Michael Daxner, Jan H. Free, Maike Schüßler, Ursula Thiele

Staatsgründungskrieg und Heimatdiskurs

Afghanistan – und die Grundlagen und Probleme humanitärer Interventionen

 

 

Die Kontroverse um den deutschen Militär- und Hilfseinsatz in Afghanistan leidet an simplifizierenden Positionierungen. Auch ein Bundesparteitag der Bündnisgrünen blendete letztlich die Vielzahl sich überlagernder grundsätzlicher und sachlicher Probleme in und um Afghanistan durch drastische Vereinfachungen aus. Eine auf Pro und Kontra ausgerichtete Diskussion verfehlt nicht nur die historischen und weltpolitischen Voraussetzungen dieses Einsatzes; sie entzieht sich zunehmend auch den konkreten Bedingungen von Wiederaufbau und Staatsbildung in Afghanistan selbst. Und sie unterschätzt den Krisenbogen, in dem der »Fall Afghanistan« eingebettet ist.

Die AutorInnen des folgenden Afghanistan-Komplexes nehmen die Angst vor einem neokolonialen Schub – »unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt« – sehrernst. Sie warnen aber vor einer spezifisch »deutschen« Wahrnehmung, die über die Lebenswelten der betroffenen Menschen und Gruppen zugunsten eigener Befindlichkeiten und Annahmen hinweggeht. Ihre Auseinandersetzung mit dem widerspruchsvollen Verhältnis von Intervenierenden und Intervenierten, also mit den realen Vorgängen in einer »Interventionsgesellschaft«, schließt auch die grundsätzliche Erörterung von »Nationbuilding« auf dem Hintergrund der afghanischen Geschichte ein. Denn Afghanistan und seine Gesellschaften waren schon länger von Interventionen betroffen. Die Erläuterung der fließenden Übergänge von ziviler und militärischer Hilfe, der Fort- und Rückschritte im Bildungswesen, der Arbeitsweise der internationalen Organisationen, der unterschiedlichen Philosophien der Interventionsmächte, der Schutzbedürfnisse der Bevölkerung und der Implementierung von Rechtssicherheit und wirtschaftlicher Entwicklung sind gespeist von jahrelangen Erfahrungen vor Ort. Eine Schlussfolgerung lautet: Abschied nehmen von dem einen großen nationalen Plan.

Es kommt nicht nur darauf an, worüber man spricht, sondern auch in welcher Form, zu wem und mit welchem Zweck. Diese scheinbare Trivialität verliert sich oft im komplizierten Reden über Afghanistan, einem der Brennpunkte deutscher militärischer Auslandseinsätze und außenpolitischer Kontroversen. Auch politischen Entscheidungsträgern ist mitunter nicht klar, worum es geht, weil die symbolischen Legitimationen – Deutschlands Freiheit wird am Hindukusch verteidigt – ihre mächtigen Schatten über eine differenzierte Wahrnehmung der Wirklichkeit legen. Um diese Wahrnehmung aufzubereiten muss zwar nicht jeder, der mitredet, gleich vor Ort sein, aber wenigstens über mitteilbare Informationen verfügen. Afghanistan ist zugedeckt von ganzen Schichten historischer Ideologeme; etwa die traditionelle deutsch-afghanische Freundschaft, die so unterschiedliche Wurzeln hat wie die Modernisierungswelle unter König Amanullah in den 1920er-Jahren, später aber auch die Nichtauslieferung geflüchteter Nazis nach 1945 und nicht selten ein gemeinsames »arisches« Erbe meint, abgegrenzt zum Beispiel gegen die Araber. Man muss dies nicht alles und im Detail wissen, man kann die Subtexte – Afghanistan als das leicht und zugleich abenteuerlich zu erreichende Drogenparadies der Sechziger- und Siebzigerjahre, als die Spielballregion des Great Game zwischen dem britischen und dem russischen Empire seit 1823, als eines der letzten Refugien der wilden Edlen, das in der Ambivalenz der Stämme zum Königtum gesehen wird et cetera – nicht alle zugleich dekonstruieren. Die anthropologischen und ethnologischen Befunde sollten jedoch wenigstens zur Kenntnis genommen werden, allein um den jetzigen Konflikt für nicht so außergewöhnlich und singulär zu halten, dass alle Fehler und Misserfolge der Neuheit der Interventionsmittel (siehe Nationbuilding) und des Geschehens (siehe internationaler Terrorismus, neue Kriege) geschuldet werden.

Die Leerstellen im deutschen Afghanistan-Diskurs, die Grundlagen einer Außenpolitik, die längst Weltinnenpolitik geworden ist, der Nachholbedarf an Wissen, das die ehemaligen Kolonialmächte noch gespeichert haben – wenn auch mehrfach gebrochen und der Reflektion unzugänglich; das und noch einiges mehr läuft zusammen in einer Politik, die nicht begreift, dass in anderen Gesellschaften, zumal sie durch Krieg, Not, Vertreibung und dauernde Gewalt fragmentiert und traumatisiert sind, die Vermittlung von Systemebene und Lebenswelt nicht wie in der »Heimat« funktioniert. Und so gleitet die Intervention mit hoher Viskosität auf der Systemebene über die Lebenswelten der betroffenen Menschen und Gruppen hinweg.

Über Afghanistan sprechen, von Deutschland reden

Die Berichterstattung über Afghanistan ist umfangreich und seit etwa einem Jahr stereotyp: Es wird über den schleppenden Wiederaufbau, die zivilen Opfer der Militäreinsätze gegen die Taliban und die Selbstmordattentate berichtet, mitunter auch über Frauen- und Schülerschicksale. Die Außenpolitik konzentriert sich zunehmend auf den Druck aus und auf Pakistan, wo sich die Rückzuggebiete der Taliban befinden. Wenn man die Stimmungsdemokratie der Meinungsumfragen und Leserbriefe als ein Element des gefühlten Politikverständnisses einer Gesellschaft ansieht, dann rangiert Afghanistan nicht so hoch wie seinerzeit Kosovo. Der Militäreinsatz in Afghanistan war zwar anfangs weniger umstritten, doch nun ist er im Effekt negativer konnotiert als der auf dem Balkan; aber immer noch besser akzeptiert als Truppen im Kongo, von Darfur ganz zu schweigen.

Doch zeigt die Frage einige Wirkung, ob wirklich unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt wird (Struck), und ob Bündnistreue unsere Freiheit in jedem Fall verteidigt oder ob der Einsatz ausschließlich oder überwiegend wegen der Freiheit der Afghanen gerechtfertigt ist und deshalb mit gutem Gewissen humanitär genannt werden kann.

Die Forderung, dass die Interventionstruppen aus Afghanistan abgezogen werden sollen, gewinnt in dem Maß an Zustimmung, in dem klar wird, dass al-Qaida von Afghanistan aus »uns« nicht mehr gefährlich werden kann und die internationalen Einheiten einen inner-afghanischen Kampf zwischen Taliban und dem neuen afghanischen Staat ausfechten. Die Taliban gelten als inner-afghanische Gefahr, al-Qaida aber als globale, und deswegen scheint es heute in Afghanistan nur noch um die afghanische Freiheit und Sicherheit zu gehen, nicht mehr um »unsere«. Aber kann einfach der militärische Teil der Intervention beendet und der humanitäre, zivile Teil weitergeführt werden, als »echter« humanitärer Einsatz und mit gutem Gewissen?

Es ist die Crux von humanitären Interventionen nach dem Ende der Blockkonfrontation, dass humanitäre und militärische Komponenten immer enger verknüpft werden und auch verknüpft sein müssen, um nachhaltig positive Ergebnisse erzielen zu können. Seit den 1990ern hat sich der Charakter humanitärer Interventionen grundlegend geändert, aber nicht aufgrund geostrategischer oder politischer Neuorientierungen. Vielmehr haben sich die Konflikte gewandelt, die mit Interventionen bearbeitet werden sollen und sind mit dem klassischen Peacekeeping-Modell nicht mehr zu regeln.(1) Die schon fast zu einem normativen Instinkt habitualisierte Unterscheidung zwischen good war und bad war passt für heutige State- oder Nationbuilding-Interventionen nicht mehr. Dennoch drehen sich die aktuellen Afghanistan-Debatten um die Suche nach einem tragfähigen Konzept des gerechten Krieges für das 21. Jahrhundert. Die Angst ist groß, dass die militärische Begleitung humanitärer Interventionen zu einem neokolonialen Schub führen und dass die neuen Protektorate in einer Wiederholung des Kolonialismus münden.(2) Die Konsequenz daraus ist, dass sich die Diskussionen primär um die deutsche Rolle in der internationalen Politik drehen: Es geht um den Afghanistan-Einsatz, aber nicht um Afghanistan. Die Kritik am Einsatz ist eine Kommentierung der »eigenen« Handlungen, die prinzipiell nicht viel Wissen über die Lage in Afghanistan benötigt, um sich moralisch-ethisch gerechtfertigt ansehen zu können.

Aus dieser ersten Überlegung können wir ableiten, dass Interventionen von der Bevölkerung eines beteiligten Landes anders wahrgenommen und verarbeitet werden – dazu kommen Werturteile über Kosten, die Zahl der Toten, die Frage, ob eigene Kinder in den Kampf geschickt werden et cetera – als in den entsprechenden Regierungsstellen und unter den Praktikern der Intervention. Es gibt hier einen folgenreichen Unterschied hinsichtlich des Informationsstandes, der auch aus den üblichen Limitationen jeder Kriegsberichterstattung gespeist wird.(3) Was wir »Heimatdiskurs« nennen – Vorsicht: die Ironie kommt nicht ungewollt zur Gegenposition sowohl des »Fremden« als auch der »Front« –, bestimmt ganz maßgeblich die politische Legitimation von Entscheidungen, in denen Regierung und Parlament die Intervention mit weit mehr Überzeugung aufrechterhalten und fortführen wollen, als es in der Bevölkerung gewollt wird. Das Verhalten vieler Grünen-Abgeordneten zeigt dies anschaulich. Wir machen auf ein Phänomen aufmerksam, das bei Interventionsgesellschaften, die wir etwas später erklären, häufig vorkommt: Die gleiche Konstellation ergibt sich zunehmend in den intervenierten Ländern, wo die Regierung die Intervenierenden, Protektoren oder gar Besatzer lieber im Land behalten will als weite Teile der Bevölkerung, die die Fremden auch für solche Übel verantwortlich machen, für die eher die Insurgenten oder Warlords haftbar sind. Das ist nicht das einzige kollusive Verhältnis zwischen Intervenierenden und Intervenierten.

