Herbert Hönigsberger

Das soziale Fundament der Republik

Mindestlohn und Grundeinkommen

 

 

Mindestlohn ist keine Schönwetterforderung, über die sich gewisse Eliten das Maul zerreißen dürften. Der Mindestlohn bestätigt die Arbeitswürde und ist ein Instrument gegen Unterbietungskonkurrenz und gerade das Element einer funktionierenden Marktordnung. Warum aber hat das Grundeinkommen bislang nicht die Popularität erreicht wie der Mindestlohn? Weil hier Leistungs- und Gerechtigkeitsbegriffe ins Spiel kommen, die zwischen Arbeit und Nichtarbeit unterscheiden. Unser Autor votiert daher für eine argumentative Annäherung auf einem gemeinsamen normativen Fundament: Leistung gegen Leistung.

Nirgends sonst bündelt sich zurzeit der gesellschaftliche Konsens über das, was sozial gerecht ist, mehr als im Verlangen nach dem Mindestlohn. Anhänger aller Parteien, selbst die der FDP, sind mehrheitlich dafür. Da helfen kein neoliberales Trommelfeuer und keine Wirtschaftsweisen.(1) Man muss von seiner Hände Arbeit leben können. Das ist eine unhintergehbare Gewissheit von elementarer Wucht. In dieser Überzeugung laufen religiöse Überlieferungen und geschichtliche Erfahrungen zusammen, konvergieren christliche Soziallehre und die sozialistische und kommunistische Tradition. Keine Philosophie oder Theologie kann diesen Satz außer Kraft setzen, da mag man die Faulheit loben, Muße und Kontemplation preisen und die Befreiung von der Arbeit feiern wie man will. Sich starrsinnig an ein Recht auf arbeitsloses Einkommen zu klammern, hat schon mancher Herrenklasse – dem europäischen Adel zumal – Status, Eigentum und gelegentlich auch den Kopf gekostet. Das arbeitslose Einkommen als Privileg weniger ganz oben oder als Recht einiger mehr ganz unten, war und ist zu jeder Zeit ein fundamentaler Affront gegen alle, die arbeiten, um sich selbst am Leben zu halten und dann auch noch die, die nicht arbeiten. Es war und ist eine ungeheure Provokation und Verletzung der arbeitenden Gattung Mensch. Man muss schon gewichtige Gründe für das arbeitslose Einkommen vortragen. Auf Kindheit, Alter, Ausbildung, Kindererziehung, Krankheit haben sich die Arbeitenden der Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise verständigen können. Und darauf, dass auch die ein Recht auf Leben haben, die man nicht arbeiten lässt, obwohl sie könnten und wollen. Denn auch das ist geschichtliche Erfahrung: Die kapitalistische Ökonomie garantiert weder, dass arbeiten darf, wer will, noch dass alle, die arbeiten dürfen, davon leben können. Deshalb erzeugt sie Tag für Tag den gesellschaftlichen Bedarf an Intervention, die sie in die Schranken weist und ihr auf die Sprünge hilft. Die Politik soll gewährleisten, was der Ökonomie nicht gelingt: dass man von der Arbeit wenigstens leben kann, wenn man schon von ihr nicht reich wird. Das ist der Kern der Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn.

