für einen regime change in Iran, darunter die Unterstützung einer Terrorgruppe im irakischen Lager Ashraf, womit die USA ihren war on terror konterkariere; das hat auch der iranische Dissident Akbar Ganji als »US-Hypokrisis« in einem Brief an UN-Generalsekretär Ban Ki-moon kritisiert. Der Verfassungsrechtler Peter Weiss, lange Jahre beim Center for Constitutional Rights tätig, sieht in der von der Bush-Regierung eingeschlagenen Richtung zur verstärkten Präsidialrepublik den Weg zu einer Diktatur geöffnet (Standard, 30.10.).

Das sind Streiflichter aus der Auseinandersetzung um Demokratie, die die US-Regierung mit ihrer Politik entfacht hat. Sie sind nicht einfach 9/11 geschuldet, denn Hegemoniepläne wie etwa die militärische Demokratie-Mission waren bereits vor Bushs Wahl 2000 im Manifest des neokonservativen Project for The New American Century, »Rebuilding America’s Defenses«, von Dick Cheney und anderen formuliert. Ihr Charakter hat sich inzwischen freilich etwas verändert. Bekräftigte Bush noch nach der Wiederwahl in seiner zweiten Inaugurationsrede Präventivkrieg und Demokratieexport, wie sie in der National Security Strategy von 2002 zur Regierungslinie gemacht wurden, so ist beides heute heiß umstritten.

Thomas Carothers, Vizedirektor vom Carnegie Endowment for International Peace, zieht in seinem Essay »During and After Bush« den Schluss, »die positiven Effekte von Bushs Politik für globale Demokratie sind spärlich gewesen«. Wenn die Regierung den Sturz zweier Diktaturen und ihre Ersetzung durch zwei gewählte Regierungen als Erfolg für sich reklamiere, mache sie es sich etwas leicht – Irak und Afghanistan als erfolgreiche Demokratisierungen? Ein anderes islamisches Land, Pakistan, zeige, wie schwierig es ist, westliche Ideen zu platzieren. Da habe man, so die New York Times vom 14.11., Musharraf mit zehn Milliarden Dollar gesponsert, für sein nicht unbedingt demokratisches Militär, jetzt wurde »Asma Jahangir, Vorsitzende der Menschenrechtskommission von Pakistan, festgenommen, als sie eine Sitzung ... am ersten Tag des Ausnahmezustands abhalten wollte. ›Weil sie sich aufregte und den Frieden störte‹, sagte Musharraf«.

Carothers Kritik lässt kaum etwas aus. Für Demokratie in der Welt Partei zu ergreifen, bedeute etwas mehr als nur jener Nationalismus, den Präsidentenberater als »nationales Interesse« bezeichnen. Carother zeigt, wie fließend die Übergänge zwischen Parteinahme der US-Regierung und Einflussnahme bei Wahlen in anderen Ländern oft sind. Man könne sich Wahlsieger nicht aussuchen, ob sie nun Ortega heißen oder Erdogan, das gehöre eben zu den demokratischen Spielregeln. Und Wahlergebnisse zu produzieren, die für die Vereinigten Staaten vorteilhaft sind, untergrabe die Förderung der Demokratie und die Legitimität der USA. Auch meldet er Zweifel an, dass eine Demokratisierung das Terrorproblem lösen könnte und führt dagegen Philippinen, Thailand und Indonesien ins Feld: »Seit seiner demokratischen Öffnung in den späten Neunzigerjahren hat Indonesien mehr, nicht weniger Terrorismus durch radikale islamistische Gruppen erleiden müssen, als es in den vorangehenden zwei Dekaden unter autoritärer Führung der Fall war.«

Denn, so Carothers Schlussfolgerung, die Demokratie habe gegenwärtig »ihr Momentum verloren«. In den letzten zehn Jahren erhöhte sich die Zahl der Demokratien mit freien Wahlen nicht mehr, es habe sogar Rückfälle gegeben. Das Modell der »eisernen Hand« der ökonomischen und politischen Entwicklung à la China und Russland habe »erheblich an Boden gewonnen«, es gefalle den Eliten in weiten Teilen Asiens, auch in einigen Teilen Afrikas und Lateinamerikas. Wirklich Demokratie fördern hingegen bedeute – weg von der idealistischen Inkonsequenz – Multilateralismus, Verrechtlichung, Beständigkeit, Realismus. Realpolitik sei gefragt, fürs Globale liegt er dabei nicht weit entfernt von George Kennan, dessen Containment-Politik in der Literatur wieder öfter auftaucht.