Nun ist es keineswegs so, dass auf der höheren Entscheidungsebene »richtige« Entscheidungen getroffen werden, während die Kritik von unten »falsch« ist. Der Informationsvorsprung zeitigt nicht automatisch eine richtige Strategie, schon allein deswegen nicht, weil auf allen Bewertungs- und Analyseebenen ein Begriffsapparat verwendet wird, der für die Situation in Afghanistan nicht passen kann. Ohne Informationen über die Lage in Afghanistan geht es jedoch auch nicht. Das medial veröffentlichte Scheitern der Strategie der Regierungsexperten bestärkt die selbstbewusste Common sense-Kritik der »Nicht-Eingeweihten«. Noam Chomsky hat anlässlich des Vietnam-Kriegs die These aufgestellt, dass für die internationale Politik keine besondere, wissenschaftliche Theorie notwendig wäre, sondern der gesunde Menschenverstand ausreiche. Deswegen gäbe es keinen privilegierten Zugang zu Fragen von Krieg und Frieden, vielmehr verstelle jede Theorie die Sicht auf die »einfachen Wahrheiten«, die für jeden normalen Menschen (also nicht für Politiker, Politikwissenschaftler und Soziologen) ganz offensichtlich seien.(4) Stärker noch als die Expertenkultur projiziert diese Sichtweise völlig unbedarft die eigenen Werte, Konzepte und Vorstellungen auf andere Regionen. Die Afghanen erscheinen in den deutschen Debatten als distant needy,(5) ohne eigene Merkmale, auf die sich alle Seiten mit jeweils unterschiedlichen politischen Agenden berufen. Die Bevölkerung in Afghanistan ist zurzeit zu einem rhetorischen Stilmittel reduziert: Man spricht eher über deutsche Befindlichkeiten, wenn man über Afghanistan (und eben nicht: von Afghanistan und noch seltener von Afghanen) redet.(6) Deswegen ist es angezeigt, die Grundlagen des internationalen Engagements dort in Erinnerung zu rufen.

Worum es in Afghanistan geht

Die Intervention in Afghanistan hat vier Vorgaben zu erfüllen: die Minimierung der Terrorgefahr, den Aufbau eines afghanischen Staates sowie die Reorganisation der afghanischen Gesellschaft. Außerdem soll sie den Erfolgsbeweis von modernen Interventionen erbringen.

Erstens: Unbestreitbar war der Grund der Intervention: die Terrorgefahr. Ohne 9/11 hätte es nie eine derart umfassende Intervention in Afghanistan gegeben. Afghanistan sollte als Rückzugs- und Trainingsbasis für al-Qaida ausgeschaltet werden. Dafür war die Beseitigung des Taliban-Regimes eine notwendige Voraussetzung. Die Taliban-Herrschaft war Ende 2001 bereits gebrochen, die afghanische Infrastruktur von al-Qaida bis 2003 zerstört. Afghanistan spielt seitdem im globalen War on Terrorism eine passive Rolle und wird vorerst in außenpolitischen Fragen durch die Interessen der USA im größeren regionalen Kontext (Antagonismus zu Iran, Ambivalenz zu Pakistan) determiniert bleiben.

Zweitens: Das Friedensversprechen vom Petersberg 2001 für Afghanistan war ein westeuropäisch begriffener starker Staat mit Gewaltmonopol, Souveränität, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, der Bildung einer Zivilgesellschaft und Steuerhoheit. Ein solches Staatswesen gab es zu keiner Zeit in Afghanistan, auch nicht vor der sowjetischen Intervention von 1978/79. Folglich geht es in Afghanistan nicht um einen Wiederaufbau, sondern um Aufbau; um eine Staatsgründung nach westeuropäischem Muster und den mit ihr verbundenen Krieg um die Herstellung eines Gewaltmonopols, das heißt einen inner-afghanischen Krieg gegen Kriegsherren, Milizen, Behördenwillkür, gegen die alten stammesrechtlichen Regionalismen, gegen abgestandene Männerherrschaft und – allerdings nur in zweiter Linie – gegen die Bedrohung von außen.

Drittens: Für die Konsolidierung dieses Staates braucht es die Neubildung einer Gesellschaft nach den Maßgaben von Menschenrechten, Liberalismus und Republikanismus. Von Beginn an war vorausgesetzt, dass dieser Staat ein Nationalstaat sein soll. Diesem Nationalstaat fehlt zurzeit noch die sich als eine Nation begreifende Bevölkerung. Die Afghanen setzen sich aus vielen ungleichzeitig entwickelten Stammesgesellschaften mit ihren jeweiligen internen modernisierungsinduzierten Verwerfungen zusammen, die jedenfalls mehrheitlich die hoheitlichen Eingriffe eines Staates nicht akzeptieren oder legitimieren wollen (Schetter 2007a), den sie eher als internen Kolonialisten denn als Vertreter auch ihrer Interessen wahrnehmen.

Viertens: Die Afghanistan-Intervention soll den Beweis erbringen, dass die internationale Staatengemeinschaft in der Lage ist, auf Wunsch der lokalen Bevölkerung einen Wechsel von Regimen zu organisieren. Der good war, die Beendigung der Taliban-Herrschaft, soll zu einer zivil-militärischen Erfolgsgeschichte für humanitäre Interventionen ausgebaut werden, in der ziviler Aufbau und militärische Absicherung desselben taktvoll, culturally aware und mit Einverständnis der Bevölkerung erfolgen. Afghanistan soll zeigen, dass die ehemaligen Kolonialmächte aus ihrer Geschichte gelernt haben und dass westliche Organisationsprinzipien überall zu Sicherheit und Wohlstand führen.

Nur selten wird bestritten, dass der Afghanistan-Einsatz das erste Missionsziel der Terrorismusbekämpfung erfüllt hat.(7) Zurzeit ist Afghanistan keine Operationsbasis für al-Qaida und den internationalen Terrorismus mehr.(8) Nach dem Kenntnisstand der UNAMA sind beispielsweise die zahlreichen Selbstmordanschläge in Afghanistan nicht von al-Qaida organisiert.(9) An dem Niedergang der afghanischen Al-Qaida-Zweige ändert auch das Wiedererstarken der Taliban in den paschtunischen Randregionen nichts.(10) Um es etwas zu pointieren: Taliban und al-Qaida sind nicht dasselbe, und selbst wenn die Taliban mit ihrer Destabilisierungsstrategie Erfolg haben sollten, würde das nichts daran ändern, dass al-Qaida von Afghanistan aus keine großen internationalen Terroranschläge mehr durchführen kann. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Taliban abermals die Macht in Afghanistan ergreifen können. Wenngleich ihre Aktionen die Skepsis der Afghanen in Bezug auf die mangelhafte Performanz der afghanischen Behörden zu bestärken scheinen, ist der Anteil der offenen Unterstützung für die Taliban nicht signifikant gestiegen.(11) Auch hat sich jüngst die Sicherheitslage in Afghanistan wieder etwas beruhigt.(12)

Die drei weiteren Ziele sind noch nicht erreicht.(13) So ist der afghanische Staat in vielen ruralen Regionen gar nicht oder nur pro forma vertreten, und zuletzt waren 78 Distrikte für UN-Mitarbeiter gesperrt.(14) Die afghanischen Behörden funktionieren immer noch auf der Grundlage von ethnischer und tribaler Patronage und gelten als korrupt. Der Aufbau der afghanischen Polizei (ANP) geht nur sehr schleppend voran.(15) Berichte über Willkür und Korruption sind häufig, so scheinen etwa bei Hausdurchsuchungen Polizisten regelmäßig Diebstähle zu begehen. Von einer funktionierenden Justiz ist Afghanistan noch weit entfernt. Staatsanwälte verdienen maximal 60 Euro im Monat, setzen Bestechungsversuchen entsprechend wenig Widerstand entgegen und sind deswegen schon aus eigenem Interesse nicht sehr daran interessiert, Korruptionsfälle hartnäckig zu verfolgen. Die afghanische Armee (ANA) gilt zwar als kompetenter und unbestechlich, ist aber personell noch nicht in der Lage, Sicherheit zu gewährleisten.(16) Zudem reduzieren die zahlreichen Kampfeinsätze von ANA-Einheiten an der Seite der OEF- und ISAF-Einheiten die Zeit, die für deren Training und Ausbildung aufgebracht werden kann. Erst 2010 wird die ANA ihre Sollstärke von 70.000 erreicht haben, mindestens bis dahin ist Afghanistan auf die Anwesenheit der zurzeit circa 50.000 Mann starken ausländischen Truppen angewiesen.

Alles in allem ist der afghanische Staat noch weit davon entfernt, sein Gewaltmonopol errichtet zu haben. In ungewöhnlich deutlichen Worten spricht der Report of the Secretary-General vom 21. September 2007 davon, dass selbst dort, wo Militäreinsätze die Insurgenten oder andere lokale Warlords vertrieben haben, die afghanischen Behörden das entstandene Machtvakuum nicht wieder füllen können, sodass sich die Sicherheitssituation wieder verschlechtere. (17)

Im Vergleich zum Vorjahr haben die afghanische Regierung und ihre Behörden (mit Ausnahme der ANA) massiv an Ansehen verloren; einen ähnlichen Vertrauensverlust erlitten die Intervenierenden. Es gibt allerdings auch positive Entwicklungen: Der Aufbau einer leistungsfähigen Gesundheitsversorgung geht voran, die wirtschaftliche Entwicklung ist weiterhin zufriedenstellend und trotz mancher Widerstände hat sich die Situation für Frauen und Mädchen insgesamt deutlich verbessert. Auch sollte man angesichts der Meldungen von Anschlägen und Gefechten nicht aus den Augen verlieren, dass die Sicherheitslage in Afghanistan verglichen mit anderen Krisenregionen der Welt recht gut ist. Von den 16 Prozent aller Afghanen, die angaben, im letzten Jahr Opfer von Gewalt oder eines Verbrechens geworden zu sein, waren wiederum nur 14 Prozent Opfer von Taten, die mit der Intervention und der Sicherheitslage zusammenhingen.(18) Eine »Irakisierung« Afghanistans steht also nicht unmittelbar bevor. Aber dennoch ist die Intervention in Afghanistan bislang nicht das erhoffte Erfolgsmodell für die neuen Nationbuilding-Interventionen.