In jeder Talkshow ist zu besichtigen, wie komplizierte Argumentationspirouetten, die marktgemäße und produktivitätskonforme Armutslöhne zu rechfertigen suchen, an dieser so einfachen wie eindeutigen, so schlichten wie schlagkräftigen Losung abprallen: Man muss von seiner Hände Arbeit leben können. Den arbeitenden Bürgern ist nicht auszureden, dass sie ein Recht auf Arbeit haben, von der sie leben können. Die Logik der Ökonomie und der ökonomischen Wissenschaft bricht sich an der Logik all derer, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen. Das Volksbegehren nach dem Mindestlohn belegt die ungebrochene Existenz einer lebensweltlichen sozialdemokratischen Mentalität und des reformistischen common sense. Der hält auch in der Globalisierung hartnäckig an den Verheißungen der sozialen Marktwirtschaft fest. Wer arbeiten will, kann arbeiten. Wer arbeitet, kann davon leben. Wenn es schlecht läuft, schnallt man den Gürtel enger. Wenn es besser läuft, fällt vom Kuchen für alle etwas ab, ein paar Krümel selbst für die unten. Derzeit wird elitenseitig gnadenlos die Reformdividende kassiert, die als Exporterlöse, Gewinne, Aktienkurse und Managergehälter sprudelt. Zur selben Zeit wird für Arbeit in vielen Branchen nicht einmal ein Lohn bezahlt, der eine auskömmliche Existenz auf schmaler Basis sichert. Der private und gesellschaftliche Reichtum wächst, und die kleinen Leute sollen sich schon wieder auf die nächsten mageren Jahre einstellen. Das attackiert den sozialdemokratischen gesellschaftlichen common sense frontal und erschüttert ihn im Kern. Nachgerade zwangsläufig wird der Mindestlohn im Konjunkturaufschwung und nach der reformatorischen Gewaltkur zum Symbolthema. Was aber lässt beträchtliche Teile der ökonomischen und medialen Elite wie versessen weiter auf die neoliberale Pauke hauen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufs Spiel setzen? Kein soziales Gespür, bodenloser politischer Leichtsinn, Zynismus, Zockertum, ideologische Borniertheit, Lust am Zündeln? Grotesk, mit welchem Feuereifer Ökonomen, Wirtschaftslenker und ihre medialen Megaphone dem jahrzehntelang mühsam aufgehübschten Kapitalismus die Schminke abkratzen und uns wieder einen Blick auf dessen längst vergessene ordinäre Visage werfen lassen. Dabei war die sozialdemokratisierte Gesellschaft nur zu gern bereit, diese Erinnerung zu löschen. Eine Selbstdemaskierung sondergleichen. So nachdrücklich hätte die politische Linke die Systemfrage nie auftischen können. Dieses grandiose ökonomische System, dessen schreckliche Effizienz, Produktivität und Dynamik staunen machen, ist nicht im Stande, Löhne zu garantieren, von denen man gerade mal so leben kann? Dieses Verlangen soll den Exportweltmeister aus der Bahn werfen? Oder funktioniert es gar nur noch so? Träfe das wirklich zu, lösten sich die ganzen Verheißungen, die ganze Rationalitätsbehauptungen der kapitalistischen Ökonomie vor aller Augen auf. Dem Fass den Boden schlagen die ganzen Rezepturen von Kombilöhnen und diese ganze Aufstockerei aus. Das Produktivvermögen wird privatisiert und die Löhne werden vergesellschaftet. Teile der politischen Klasse haben die Zeichen der Zeit erkannt. Das haben sie vielen ökonomischen Akteuren voraus. Was als Linksruck der SPD mit Sogwirkung auf die Union missverstanden wird, zeugt eher von einer gewissen sozialen und politischen Sensibilität. Es ist der Versuch innergesellschaftlicher Entspannungspolitik.

Der Koalitionsvertrag trifft keine Festlegungen für einen Mindestlohn. Er sieht nur vor, den Niedriglohnsektor neu zu regeln, den Kombilohn zu prüfen und zur Gesamtthematik eine Arbeitsgruppe einzurichten.(2) Bisher hat der Bundestag in sechs Sitzungen über acht oppositionelle Anträge (je drei von der Linken und den Grünen pro Mindestlohn, zwei von der FDP dagegen) diskutiert, der Bundesrat einmal über Anträge aus Berlin und Rheinland-Pfalz.(3) Vorläufiges Ergebnis ist der Koalitionskompromiss vom 16.7.07. Das Entsendegesetz soll auf weitere Arbeitnehmergruppen angewandt und eine Option auf einen Mindestlohn für die Branchen eröffnet werden, in denen es weniger als 50 Prozent Tarifbindung gibt. In der Pressekonferenz danach griff Franz Müntefering die Union scharf an. Die Lehre sei, »dass man den Mindestlohn nicht mit der Union machen kann«. Man könne ihn nur »gegen die Union durchsetzen«. Wie fragil der Koalitionskompromiss ist, zeigt das Wiederaufflammen der Mindestlohndebatte im Postbereich, nachdem es schien, als habe es eine Einigung gegeben. Im Koalitionsausschuss vom 12.11.07, an den sich Münteferings Rücktritt anschloss, wurde der Streit um den Mindestlohn für Briefzusteller verschärft. Die Tür zum Mindestlohn wurde einen Spalt weit aufgestoßen. Aber der Mindestlohn kann nur von einer anderen Koalition durchgesetzt werden. Immerhin gibt es im Parlament eine diskursive, aber nicht handlungsfähige Mehrheit von SPD, Grünen und Linken für einen politisch regulierten Mindestlohn. Seit 2005 hat sich ein Fundus an Gemeinsamkeiten zwischen diesen Parteien ausgebildet. Er umschließt vor allem die allgemeinen Begründungen und die Grundwerte, die sie unterfüttern. In diesen Parteien ist auch nicht strittig, dass die Politik intervenieren und selbst einen Mindestlohn garantieren muss, wenn die autonome Lohnfestsetzung der Tarifparteien versagt. Strittig sind Details. Der Mindestlohn drängt sich als eines der Leitthemen des Wahlkampfes 2009 geradezu auf. Er ist derzeit das einzige Thema, mit dem die SPD die Union am Wickel hat. Die Gegner des Mindestlohns, die Kanzlerin vorneweg, haben die Brisanz ihrer Verweigerung erstaunlicherweise noch kaum erkannt.