Bleibt Carother der Tradition der amerikanischen politischen Theorie verhaftet, geht der Politologe Michael Mandelbaum, Professor an der John Hopkins University, über diesen Rahmen hinaus. Sein Essay »Democracy Without America« in der altehrwürdigen Foreign Affairs (Sept./Okt. 2007) erinnert im ersten Teil an ähnliche Arbeiten aus der Anfangsphase der Bush-Administration – Samuel Huntington äußerte sich vor Jahren einmal ähnlich optimistisch über die großen »Demokratiewellen«. Nach einem historischen Abriss stellt Mandelbaum fest, dass das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts eine demokratische Lawine ausgelöst habe – dank der »Magie des Marktes«. Und er entwickelt eine Art Imperialismus-Theorie: »Die weltweite Nachfrage nach demokratischer Regierung in der modernen Ära entstand wegen des Erfolges der Länder, die sie praktizieren. Das Vereinigte Königreich im 19. Jahrhundert und die Vereinigten Staaten im 20. wurden militärisch die leistungsfähigsten und ökonomisch die wohlhabendsten souveränen Staaten. Die zwei gehörten zur Siegerkoalition in jedem der drei globalen Konflikte des 20. Jahrhunderts: die beiden Weltkriege und der Kalte Krieg. Ihr Erfolg machte Eindruck auf andere.« Das Erfolgsrezept war die freie Marktwirtschaft: »Der Markt verhält sich zur Demokratie wie das Sandkorn zur Perle einer Auster: der Kern, um den sie sich bildet.«

Mandelbaum zaubert zarte Idyllen dieser »Arbeitsdemokratie«: Wie der freie Markt Organisationen und regierungsunabhängige Gruppen erzeugt, Geschäfte, Gewerkschaften, Verbände, Vereine und dergleichen, das Salz der Demokratie, die Zivilgesellschaft, deren Maximen »Vertrauen und Kompromiss« sind, »wesentliches Element der Märkte«. Das schafft Sicherheit: »Kompromiss hemmt Gewalttätigkeit, die die Demokratie bedrohen könnte.« Gegenüber der Einleitung steht das seltsam ahistorisch da, als ob das Ende der Geschichte ausgebrochen wäre. Ach so: Gäbe es da nicht ein paar in der Vergangenheit stecken gebliebene Nationen, diese »eurasische Schwelle«, die ein Teil der politischen Publizisten in den USA in letzter Zeit öfter zusammenaddiert: Russland, China, Mittlerer Osten – die nichtdemokratischen Problemländer.

»Die arabischen Länder sind unwahrscheinliche Anwärter für Demokratie«, fasst Mandelbaum bündig zusammen. Kein Vertrauen. Kein Respekt vor Minderheiten. Die Herrscher kassieren den Ölsegen ab. Man mag Bush noch so kritisieren, aber da hat er sich eine Sisyphusaufgabe gestellt. Blöd nur, dass die das Öl haben. Für Russland sind die Aussichten schon heller, das sind intelligente Leute (»... heute ist der durchschnittliche Russe gebildet«). Das braucht nur Zeit, sich von den kommunistischen Ketten zu lösen. Immerhin, man schaut dort auch auf die Demokratien. Blöd nur, dass sie auch Öl haben. »Die Aussicht für Demokratie in China ist unsicher.« Wenigstens haben die kein Öl. Immerhin gibt es dazu ein paar ernsthaftere Überlegungen zum rasanten Aufholtempo, über die sich zusehends verbreiternde Basis einer Zivilgesellschaft, die Mandelbaum darin zuversichtlich stimmt, dass der Druck aus der Bevölkerung sich vergrößern wird. Doch sieht er auch die Verankerung der KP Chinas, die er damit erklärt, dass bei den Chinesen eine große Furcht herrsche, dass sich die Verhältnisse wieder verschlechtern könnten – zu vielen sei die Kulturrevolution noch düster in Erinnerung.

Unerschütterlich ist Mandelbaums Vertrauen auf Fortschritt und Wachstum. Krisen sind seine Sache nicht. China, Russland und irgendwann einmal auch die arabische Welt werden einmal die Weihen der Demokratie empfangen, allerdings »nicht wegen der direkten Bemühungen in Sachen Demokratieförderung durch die Vereinigten Staaten«. Das kommt sowieso, das wächst aus sich heraus, auf der ganzen Erde, »so weit das Auge sehen kann«. Dessen Sehkraft ist bekanntlich sehr beschränkt.