Die Scham vor den Fortschritten

Wer sich von der aktiven militärischen Unterstützung Afghanistans zurückziehen möchte, braucht nur die Lage vor Ort und den erreichten Fortschritt als ungenügend zu diskreditieren und zugleich den militärischen Aufwand in einem als ungewinnbar erkannten Krieg zu kritisieren. Dazu müssen die erreichten Aufbauleistungen lediglich als höchst gefährdet verkleinert werden. Wie sie ohne den militärischen Schutz und die aktive, das heißt kämpfende Abwehr der Insurgenten besser geschützt werden könnten, braucht dabei nicht erörtert zu werden. Es ist, als schäme man sich fast des dennoch Erreichten.

Ein wesentliches Element der Interventionsgesellschaften ist das Ringen um die Beurteilung der jeweils erreichten Fortschritte beim Aufbau dieser Gesellschaften. Auf der Systemebene handelt es sich um einen Wiederaufbau, der dann natürlich nach dem Vorher-/Nachher-Schema bewertet wird. Nun gibt es in Afghanistan kein richtiges Vorher, an das sich relevante Gruppen der Bevölkerung auch nur erinnern könnten, also an die Zeit vor 1978. Relative Vergleichsperioden beziehen sich auf den Abwehrkampf gegen die Sowjets, die Mujahedin-Periode, die Talibanzeit, aber vor allem kleinteilig auf die Jahre seit 2002.

Nun ist die Frage, was man misst und bewertet: Das Aufrechnen von Erfolgen und Misserfolgen ist ein wichtiger Aspekt von Legitimation oder Delegitimation von politischen Aktivitäten der Intervenierenden und der neuen Regierung. Von der Systemebene her betrachtet lässt sich der jetzige Status des Aufbaus etwa so beschreiben: Das Wirtschaftswachstum mit circa neun Prozent ist außergewöhnlich hoch, die Effekte auf Lebenseinkommen und soziale Sicherheit sind für die breite Bevölkerung aber verschwindend gering. Die verschiedenen Institutionen sind »im Prinzip« allgemein akzeptiert, im Konkreten – bezogen auf Personen und Entscheidungen – aber nicht vom Vertrauen der Bevölkerung getragen. Genau hier befindet sich das Scharnier zur lebensweltlichen Organisation der Bevölkerung, die in ganz anderen Prioritäten und Kategorien wahrnimmt und wertet. Vertrauen oder Vertrauensverlust kann mit schlechten oder guten Erfahrungen mit Amtsträgern zu tun haben, oder mit internen Wertverschiebungen, die etwa aus einem Konflikt mit Stammesältesten, Mullahs oder Warlords erwachsen.

Ein anderes Feld ist die Bildung (siehe dazu auch den Artikel). Es wird einerseits beklagt, wie viele Hemmnisse Mädchen und junge Frauen bei Schulbesuch und Studium erfahren. Andererseits haben sich Schulpflicht und Schulbesuch im Prinzip auf über zwei Millionen Mädchen seit vier Jahren ausgeweitet. Es ist klar, dass der Widerstand nicht nur von Taliban und radikal konservativen Muslimen kommt, sondern auch von Männern mit unterschiedlichsten Interessen: Vätern, Ehegatten, Mullahs, Dorfältesten, extremen Scharia-Richtern und so weiter. Bemerkenswert ist an diesem Widerstand nur, dass er auf Seiten der Intervenierenden oft nicht erwartet wurde und zu zahlreichen Enttäuschungen geführt hat. Es gibt also Fortschritte, nur treffen sie nicht die vorhandenen Erwartungen.

In Afghanistan herrscht ein Zustand des Friedens im Krieg, was die Reorganisation des Sozialen noch zusätzlich erschwert. Der Krieg wird – mit anderen Mitteln und Konfliktparteien als vor 2001 – fortgesetzt. Aber Frieden breitet sich brüchig und widersprüchlich aus. Es gibt stabilere und flüchtigere Inseln, aber keine aussichtslosen politischen oder kulturellen Räume. Unabhängig von den steigenden Opferzahlen der Anschläge vergrößern sich diese Inseln, die flüchtigen stabilisieren sich, auch aufgrund der Expansion von PRTs und der UNAMA.

Generell läuft die Fortschrittswahrnehmung in Afghanistan aber parallel zur typischen Post-Conflict-Kurve: Befreiungseuphorie – Zuversicht – Selbstreflexion – Zweifel – Besatzer – Abwehr – Spaltung der Interventionsgesellschaft in (Noch-)Alliierte der Intervenierenden und (Immer-noch-/Schon-wieder-)Gegner, Insurgenten, Autonomisten, aber auch resignierte Arme, die gar nicht erwarten, dass irgendetwas sich irgendwann nachhaltig ändern könnte. Diese Kurve neigt sich also nach unten, das Zeitfenster des guten Willens schließt sich. Die Intervenierenden wissen um diese Kurve, aber kennen deren Antriebskräfte nicht genau genug, um die Dynamik gezielt bestimmen zu können. Das Problem wird vielmehr mit westlich determinierter Common sense-Soziologie angegangen, die für Interventionsgesellschaften aber nicht funktioniert. Den Afghanen selbst geht es auch nicht besser, weil etwa die Kategorien der wenigen sinnvollen Umfragen stark der westlichen Meinungsforschung entlehnt sind und entsprechende Artefakte produzieren. Es bleiben Einzelbefunde, mit denen man fallweise argumentieren kann, etwa mit dem enormen und ermutigenden Fortschritt, den die Wahl von Frauen ins Parlament mit sich gebracht hat; oder mit der schwierigen Situation von Frauen, deren Bewegungs- und Lernfreiheit von Richtern und Behörden behindert werden. Aber das zu bewertende Gesamtbild kann nicht aus den Systemkategorien der Staatsbildung abgeleitet werden. Die verschiedenen Einzelfelder von unbestreitbarer Expertise überdecken, dass keiner der Beteiligten einschätzen kann, in welcher sozialen Figuration sich die Akteure in Afghanistan befinden. Daraus resultieren Unsicherheiten, Missverständnisse und sekundäre Konflikte – Probleme, auf die man gerne verzichten würde und die auf lange Sicht eine Destabilisierung des zuvor mühselig Stabilisierten zur Folge haben könnten.

Man weiß vergleichsweise wenig über die sozialen Verhältnisse in der afghanischen Interventionsgesellschaft. Die vorhandenen Einzelbefunde ergeben kein Gesamtbild, reichen aber für internationale Vergleiche von Krisenregionen. Und das reicht den staatlichen Geldgebern der Entsendeländer. Der Afghanistan-Einsatz legitimiert sich beispielsweise folgendermaßen: Im Irak hat eine Gruppe – studierende Frauen – gegenüber der Zeit unter Saddam eindeutig verloren. In Afghanistan haben so gut wie alle Frauen im Vergleich zur Talibanzeit gewonnen. Das sagt nichts zugunsten von Saddam Hussein, aber viel zugunsten der Aufbaubemühungen in Afghanistan aus.

Auf einer anderen Ebene müssten wir wissen, welche städtischen Gruppen heute noch weniger urbanen Lebensstil und Dienstleistungen konsumieren können als unter der sowjetischen Besatzung, wer verloren und wer gewonnen hat, um sinnvoller und erfolgreicher vorgehen zu können. Auch die ländliche Bevölkerung ist noch weitgehend unbekannt, jedenfalls was ihre Beziehungen zum Zentralstaat angeht.(19) Dazu fehlt in Afghanistan eine einsatzfähige Sozialforschung, die kontinuierlich Interventionen wissenschaftlich-systematisch begleitet. Und zwar nicht nur als gelegentlicher Ratgeber.

Es bleibt momentan nur die genaue Auswertung von einzelnen Studien, wie beispielsweise die Evaluation von UNHCR-Migrationsprogrammen (IOM UNHCR 2007).(20) Hier zeigt sich schnell, dass selbst die oft als einigermaßen homogen wahrgenommene Gruppe der Rückkehrer erheblich fragmentiert ist, was die Erfolgsaussichten für Programme, die sich undifferenziert an »die Rückkehrer« wenden, entsprechend mindert. Angesichts von mindestens fünf Rückkehrer-Schichten seit 1978 mit höchst unterschiedlichen Flucht- und Exilerfahrungen sind die Adaptionsbedingungen an die derzeitige Situation sehr unterschiedlich. Was jedoch diese Gruppen einigt, ist eine Enttäuschung darüber, dass die Verbesserung der Lebenssituation nicht schnell genug erfolgt, obwohl nicht benannt werden kann, wie es schneller gehen könnte.

Eine kohärente Enttäuschungshaltung kann ebenso gefährlich wie radikalisierend wirken. Kohärent ist sie, weil sie unterschiedliche Gruppen über die Enttäuschung über ausbleibende nachhaltige Verbesserungen einigt. Natürlich hatte der Westen, wie häufig, anfangs zu viel versprochen und davon wenig gehalten. Aber auch eine schnell eingespielte Empfängermentalität wird durch die intervenierenden Akteure gefördert, die den Habitus der Geber und Helfer derart verinnerlicht haben, dass sie den Eindruck erwecken, dass »der Westen« eigentlich fast alles kann und auch weiß, wie Nationbuilding vonstatten gehen muss. Dieser Eindruck befördert nicht gerade afghan ownership und Eigeninitiative.
Wo dieser Eindruck sich nicht ausgebreitet hat, tritt ein anderer Widerspruch zu Tage. In einem westlichen Stadtteil von Kabul, der fast total zerstört war, blüht das Kleingewerbe, und ein unterer Mittelstand entsteht. Metallarbeiten (Gitter, Zäune), Sanitär-Installationen und Fenster werden gebaut. In einem Land mit heftigen Jahreszeiten spielen Fenster eine große Rolle, und dementsprechend kunst- und anspruchsvoll sind ihre Rahmen geschreinert. In diesem Viertel steht auch das Gebäude der Verkehrspolizei, aus einer Lenkwaffenruine mit deutscher Hilfe wieder aufgebaut – mit Plastikfenstern. Die heimischen wären zu teuer gewesen, erklärt man uns. Aber welchen Eindruck das auf die örtlichen Wirtschaftstreibenden macht, muss hier wohl nicht vertieft werden.

Dass das Verlangen nach besseren Lebensbedingungen und Sicherheit die afghanische Bevölkerung vereint, überrascht nicht. Dieses Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz fördert eine kohärente Unterstützung des Kampfes um ein staatliches Gewaltmonopol im Staatsgründungskrieg und ein relativ höheres Gewicht von Schutz und Rechtsherrschaft von demokratischen Errungenschaften. Natürlich gibt es Wege, demokratische Systeme auch in fragmentierten und von Gewaltkonflikten gebeutelten Gesellschaften einzuführen, aber die Demokratisierung ist nie bereits die Konfliktlösung, sondern im Gegenteil ein weiterer Katalysator für Unruhe und Gewalt, vor allem wenn die Wahlen zu früh erfolgen.(21) Das ist mittlerweile auch empirisch gut abgesichert.(22) Der westliche Streit darüber, was denn wichtiger und Voraussetzung des anderen sei, ist nicht ganz müßig, angesichts des Debakels von Demokratie-Exporten nach US-amerikanischem Muster; und sinnvoll auch angesichts der naiven Vorstellung, in einem globalisierten Konflikt könnte man »einfach« wieder auf lokale Traditionen zurückgreifen und einen fiktiven Vorkriegsstatus unter Rückzug der intervenierenden Strukturen anvisieren.(23) Die Ungleichzeitigkeiten, die durch modernste Waffen, Telekommunikation und Auslandserfahrungen bei gleichzeitiger Energieknappheit, von der Intervention ausgelösten Umschichtungen, Hunger und Arbeitslosigkeit entstehen, sind ungeheuerlich und schwer zu bewältigen.

Die Problematik verfrühter Wahlen gibt es in allen Interventionsgesellschaften. Auf der einen Seite steht das Bedürfnis, »endlich« demokratische Rechte ausüben zu dürfen, auf der anderen Seite werden oft die problematischsten Subjekte in den neuen Verfassungsorganen legitimiert, und es werden durch Wahlen »fremde« Loyalitäts- und Partizipationsregeln den angestammten, vielleicht schon erodierten Verfahren, entgegengesetzt. In Afghanistan gibt es zum Beispiel das Paradox, dass die Bevölkerung gerne wählt, die Parlamente auch durchaus zu respektieren bereit ist, aber eine ausgewiesene Abneigung gegen Parteien hat.(24)

Fast alle Interessenbekundungen rotieren aber um Sicherheit, ein Problem, das jeden in der afghanischen Interventionsgesellschaft betrifft. Das heißt aber nicht, dass mit jedem Anschlag die Stimmungslage sich verschlechtert. Die jüngste Umfrage der Asia Foundation muss dahingehend genau gelesen werden: Knapp 50 Prozent der Befragten geben an, dass Sicherheit das größte Problem Afghanistans sei. In ihrer eigenen Umgebung ist Sicherheit aber nur ein untergeordnetes Problem. Nach dem großen Problem in ihrer Region befragt nannten nur neun Prozent der Befragten eine schlechte Sicherheitslage.(25) Berücksichtigt man zudem die Antworten auf die Fragen nach dem Charakter der Sicherheitsprobleme, stellt sich heraus, dass »normale« Kriminalität wie Taschendiebstahl und Einbrüche als viel behandlungsbedürftiger angesehen werden als die Aktivitäten der Taliban und anderer Insurgenten.

Das heißt, dass es zwei Sicherheitsbegriffe gibt, einmal die kollektive Sicherheit (die Afghanistan betrifft) und die Besitzsicherheit (die die Afghanen betrifft). Das Problem der kollektiven Sicherheit ist real, aber zugleich imaginiert: Der Einzelne ist kaum gefährdet, die Bedrohung ist eine vorgestellte. Sie ist etwas, worum man weiß.(26) Die Bekämpfung der Symptome dieser Bedrohung (Taliban, Selbstmordanschläge) wiederum erhöht oftmals die Gefährdung der individuellen Sicherheit: Die Gefahr, bei militärischen Aktionen von ISAF und OEF zu Schaden zu kommen, ist für Afghanen erheblich höher, als durch einen Selbstmordanschlag in Mitleidenschaft gezogen zu werden.(27) Das Sicherheitsproblem ist nicht das Talibanproblem – schon allein deswegen nicht, weil es mindestens zwei Sicherheitsprobleme gibt, die nach mindestens zwei unterschiedlichen Herangehensweisen verlangen (sowohl in der journalistischen Beurteilung als auch in der Strategieformulierung vor Ort).

Frieden im Krieg könnte auch im besten Fall bedeuten, dass Rechtssicherheit und beschützte wirtschaftliche Entwicklung ein breiteres Bewusstsein von dem erzeugen, was man wieder verlieren kann, und deshalb sowohl der zivilgesellschaftlichen als auch der staatlich-demokratischen Entwicklung Auftrieb geben. Dafür braucht man aber nicht als Voraussetzung einen »Sieg« gegen die Taliban. Viel wird davon abhängen, dass der Krieg gegen die Taliban und der Staatsgründungskrieg nicht die zivilen Parallelentwicklungen behindert. Aber wenn, wie beim verheerenden Anschlag am 6.11.07, gewählte Organe des neuen Staates (Wirtschaftsausschuss des Parlaments), ahnungslose Zivilisten (gratulierende Kinder) und wirtschaftlicher Neuaufbau (Zuckerfabrik mit deutscher Hilfe) gleichermaßen zerstört werden, dann muss über verstärkten Schutz nicht nur weiter nachgedacht, sondern aktiv gehandelt werden. Nichts von dem hier Gesagten fordert ein Ende des Krieges gegen die Insurgenten. Aber die eingesetzten Mittel müssen hinterfragt werden. Und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt militärischer Effizienz. Auch die Sowjets haben beispielsweise auf ihre Luftüberlegenheit gesetzt. Sie hatte solange Erfolg, bis die Mujahedin ab 1987 mit Stinger-Raketen ausgerüstet wurden. Aber die als wahllos wahrgenommenen Bombardements haben den afghanischen Widerstand angefacht und am Leben gehalten – trotz der militärischen Erfolge. OEF und ISAF sollten nicht denselben Fehler machen.(28)

Historia Magistra Vitae?

Afghanistan ist exemplarisch für einen neuen Typ von humanitärer Intervention. Das Souveränitäts- und Nichteinmischungsprinzip ist offiziell und Einzelinteressen-übergreifend ad acta gelegt.(29) Die Unterstützung der Nordallianz durch die USA wurde in eine Unterstützung der Staats-Neugründung durch die Weltgemeinschaft (UN) umgewandelt. Wenn die Konfliktgeschichte Afghanistans zu militärisch-taktischen Fragen einzelne Antworten anbietet, dann ist der Versuch nahe liegend, aus der Geschichte Afghanistans Lehren für den jetzt initiierten Staatsaufbau zu ziehen. Kann das gelingen?

Afghanistan und seine Gesellschaften waren im unterschiedlichen Maß immer von Interventionen betroffen. Im modernen Sinn gilt das jedenfalls seit 1823: Das britische Empire wollte Afghanistan als Pufferzone für die indischen Besitzungen benutzen, das russische Reich wollte via Afghanistan einen Zugang zu einem »warmen« Weltmeer erhalten.(30) Die britischen und russischen Expansionsbestrebungen egalisierten sich im Falle Afghanistans. Die britischen und russischen Erwerbungen in Zentralasien ließen nur noch Afghanistan als unabhängiges Territorium und damit als Spielfeld eines ständigen »lauwarmen« Stellvertreterkrieges übrig. Beide Seiten waren daran interessiert, dass kein afghanischer Herrscher sich allzu große Freiräume erschließen konnte, sodass das Great Game den Aufbau von Staatlichkeit in Afghanistan fast unmöglich machte. Die Grenzfestlegung Afghanistans 1895 führte zu vermindertem weltpolitischem Einfluss und ermöglichte eine erste Modernisierungsepisode unter Abdur Rahman (reg. 1880–1901). Der »eiserne Emir« legte durch zahlreiche Feldzüge gegen unbotmäßige Stämme die Grundlage für einen afghanischen Staat. Er entmachtete auch die Geistlichen und präsentierte sich als Hüter der Religion. Sein Nachfolger, Habibullah (reg. 1901–1919), strengte erste technologische Modernisierungen an, war an sozialen Reformen aber gänzlich uninteressiert.

Amanullah (reg. 1919–1929) hatte während seiner Herrschaft Deutschland und die Türkei als Vorbild vor Augen. Soziale Innovationen, vor allem maßvolle Säkularisierung und Bildung, standen im Vordergrund. Die Stämme setzten nicht immer auf traditionalistische Abwehr, die großen Städte profitierten von den Modernisierungen. Mit jeder Modernisierungswelle entfernten sich die Städter weiter von der Landbevölkerung.

Den Übergang zur Republik Mitte der 1970er-Jahre unter Mohammed Daud kann man trotz aller ihm innewohnenden reaktionären Momente nach den Jahrzehnten des Stillstands unter den Königen Nader Schah und Zaher Schah als Modernisierung bezeichnen, aber letztlich waren diese Vorgänge nur das Vorspiel zu größeren Umbrüchen.