Das sieht Robert B. Reich, Ökonom in Berkeley und einst Clintons Arbeitsminister, deutlich anders: »How Capitalism Is Killing Democracy«, titelt er in der Foreign Policy (Sept./Okt. 2007). Er knüpft zwar an Mandelbaum an: »Der Hausverstand behauptet, dass dort, wo entweder der Kapitalismus oder die Demokratie blüht, eins dem anderen bald folgen muss.« So schien es auch längere Zeit zu laufen: der Kapitalismus als »das Yin eines Yangs der Demokratie«. Doch das habe sich nun geändert, die Demokratie müsse kämpfen, um sich oben zu halten. Insgesamt »wird keine demokratische Nation mehr mit den negativen Nebenwirkungen des Kapitalismus fertig«. Die Demokratie sei die beste Möglichkeit über die Verteilung zu debattieren, doch werde dies heute zunehmend dem Markt überlassen. Als Verbraucher und Investoren seien die Menschen gespaltene Wesen und würden heute zu sehr nur den Investor in sich bevorzugen, dem soziale Bindungen, Krankenkassen et cetera gleichgültig sind, der ungehemmt globalisieren möchte, der ungeachtet der Auswirkungen auf die Natur die Erde ausbeuten möchte. Auf der anderen Seite befindet sich China, das den Wirtschaftsliberalen immer mehr Profitmöglichkeiten bietet, ohne Demokratie für die Bevölkerung.

Die große Ökonomie habe, so Reich, die Demokratie im großen Maßstab »entkräftet«, Global Players haben »immer größere Summen zur Beeinflussung der Öffentlichkeitsarbeit, für Bestechung und für die Intervention der Legislative aufgebracht ... In den Vereinigten Staaten sind die Kämpfe, die Monate der Kongresszeit beanspruchen, gewöhnlich Wettbewerbe zwischen konkurrierenden Firmen oder Industrien.« Vielfach würden heute Großunternehmen ihre eigenen Richtlinien, Kodizes schreiben, eigene »Sozialverantwortlichkeit« entwickeln, an denen sich dann Politiker für das Herstellen von Gesetzen orientieren. Wohltätigkeit der Firmen sei nicht guter Zweck, sondern am Profit orientiert und führe die Öffentlichkeit oft hinters Licht.

Eine wesentliche Aufgabe der Demokratie sieht Reich darin, »Ziele zu vollenden, die wir nicht als Einzelpersonen erreichen können. Doch kann die Demokratie diese Aufgabe nicht erfüllen, wenn große Gesellschaften ihre ganze Macht einsetzen, um ihre Position zu verbessern und Konkurrenzvorteile zu erzielen, oder wenn sie, ohne wirkliches Vermögen oder Befugnis, Einfluss auf Sozialverantwortlichkeiten nehmen. Diese Börsengesellschaften sind nicht imstande, Kompromisse zu formulieren zwischen Wirtschaftswachstum und Sozialproblemen wie Jobunsicherheit, wachsende Einkommensspreizung oder Klimaänderung.« Demokratie sei eben nicht Konzern-, sondern Allgemeininteresse. Reich stellt einige konkrete Vorschläge vor, die nur »bewusste Bürger« umsetzen können, wenn sie sich wieder auf ihre politische Gestaltungsmacht besinnen. Ad fontes, bildet Assoziationen ...

Was an Alexis de Tocquevilles Beobachtungen immer beeindruckt hat, ist dieser Drang der AmerikanerInnen zivilgesellschaftliche Formationen zu bilden. In einem Kommentar für das Online-Project Syndicate des Wiener Instituts für die Wissenschaft vom Menschen fasst der französische Politologe Nicolas Tenzer Tocquevilles Auffassung von der Demokratie bündig zusammen: »Tocqueville betrachtete die Demokratie nicht allein als politische Herrschaftsform, sondern primär als intellektuelles Ordnungssystem, das die Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft im Allgemeinen formt. Damit verlieh er dem Begriff eine soziologische und psychologische Dimension. Demokratische Systeme, so argumentierte Tocqueville, bestimmen unsere Gedanken, Wünsche und Leidenschaften.« Allerdings war, das vergisst man oft, Tocqueville auch ein scharfer Kritiker, der nicht nur die »Despotie der Mehrheit« geißelte. Auch die sich entfaltenden Marktverhältnisse nahm er aufs Korn: »Je mehr sich so die Masse der Nation der Demokratie zuwendet, desto aristokratischer wird die besondere Klasse, die die Industrie leitet. In der Demokratie werden die Menschen immer gleicher, in der Industrie immer ungleicher.«

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2007