Durch die sowjetische Intervention von 1978/79 war Afghanistan wieder in den Fokus der internationalen Politik geraten. Die Sowjetunion befürchtete den Verlust ihres zentralasiatischen Imperiums: durch Islamisierung aus dem Süden, aufgrund des Verlustes des Bündnispartners Iran an den Westen und die sich abzeichnende Hegemonie Pakistans über Afghanistan, die über die territorialen Reibereien um den Osten Afghanistans (Waziristan und die Durand-Grenze) hinausging – vor allem aber durch das zunehmende Engagement der USA in Zentralasien. Die Sowjets haben, ungeachtet ihrer Invasionsmotive, mit dem Kommunismus und einem unglaublichen Ressourceneinsatz eine »westliche« Ideologie importiert und dem Land aufzuzwingen versucht. Die Städte haben dadurch eine unerbetene, aber nachhaltige zweite Modernisierung erfahren, die erst heute wieder vorsichtig ansprechbar sein wird. Der Widerstand gegen die Sowjets wurde jedenfalls von Traditionalisten und überwiegend vom Land aus betrieben. Zugleich wurde das Land zunehmend Rückzugsbereich und Etappe für das, was sich später als arabisch-wahhabitisch begründeter Islamismus und noch später als al-Qaida entfalten sollte.

Die Abwehr von Besetzungen, Okkupationen und ins Land getragenen illegitimen Herrschaften heißt noch lange nicht, dass man sich zu Zeiten des Widerstandes bereits einig über die Zeit nach der Befreiung weiß. Eines ist jedoch klar: Modernisierungen – welcher Art auch immer – waren nie angestrebt, weder von den Mujahedin noch von den Taliban. Mit dem Sieg der Nordallianz und der Mandatierung einer internationalen Nachkriegsmission war die Frage noch lange nicht geklärt, was man mit welcher Freiheit würde anfangen wollen und wie diese Freiheit herzustellen sei. Die Geschichte Afghanistans gibt jedenfalls keine Hinweise auf die Zukunft Afghanistans: Es gibt keine Strukturen, an die sich heutige Visionen afghanischer Staatlichkeit noch anhängen könnten und die mit den Vorgaben der Intervenierenden harmonisieren.

Aus der (Konflikt-)Geschichte Afghanistans kann aber gelernt werden, wie Modernisierungen taktisch durchgesetzt werden können. Denn jede Modernisierung ist in Afghanistan eine Intervention gewesen – eine inner-afghanische Intervention des urbanen Zentrums in die ablehnende ländliche Nachbarschaft. Manche Modernisierungsepisoden waren erfolgreich, andere nicht. Aus diesen Erfahrungen sollten die heutigen Intervenierenden lernen: »Don’t overload the modernist agenda in relation to the modernist coalition that will carry it. Don’t exclude potential rebels from the political arena. If a militant opposition develops, don’t let foreign forces lead the war against them.«(31) Aber selbst wenn diese von Astri Suhrke zusammengestellten taktischen Lehren berücksichtigt werden, garantiert das nicht ein Gelingen der übergeordneten Strategie der aktuellen Intervention.

Die Modernisierungsgeschichten lehren auch, dass afghanische Stammeswelten nicht so starr sind, dass sie an Modernisierungen zerbrechen.(32) Die Hoffnung, dass sich das Problem der Stämme in Afghanistan bald von alleine erledigt haben wird, kann nur enttäuscht werden; sie wird aber bis zu dieser Enttäuschung suboptimale bis kontraproduktive Politiken initiieren. Wir sprechen deswegen auch von Gesellschaften, weil auf dem Staatsterritorium verschiedene Stämme und Unterstämme leben, deren Vergemeinschaftungsformen signifikant unterschiedlich sind und die sich in höchst unterschiedlichem Maße den jeweiligen Zentralmächten – so sie vorhanden waren – loyal oder erzwungen gefügt haben. Heute, also im Staatgründungsprozess nach 2001, fügen sie sich wiederum höchst ungleichmäßig dem staatlichen Gewaltmonopol.

Durch das Vorhandensein mehrerer Gesellschaften ergibt sich, dass die Erklärung vieler gesellschaftlicher Phänomene nicht einfach auf der Systemebene (»Die Afghanen« als Akteur, Herrschaftsformen, Institutionen) zusammengefasst werden können, sondern nach Vergesellschaftungstypen und Stämmen, vor allem Pashtunen und »andere«, differenziert werden müssen. Dazu braucht unser Verständnis ebenso wie damit befasste Politiken anthropologische und ethnologische Einsichten, die teilweise nur aus lebensweltlichen Erkundungen gewonnen werden können.(33) Aus den regional sehr unterschiedlichen Reaktionen auf dieselben zentralstaatlichen Maßnahmen kann man folgern, dass der Staatsgründungkrieg, so legitim er sein mag, keinen zentralisierten Nationalstaat hervorbringen wird, und auch keinen Föderalismus idealtypischen westlichen Sinns, sondern ein Gemenge unterschiedlich intensiver lokaler und regionaler Autonomien.(34)

Es bleibt also zu klären: Was stellt man in Afghanistan mit der neuen Freiheit an, die der Sieg der Nordallianz über die Taliban gebracht hat?(35)

Intervention – ja, aber wofür?

Nun ist für Gesellschaften, die zu großen Teilen aus Stammesgesellschaften bestehen, ein einigender und einheitlicher Staat nicht so wichtig wie für »Nationen«, die sich über ihren Nationalismus und ihren Nationalstaat definieren. Im Falle der Griechen im 19. Jahrhundert oder der Albaner im Kosovo kann gezeigt werden, wie der Nationalismus beginnt, die staatliche Organisationsform anzustreben, und zwar als Teil einer Befreiungsbewegung gegen Kolonialherrschaft und Diktatur. Im Falle von Afghanistan ist nicht so klar, welche Staatsvorstellungen unter den Führungsfiguren des afghanischen Widerstandes vorhanden waren. Noch weniger ist einsichtig, welche Vergesellschaftungsform die meisten Afghanen wünschen, das heißt, welche Gesellschaftsform (Demokratie, Scharia-Regime, Diktatur oder Stammesautonomie) sie in welcher Organisation wollen. Es fehlt an Übersetzungsleistungen zwischen dem, was auf der offiziellen Systemebene diskutiert wird, sei es in bester Absicht, und dem, was lebensweltlich zu verarbeiten und anzustreben ansteht. Diese Unsicherheit bringt das Konzept der afghanischen Teilhabe an allen Entscheidungen der Protektoratsverwaltung in beträchtliche Schieflage. Wenn angestrebt ist, dass der »Stabilisierungsprozess ein afghanisches Gesicht bekommt«,(36) wird als legitime »afghanische« Willensbekundung vor allem das anerkannt, was westlichen Werten und Normen entspricht.

Drei konkurrierende und einander überschneidende Perspektiven artikulieren sich in der afghanischen Interventionsgesellschaft:

– Lokale Autonomie, verstanden als die Freiheit, die eigenen Traditionen zu leben, ohne deshalb auf alle Modernisierungsgewinne verzichten zu wollen;

– Übernahme von im Exil oder aus Medien erfahrenen und von Intervenierenden vorgelebten Lebensstilen, ohne genau zu wissen, welche gesellschaftliche Organisationsform diese Lebensstile absichert, zum Beispiel gegen religiös-extreme oder radikal-konservative Anfeindungen; sowie

– Teilhabe an einer kollektiven Identität, die über den entstehenden abstrakten, »idealtypischen« Nationalstaat vermittelt wird und eine Integration in ein Machtsystem verspricht, ohne dass weder die Gestalt dieser Identität noch die Form der Integration genauer beschrieben werden könnten.

Es gibt noch mehr solcher Perspektiven. Sie sind immer an Interessen gekoppelt, von Geschäften mit den Intervenierenden über lokale Machtausübung bis hin zum Beibehalten patriarchaler Mikroherrschaft. Radikal verkürzt behaupten wir, dass neben der Sicherheit, die für alle drei Perspektiven unumgänglich ist, also Safety und Security, noch eine dritte hinzutritt: das Begehren nach Certainty (= kollektiver Selbstsicherheit). Dieses letzte Bedürfnis kann sich nicht realisieren, solange die Intervenierenden nicht zur Kenntnis nehmen, dass auch sie eine Rolle in der Suche nach einem kleinsten gemeinsamen, alle sozialen Gruppen rudimentär verbindenden Nenner spielen. Die Aussicht auf einen demokratischen, freiheitlichen, durch und durch westlichen Staat ist so fremd, dass aus ihr keine Gewissheit sich in ausreichendem Maß ableitet lässt. Grundlegend wären Transparenz und Konsequenz in Worten und Taten sowie die partnerschaftliche Einbeziehung der Intervenierten in die Entwicklung einer klar formulierten Strategie. Der »Heimatdiskurs« der Intervenierenden lässt aber nicht zu, dass von der Vorgabe des westlichen Staatswesens mit all diesen eingeschriebenen Menschen- und Grundrechten auch nur minimal abgewichen werden kann.(37) Entsprechend bleibt die Rolle der Intervenierenden eine negative: Ein wichtiger Kitt der afghanischen Bevölkerung war immer schon der Widerstand gegen fremde Truppen im Land, der aber keinerlei Zukunftsperspektive eröffnet.

Es müssen also Räume geschaffen werden, in denen sich diese Selbstverständigung abspielen und ausformulieren kann, ohne dass das Ergebnis im Prinzip schon feststeht. Nur dann kann die internationale Intervention im gesteckten Zeitrahmen und mit dem geleisteten und avisierten Ressourceneinsatz gelingen. Ansonsten muss die Intervention als Besatzung Einheit herstellen. Diese Räume müssen entsprechend beschützt sein. Einmal auf politisch-administrative Weise, denn es gibt keinen Konsens in der afghanischen Bevölkerung, dass öffentliche Diskussion über die Ausgestaltung von Regierungspolitik und Staatlichkeit überhaupt legitim ist. Fast 70 Prozent der Afghanen sind der Auffassung, dass man die Regierung nicht öffentlich kritisieren dürfe.(38) Hier stehen die privaten Lehren der Afghanen aus religiöser Bevormundung, tribalen Normen der Geschlossenheit nach außen und brutaler Sowjet-Besatzung einer gesellschaftlichen Selbstdefinition noch sehr im Wege. Aber auch auf militärische Weise müssen diese Räume und Möglichkeiten geschützt werden, da die Insurgenten an einer derart progressiv hergestellten Certainty keinerlei Interesse haben.(39)

In aller Deutlichkeit: Die immer wiederkehrende Anrufung der »Zivilgesellschaft« ist nicht bereits des Rätsels Lösung. Die von Helmut van Edig, dem Redakteur des Aktionsplans Zivile Krisenprävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung der Bundesregierung, ausgegebene Losung »Eine ungehinderte Entfaltung der Zivilgesellschaft ist erforderlich, um die Dauerhaftigkeit von Rechtsstaat und Demokratie zu sichern«,(40) scheitert bereits daran, dass im afghanischen Fall kaum genug Potenzial vorhanden ist, das nach seiner Entfaltung schon eine Zivilgesellschaft ergeben würde. Es ist nicht bereits Zivilgesellschaft, wenn es vereinsmäßig oder sonstwie organisierte Aktivitäten unterhalb der staatlichen Ebene gibt. Auch Kirchen, Stiftungen und NGOs konstituieren nicht durch ihre Existenz schon eine Zivilgesellschaft. Die hat andere Voraussetzungen, die ganz tief in der westlichen Geschichte und Philosophie verankert sind.(41) Der US-amerikanische Philosoph, Politik- und Sozialwissenschaftler Charles Taylor nennt diese Gesellschaft die größte der modern social imaginaries (moderne Vorstellungsform von Sozialem) der westlichen Welt, die nicht einfach auf Bevölkerungen mit ganz anderer Geistesgeschichte übertragen werden kann.(42)

Wichtig ist der Hinweis auf die gleichsam ideengeschichtlichen und diskursiven Voraussetzungen der Zivilgesellschaft, um die selbstverständliche Erwartung zu erschüttern, dass diese Organisationsform, die uns im Westen als völlig natürlich und dem Menschen eingeschrieben erscheint, sofort von allen Menschen angenommen wird, sobald sie die Möglichkeit dazu zu haben scheinen. Die eigenen Voraussetzungen werden selbst dann nicht hinterfragt, wenn Inkongruenzen unübersehbar werden.

Ein Beispiel, das alle Bereiche der afghanischen Gesellschaft berührt, veranschaulicht das gut: Die Mohnanbaufläche wächst, viele kleine und große Machthaber profitieren und finanzieren mit den Profiten ihre Machtpositionen. Es wird angenommen, dass die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts Afghanistans, circa 3,1 Milliarden US-Dollar, aus der Mohnproduktion stammt.(43) Alternative Anbauobjekte sind indiskutabel, solange die Weltmarktpreise mit dem Hektarertrag für Mohn nicht konkurrieren können. Das Problem durch Subventionen zu lösen, bedürfte astronomischer Summen, die weder die Internationale Staatengemeinschaft und noch viel weniger der afghanische Staat aufbringen kann. Die gewaltsame Vernichtung der Felder aber verstärkt die Abneigung gegen die Besatzer und treibt den Taliban schlimmstenfalls neue Verbündete in die Arme. Also muss ein modus vivendi ausgehandelt werden, der sicherlich nicht der reinen Lehre im Kampf gegen Drogen entspricht. Um sich die Bevölkerung nicht zu entfremden ist es wichtig, ihr eine nicht-agrarische Verdienstperspektive zu geben, und das heißt Produktion, Ausbildung und forcierte Modernisierung – es fehlt aber das Geld, um dadurch für den »Heimatdiskurs« ausreichend schnell Ergebnisse zu erzielen. Die Vernichtung der Felder bringt bessere Bilder und Nachrichten und zumindest in der Sicht der US-Strategen auch die notwendigen pädagogischen Effekte, um die Afghanen vom Mohnanbau abzuhalten: »It’s like robbing a bank. If people see there’s more to be had by robbing a bank than by working in one, they’re going to rob it, until they learn there’s a price to pay.«(44)

Hier könnten lokale Modernisierungsgewinne durch neue Produktlinien und Geschäfte dazu führen, dass Drogenanbau sich nicht mehr lohnt, aber dafür ist zurzeit die Wirtschaft in ländlichen Regionen noch zu klein. Die Alternative ist ein verstärkter Zuzug in die großen Städte, wo man zwar arbeitslos und unglücklich ist, aber auch keinen Mohn mehr anbaut.

Realistisch bleibt damit ein staatlicher Schutz vor den rabiaten Methoden der Bodenvernichtung (z. T. aus der Luft) durch fremde Truppen und partielle Bündnisse mit den lokalen Warlords, inklusive ihrer befristeten Teilintegration nach dem Muster »beschränkte Macht gegen verringerte Profite«. Der Einfluss der Drogen ist auch in Kabul so groß, dass niemand ernsthaft davon ausgehen kann, die Profiteure des Anbaus aus dem neuen Afghanistan ausschließen zu können. Das einzusehen ist schmerzhaft. Nicht nur für die Intervenierenden, sondern auch für die Intervenierten, die mehrheitlich den Drogenanbau ablehnen (zumeist aus religiösen Gründen). Aber solange kein anderer Zweig der Wirtschaft die Mehrwerte der Drogenproduktion substituieren kann, kann der »Krieg gegen die Drogen« nur als Krieg gegen die afghanische Landbevölkerung und die mächtigen Hintermänner gewonnen werden. Und gerade Letztere könnten das Nationbuilding-Projekt nach Belieben zum Scheitern bringen. Einen Teil des Problems kann der Markt lösen, aber nur der Markt bei uns im Westen: durch Freigabe von Opiaten und damit verbunden eine teilweise Zerstörung des Hochprofitmarktes. Aber das ist ebenso undenkbar wie eine realistische Drogenpolitik, die weder aus entweder beschämtem Wegsehen (Europa) noch brutaler Feldervernichtung (USA) besteht. Hier verhindert die selbstverständliche Norm, dass Drogenproduktion und -distribution mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden muss, eine erfolgreichere Interventionspolitik, obwohl das Problem in all seinen Verästelungen den Beteiligten wohl bekannt ist.

Abschied vom großen nationalen Plan

Die Intervention in Afghanistan zeigt wieder einmal, dass die Phase des Peacebuildings, also der (Wieder-)Aufbau, schwieriger ist als die gewaltsame Beendigung des primären, die Intervention auslösenden Konflikts. Für den primären Konflikt ist die angemessene Strategie gemeinhin nahe liegend und nur die operative Umsetzung kompliziert. Die Kriterien für militärischen Erfolg sind schließlich recht eindeutig. Für Nationbuilding aber nicht.

Die Etablierung eines Staates nach westlichem Muster ist in Post-Konflikt-Situationen vor allem deswegen problematisch, weil die Durchsetzung eines starken Staates mit Gewaltmonopol ein gewaltsamer Vorgang ist. Die Partikulargewalten geben sich selten auf Zuruf geschlagen, die Unterwerfung unter das staatliche Hoheitsrecht muss in der Regel erzwungen werden. Die Durchsetzung von neuen Institutionen und Behörden mit weit reichenden Zu- und Eingriffsrechten wird immer auf Widerstände stoßen und gerade in einem militarisierten und zugleich fragmentierten Land wie Afghanistan die Form von kleinteiligem Milizkrieg annehmen. Im selben Zeitraum sowohl Frieden und Sicherheit als auch die Durchsetzung eines starken, westlichen Staates verwirklichen zu wollen, kann keine sinnvolle Vorgabe sein. Wir im Westen übersehen diese fast triviale Tatsache gerne, weil wir die uns umgebende staatliche Gewalt für selbstverständlich halten und ihre sicherheitsfördernde Wirkung zumeist anerkennen. Aber auch im Westen haben die internen Staatsgründungskonflikte viele Opfer und viel Zeit gekostet – in Afghanistan wird es nicht anders sein. Das heißt aber, dass die Intervention nicht in allen Bereichen erfolgreich sein kann: Für einen starken westlichen Staat muss man bei Frieden und Sicherheit Abstriche machen – wenigstens während der »heißen« Staatsgründungsphase. Aber die kann sehr lang dauern. Ob der »Heimatdiskurs« das aushält?

Und wenn der Staatsgründungskrieg beendet und der westliche Ordnungsstaat Wirklichkeit geworden ist, kann die Intervention doch gescheitert sein. In dem Fall nämlich, dass Afghanistan zu einem Staat wird, dessen Wirken nur den Interessen einzelner Gruppen dient. Das Fundament des modernen westlichen (National-)Staats ist, dass es Interessen gibt, die denen des jeweiligen Herrschers übergeordnet sind: Der Herrscher hat (auch) dem Allgemeinwohl zu dienen. Und das Allgemeinwohl leitet sich aus der Auffassung ab, dass Kooperation zwischen den Menschen ergiebiger ist als ein ständiges Gegeneinander. Die für den Westen hierzu entscheidenden Namen sind alt, aber bekannt: Hobbes, Grotius, Locke. Es hat sehr lange gedauert, bis sich die Eckpfeiler ihrer Theorien zum selbstverständlichen Allgemeinwissen der Menschen popularisiert hatten: Der Staat dient nicht dem König, der Staat beschützt seine Bürger, die Bürger respektieren den Besitzstand, Verträge sind zwischen allen Parteien zu halten. Ohne diese Vorstellung eines common good wird jeder Staat von seiner Regierung in Besitz genommen und nur zur persönlichen Bereicherung und zur Befriedigung der eigenen Klientel benutzt. Wahlen verkümmern zu Verteilungskämpfen, in denen es buchstäblich um Leben und Tod geht: Der Staatsapparat wird vom Wahlsieger dazu gebraucht, die Gegner auszuschalten.(45) Deswegen reicht es nicht, in Afghanistan nur die entsprechenden zugriffsstarken Behörden und einen durchsetzungsfähigen Staat zu erschaffen. Es muss zugleich eine Vorstellung eines Allgemeinwohls entstehen, das nicht mehr nur auf den eigenen Stamm, die eigene Ethnie oder die eigene Klientel begrenzt ist, sondern alle Afghanen umfasst. So etwas ist noch nie von einem Tag auf den anderen geschehen.

Eine Allgemeinwohlvorstellung ist gekoppelt an eine gemeinsame Identität. Diese kann nur aus den Afghanen selbst entstehen. Dazu müssen sie die Ziele der Intervention und ihre Gründe sowie Anlässe verstehen und nicht nur die Vorgaben der Intervenierenden erfüllen, um Wiederaufbaukredite zu erhalten. Um es auf einen Satz zuzuspitzen: Die Afghanen müssen sich über sich selbst aufklären – das geht nur mit Sozialwissenschaft. Durch diese soziologische Aufklärung (N. Luhmann) können dann auch Identitätsvorstellungen formuliert werden, die den Kontakt mit den afghanischen Realitäten aushalten.

Kollektive Identitäten und nationale Mythen brauchen eine Aufgabe. Sie müssen eine Zukunftsperspektive beinhalten.(46) Es kann nicht konstruktiv für den Nationbuilding-Prozess sein, wenn die gemeinsame, »nationale« Aufgabe durch die Intervention geschaffen wird und damit mit dem Widerstand gegen die »internationalen Besatzer« beendet ist. Dabei ist noch nicht einmal klar, dass die Intervenierenden wenigstens auf diese negative Art und Weise eine afghanische Einheit herstellen können. Jon Lee Anderson (a. a. O.) berichtet beispielsweise, dass Ahmed Kushah, ein Neffe des berühmten Ahmed Shah Massoud, wieder damit begonnen hat, in den Bergen des Panjshirtals die Infrastruktur für den kommenden Guerillakrieg gegen die Taliban herzustellen. Die alten Kommandanten der Nordallianz und deren Verbündete haben mittlerweile eine neue Partei ins Leben gerufen und begründen diesen Schritt mit einer vermeintlichen neuen Taliban-Freundschaft von Präsident Karzai. Es gibt einen tiefen Graben zwischen »den Paschtunen« und »den Anderen« – zumindest in der politischen Arena.

Wie initiiert man aber eine Ideologie des Allgemeinwohls? Es geht nicht durch die Förderung einer missverstandenen Zivilgesellschaft, die selbst nur Ausdruck einer Allgemeinwohlvorstellung sein kann, diese aber nicht herzustellen vermag. Auch nicht durch Forcierung der Demokratie, weil Demokratie als Regierungsform auch ohne Allgemeinwohl funktionieren kann. Es ist im Prinzip recht einfach: Es muss das Gefühl entstehen, dass das Nationbuilding Strukturen erzeugt, die für alle zugänglich und für alle profitabel sind. Dass gemeinsame Werte geschaffen werden, die man nicht verlieren will – unabhängig von Wohnort, Schicht- oder Stammeszugehörigkeit. Dabei muss man aushalten, dass diese Strukturen dann und wann den eigenen Erwartungen, Normen und Werten nicht entsprechen. Das kann aber auch, durchaus »Heimatdiskurs«-kompatibel, ein Bildungssystem sein, dessen Durchlauf genug Vorteile verschafft, um die dabei anfallenden Bestechungsgelder zu rechtfertigen. Dazu gehört dann aber auch, dass ein hoher Bildungsabschluss den Gang ins Ausland ermöglicht, und auch, dass die logistischen Voraussetzungen bestehen, damit lernwillige Kinder vom Land in die städtischen höheren Schulen gehen können. Dazu gehört auch ein Stipendiensystem, das natürlich anfangs teuer sein wird, aber auch den Armen wieder eine Aussicht auf eine bessere Zukunft geben könnte. Das kann aber auch ein Wirtschaftsraum sein, der ausreichend von Gesetzen und Polizei geschützt ist, um in ihm Gewinne realisieren zu können. Dazu gehört aber auch, dass es Standards gibt, an die sich alle Gewerbetreibenden halten. Das setzt natürlich voraus, dass es ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen auch außerhalb der Familie gibt, was in tribal geprägten Gesellschaften nicht einfach vorausgesetzt werden kann.(47)

Es ist also alles nur im Prinzip einfach. Ganz konkret muss jede einzelne Maßnahme daraufhin überprüft werden, welche Machtpositionen sie stärken und welche sie bedrohen wird. Diese Abwägung der Eingriffe kann nicht mit dem Verweis aufgegeben werden, dass der Stabilisierungsprozess nicht einen klassischen westlichen Idealstaat hervorbringen, sondern gleichsam einen »afghanischen Weg« der Staatsbildung befördern soll. Aber was kann authentisch afghanisch sein, wenn die bekannten Herrschaftsstrukturen entweder tribal-autoritär oder monarchistisch-autoritär waren? Wer sich nur auf das »afghanische Gesicht« verlässt, wird wie im Bildungsbereich eine Restauration bekommen oder – schlimmstenfalls – in offene Konflikte geraten, weil durch 25 Jahre Krieg zermürbte und dysfunktional gewordene Stammesstrukturen die Administration einer partiell gebrochenen, aber eben doch modernisierten und mobilisierten Bevölkerung besorgen sollen.

Unter solchen Voraussetzungen müssen sich die Intervenierenden von lieb gewonnenen Selbstbildern trennen. Die Vereinten Nationen und deren Vertreter verstehen sich als parteilose Konfliktschlichter, ideologielose Aufbauhelfer und Förderer vorhandener Friedenspotenziale. Analoge Strukturen finden sich mittlerweile auch bei einzelnen Militärs (s. Provincial Reconstruction Teams). Ein Staat ist aber nur dann ein potenzieller Förderer des sozialen Friedens, wenn eine Vorstellung vorhanden ist, dass die jeweilige Regierung sich in ihren Handlungen selbst reguliert, und zwar in der Hinsicht, dass jedes Staatshandeln dem common good förderlich sein sollte. Es kann aber von einem Staat, der sein Gewaltmonopol erst durchsetzen muss, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben, kaum erwartet werden, dass seine Vertreter zu dieser distanzierten Selbstkontrolle in der Lage sind. Regierungsinteressen und Staatsinteressen müssen erst einmal auseinander fallen, damit der Staat und seine Ordnungsinstrumente Sicherheit und Gleichbehandlung für alle garantieren können. In Westeuropa ist diese Unterscheidung seit dem 16. Jahrhundert bekannt; ohne diese Unterscheidung würde Jean Bodins Souveränitätsbegriff und seine Staat-Familienmetapher nicht greifen. In der gesamten westlichen politischen Theorie ist diese Differenz eingewoben. Wer nur den westlichen Staat exportiert, die dazugehörige politische Theorie und die entsprechenden modern social imaginaries aber nicht, wird wenig Erfolg haben. Da Vorstellungen den Menschen nicht verordnet werden können, hat Nationbuilding einen schweren Stand.

Also bleibt nur die mühselige Kleinarbeit, die darin besteht, die afghanischen Friedensinseln zu sichern und zu beschützen. Sie müssen aber auch genau studiert werden, um die neuen »Spielregeln« der afghanischen Interventionsgesellschaft erkennen zu können.(48) Der große »nationale« Plan hat jedenfalls ausgedient.

 

1

Thomas G. Weiss: Humanitarian Intervention. Ideas in Action, War and Conflict in the Modern World, Cambridge (UK): Polity 2007; Michael Barnett, Kim Hunjoon, Madalene O’Donnelly and Laura Sitea: »Peacebuilding: What is in a name?«, in: Global Governance 13.1 (2007), S. 35–58; Fabrice Weissman and Roger Leverdier: »Humanitarian Action and Military Intervention: Temptations and Possibilities«, in: Disasters 28.2 (2004), S. 205–215; David Chandler: »The road to military humanitarianism: how the human rights NGOs shaped a new humanitarian agenda«, in: Human Rights Quarterly 23.3 (2001), S. 678–700; Michael Pugh: »The Challenge of Civil-military Relations in International Peace Operations«, in: Disasters 25.4 (2001), S. 345–357; Nicholas J. Wheeler: »Humanitarian intervention after Kosovo: emergent norm, moral duty or the coming anarchy?«, in: International Affairs 77.1 (2001), S. 113–128.

2

Z. B. Jean Bricmont: »Humanitarian Imperialism. Using Human Rights to Sell War«, in: Monthly Review, New York 2006; Terry Nardin: »Humanitarian Imperialism«, in: Ethics & International Affairs 19.2 (2005), S. 21–26.

3

Daniela V. Dimitrova, Lynda Lee Kaid, Andrew Paul Williams and Kaye D. Trammell: »War on the Web. The immediate news framing of Gulf War II«, in: Harvard International Journal of Press/Politics 10.1 (2005), S. 22–44; Christiane Eilders: »Media under fire: Fact and fiction in conditions of war«, in: International Review of the Red Cross 87.860 (2005), S. 639–648; Gerd G. Kopper: »Jeder Schuß wird zum Ereignis«, in FAZ, 28.3.03; Gorm Rye Olsen, Nils Carstensen and Kristian Hoyen: »Humanitarian Crises: What Determines the Level of Emergency Assistance? Media Coverage, Donor Interests and the Aid Business«, in: Disasters 27.2 (2003), S. 109–126; Friederike Böge: »Im Propagandakrieg«, in: FAZ, 22.6.07.

4

Noam Chomsky: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971; Noam Chomsky: »Commentary: Moral truisms, empirical evidence, and foreign policy«, in: Review of International Studies 29.4 (2003), S. 605–620; Noam Chomsky: »Simple truths, hard problems: Some thoughts on terror, justice, and self-defense«, in: Philosophy 80 (2005), S. 5–28.

5

D. K. Chatterjee (ed.): The Ethics of Assistance: Morality and the Distant Needy, Cambridge (UK): Cambridge UP 2004.

6

Dieses Phänomen ist nicht nur ein deutsches. Man kann das nationale Adjektiv recht beliebig austauschen, ohne dass der Satz dadurch falsch werden wird. In Deutschland gibt es allerdings, auch aufgrund der NS-Vergangenheit, einen vergleichsweise besonders starken »Heimatdiskurs«, der zudem – durch den Mangel einer akademischen Tradition der politischen Anthropologie – kaum wissenschaftlich-systematisch begleitet ist.

7

Einen guten Überblick über die Militäreinsätze gegen Taliban und al-Qaida bieten Sean M. Maloney: Enduring the Freedom. A Rogue Historian in Afghanistan, Dulles (VA) Potomac Books 2007; Stephen Bibble: »Afghanistan and the future of warfare«, in: Foreign Affairs 82.2 (2003), S. 31–46.

8

Es bestehen zwar weiterhin einige Trainingsbasen in der pakistanischen Grenzregion – Sean M. Maloney: »Afghanistan four years on: an assessment«, in: Parameters 35.3 (2005), S. 21–32 –, aber diese Kapazitäten reichen nicht aus, um einen Terrorakt außerhalb des direkten Umlands durchzuführen.

9

UNAMA: Suicide Attacks in Afghanistan (2001–2007), Kabul: United Nations Mission to Afghanistan (UNAMA) 2007.

10

Thomas H. Johnson and M. Chris Mason: »Understanding the Taliban and Insurgency in Afghanistan«, in: Orbis 51.1 (2007), S. 71–89; Barnett R. Rubin: »Saving Afghanistan«, in: Foreign Affairs 86.1 (2007), S. 57–78; Daniel P. Sullivan: »Tinder, spark, oxygen, and fuel: the mysterious rise of the taliban«, in: Journal of Peace Research 44.1 (2007), S. 93–108.

11

Asia Foundation: Afghanistan in 2007. A Survey of the Afghan People, Kabul: The Asia Foundation 2007.

12

So Nilab Mobarez, Press Officer der UNAMA, bei einer Pressekonferenz in Kabul am 22.10.2007.

13

Der folgende Lagebericht stützt sich neben eigenen Quellen auf den aktuellen Report of the Secretary-General vom 21.9.2007 (A/62/345-S/2007/555) und die umfangreichen Berichte von UNAMA: Suicide Attacks in Afghanistan (2001–2007), Seema Patel and Steven Ross: Breaking point. Measuring progress in Afghanistan, Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies 2007, Human Rights Watch: The Human Cost. The Consequences of Insurgent Attacks in Afghanistan, New York: Human Rights Watch 2007, International Crisis Group: Reforming Afghanistan’s Police, Kabul: International Crisis Group 2007, Asia Foundation: Afghanistan in 2007. A Survey of the Afghan People, Kabul: The Asia Foundation 2007, State Building, Political Progress, and Human Security in Afghanistan, Kabul: The Asia Foundation 2007.

14

Vgl. Report of the Secretary General (a. a. O.), S. 61.

15

Tonita Murray: »Police-building in Afghanistan: A case study of civil security reform«, in: International Peacekeeping 14.1 (2007), S. 108–126; Mark Burgess: »Enter EUPOL Afghanistan: Security Sector Reform«, in: The Defense Monitor 36.5 (2007), S. 3–4; International Crisis Group: Reforming Afghanistan’s Police; Judy Dempsey: »Letter from Germany: Bickering between NATO and EU hampers training of Afghan police«, in: International Herald Tribune, 23.8.07.

16

Mark Sedra: »Security sector reform in Afghanistan: The slide towards expediency«, in: International Peacekeeping 13.1 (2006), S. 94–110; Ali A. Jalali: »Rebuilding Afghanistan’s national army«, in: Parameters 32.3 (2002), S. 72–86; Timothy J. Edens: Nation building in Afghanistan – a disconnect between security means and political ends? Carlisle (PA): U.S. Army War College 2003.

17

Vgl. Report of the Secretary General (a. a. O.), S. 32.

18

Asia Foundation: Afghanistan in 2007. A Survey of the Afghan People, S. 134 ff.

19

Vgl. aber die Arbeiten Conrad Schetters, z. B. Conrad Schetter: »The Dilemma of Reconstruction in Afghanistan: International Intervention between State, Civil Society and Traditional Elites«, in: Afghanistan, ed. Heinrich Böll Foundation, Publication series on Promoting Democracy under Conditions of State Fragility, Berlin: Heinrich Böll Foundation 2006, S. 9–24.

20

M. D. hat 2007 an einer Evaluation der UN-Migrationsprogramme (Budgetlinie 7-667) in Afghanistan teilgenommen. Der Text ist noch nicht freigegeben.

21

Donald L. Horowitz: Ethnic Groups in Conflict, Berkeley: University of California Press 2000; Donald L. Horowitz: »Some Realism about Constitutional Engineering«, in: Facing Ethnic Conflicts. Toward A New Realism, eds. Andreas Wimmer, Richard J. Goldstone, Donald L. Horowitz, Ulrike Joras and Conrad Schetter, Lanham (MD): Rowman & Littlefield 2004, S. 245–257.

22

Jack Snyder: >From Voting to Violence. Democratization and Nationalist Conflict, New York: Norton 2000; Edward D. Mansfield and Jack Snyder: »Democratization and War«, in: Foreign Affairs 74.3 (1995), S. 79–97.

23

Ganz deutlich ist dazu Rangin Dadfar Spanta: »Afghanistan: Staatsbildung im Schatten der Warlords und des ›Antiterror-Kriegs‹«, in: Jochen Hippler (Hrsg.): Nation-Building. Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung?, Bonn: Dietz Verlag 2004, S. 105–120, S. 112.

24

Asia Foundation: Afghanistan in 2007. A Survey of the Afghan People, S. 148<|>ff.

25

a. a. O., S. 130 f.

26

So wie man in Deutschland eben auch um die Terrorgefahr weiß und sie als Problem wahrnimmt, obwohl der Einzelne nicht in Kontakt mit Terroristen kommt: Auch ein Bewohner eines allein stehenden Gehöfts (das nie und nimmer Ziel von Terrorismus werden wird) kann Terrorismus als ganz reale Bedrohung wahrnehmen.

27

Asia Foundation: Afghanistan in 2007. A Survey of the Afghan People, S. 133 f. Die Umfrage der Asia Foundation wird hier deswegen so häufig zitiert, weil sie höchst aktuell und handwerklich erfreulich gut ist: Die Fragen sind differenziert (wenn auch mitunter artifiziell, aber das liegt in der Natur von Meinungsumfragen), die Durchführung und Methodik ausreichend dokumentiert und die Grundgesamtheit vergleichsweise groß (n = 6263), sodass tatsächlich von Repräsentativität gesprochen werden kann.

28

Wir erkennen die Lernleistung der Militärs unumwunden an: Das Problem ist auch ihnen bekannt. Es fehlt seit dem Irak-Feldzug schlicht an ausreichend Bodentruppen, um auf intensive Luftunterstützung verzichten zu können. Die militärische Debatte ist aber zu komplex, um hier angemessen dargestellt werden zu können.

29

Susan C. Breau: »The impact of the Responsibility to Protect on peacekeeping«, in: Journal of Conflict & Security Law 11.3 (2007), S. 429–464; S. Neil MacFarlane, Carolin J. Thielking and Thomas G. Weiss: »The Responsibility to Protect: is anyone interested in humanitarian intervention?«, in: Third World Quarterly 25.5 (2004), S. 977–992.

30

Vgl. dazu und zum Folgenden: Conrad Schetter: Kleine Geschichte Afghanistans, München: Beck 2004.

31

Astri Suhrke: »Reconstruction as modernization: The ›post-conflict‹ project in Afghanistan«, in: Third World Quarterly 28.7 (2007), S. 1297–1308.

32

Hier übertreibt Spanta (a. a. O.), wenn er die Stämme als nachhaltig zerstört darstellt. Vgl. zur Stammesproblematik Conrad Schetter: »Lokale Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan«, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 39/2007 (2007); Conrad Schetter: »Beyond Warlordism. The Local Security Structure Architecture in Afghanistan«, in: IPG 2/2007 (2007), S. 136–152.

33

Dazu sind die klassischen Arbeiten von Fredrik Barth auf der ethnologischen und Pierre Bourdieu auf der soziologischen Seite immer noch maßgebend.

34

Citha D. Maaß: Afghanistan: Staatsaufbau ohne Staat, Berlin: SWP 2007.

35

Dass hier nur undeutlich von einem »man« als Akteur gesprochen wird, geschieht aus Absicht: Aus den zahllosen Überschneidungen zwischen Intervenierenden und Intervenierten und ihren jeweiligen Untergruppen ergibt sich in heutigen Nation-Building-Interventionen kein benennbarer Akteur mehr. Es bleibt das gemurmelte »man« eines weitgehend unerforschten, weltumspannenden Interventionsdiskurses.

36

»Einsatz der Bundeswehr im Inneren kommt.« Interview mit Verteidigungsminister Jung, in: Rheinische Post (11.10.06), jüngst von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Afghanistanbesuch im November 2007 wörtlich wiederholt.

37

Es sei hier an die mitunter hysterische Debatte erinnert, die sich an der Frage entzündete, ob man einen offiziellen Dialog mit gesprächsbereiten Taliban eröffnen dürfe oder nicht. Dass die Taliban eben auch ein Bestandteil der afghanischen Interventionsgesellschaft sind, ist scheinbar nicht zu begreifen.

38

Asia Foundation: Afghanistan in 2007. A Survey of the Afghan People, S. 132.

39

Michael Daxner: »Wie viel Sicherheit braucht der Aufbau in Afghanistan?« (Vortrag 24.9.07), Arbeitsgruppe Sicherheit und Entwicklung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bonn.

40

Helmut van Edig: »Nation-Building: Eine Strategie für regionale Stabilisierung und Konfliktprävention«, in: Jochen Hippler (Hrsg.): Nation-Building. Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung?, Bonn: Dietz Verlag 2004, S. 215–232, S. 226.

41

Helmut Dubiel: Ungewissheit und Politik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.

42

Charles Taylor: Modern Social Imaginaries, Durham (NC): Duke UP 2004.

43

Jon Lee Anderson: »The Taliban’s opium war. The difficultes and dangers of the eradication program«, in: The New Yorker, 9./16.7.07.

44

So Douglas Wankel, einer der Koordinatoren des US-Antidrogen-Programms in Afghanistan, zitiert nach Anderson (a. a. O.).

45

Neben Synder (a. a. O.) s. Donald Rothchild: »Liberalism, Democracy, and Conflict Management: The African Experience«, in: Andreas Wimmer, Richard J. Goldstone, Donald L. Horowitz, Ulrike Joras and Conrad Schetter (eds.): Facing Ethnic Conflicts. Toward A New Realism, Lanham (MD): Rowman & Littlefield 2004, S. 226–244.

46

Jan Free: Zur Theorie des nationalen Mythos. Eine Begriffsklärung, Oldenburg: BIS 2007.

47

Francis Fukuyama: Trust, New York: Free Press 1995; vgl. Bourdieus Studien zu tribaler Wirtschaft in Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976; Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.

48

Das geht viel tiefer als ein bloßer best practice-Katalog, der mit Idealtypen arbeitet, die mit der sozialen Wirklichkeit selten in Deckung zu bringen sind.

 

Literatur

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In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2007