Die Würde, die aus der Arbeit zu ziehen ist, hängt auch von der Lohnhöhe ab. Das ist die Basis der Gemeinsamkeiten der Befürworter des Mindestlohns. Jede Begründung, die sich auf den Zusammenhang von Lohn und Würde einlässt, sprengt ökonomische Argumentationen auf, die auf die unterschiedliche Produktivität in verschiedenen Branchen verweisen. Denn die Würde existiert unabhängig von Produktivität. Der arbeitende Mensch hat nicht mehr oder weniger im Lohn anerkannte und ausgedrückte Würde, je nachdem, wie produktiv er ist. Der Lohn, der eben noch Würde stiftet, der entsprechend »gerechte« Lohn, der auf einem bestimmten historisch-kulturellen Niveau eine minimale Existenz und damit gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, kann nur in allen Branchen gleich sein. Er kann allerdings je nach den Kosten der Lebenshaltung regional variieren. Er variiert in 18 EU-Staaten zwischen 1.467 (Luxemburg) und 72 Euro (Rumänien) im Monat, respektive 8,69 (Luxemburg) und 0,47 Euro (Bulgarien) je Stunde. Er könnte auch in Deutschland Ost und West unterschiedlich hoch sein. Die Mindestlöhne in der EU belegen, dass die europäischen Demokratien wirtschaftlich tragfähige Lösungen vorlegen können. Die Politik hat sich als durchsetzungsstark und fähig erwiesen, ökonomisch rational zu handeln. Auch die deutsche Demokratie ist zu ökonomisch rationalem Handeln fähig, wenn sie den politischen, verwaltungsinternen und wissenschaftlichen Sachverstand in geeigneten Konfigurationen zusammenführt. Doch hat der deutsche Diskurs einen eigentümlichen Unterton. Teile der politischen Klasse attestieren sich selbst regelmäßig weniger ökonomische Kompetenz als den Tarifparteien. Die Behauptung mag für betriebliche Kalküle gelten, doch gewiss nicht für die gebündelte volkswirtschaftliche Kompetenz der politischen Klasse und ihrer Apparate. Nach allem, was an Versagen der Tarifautonomie zu beobachten ist, besteht kein Zweifel, dass die Demokratie den Mindestlohn mindestens so gut, wenn nicht besser festlegen kann. Der Mindestlohn ist ein Testfall. Die politische Klasse kann den Primat der Politik, den Primat der Demokratie behaupten. Die Durchsetzung des Mindestlohns ist ein Indikator für die Handlungsfähigkeit der Politik. Er hebelt nicht die Tarifautonomie aus. Er steht auf der Tagesordnung, weil die Tarifautonomie in vielen Branchen und Regionen bereits ausgehebelt ist. Wenn die Lohnsetzung durch die Tarifparteien nicht mehr maßgeblich ist und keine gesellschaftlich akzeptablen Lösungen mehr produziert, darf und muss die Politik intervenieren. Dazu interveniert sie im eigenen Interesse. Sie beweist Durchsetzungsfähigkeit gegenüber einer aus den Fugen geratenen Ökonomie. Auf politische Regulierung zu verzichten, wenn sich die Tarifparteien erkennbar als regelungsunfähig erweisen, wäre eklatantes Politikversagen. Kapituliert die politische Klasse an diesem Punkt, kapituliert sie vor Anmaßungen der Ökonomie, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Die Durchsetzung eines politisch regulierten Mindestlohns folgt deshalb auch aus dem Selbsterhaltungswillen der politischen Klasse. Politiker, die diesem Imperativ nicht folgen, geben sich auf. Das tut der Demokratie nicht gut.

Der Mindestlohn ist ein Instrument gegen Unterbietungskonkurrenz und damit Element einer funktionierenden Marktordnung. Es schützt die Mehrheit der tarifwilligen Unternehmen, die auf fairen Wettbewerb setzen, vor unlauterer Konkurrenz mittels Lohndumping. Wenn Mindestlöhne nicht bezahlt werden können, dann stimmt etwas betriebswirtschaftlich nicht. Wer einen Mindestlohn nicht zahlen kann, ist zu fairen Bedingungen nicht wettbewerbsfähig und muss nach den Regeln der Ökonomie aus dem Wettbewerb ausscheiden. Unternehmer kann nicht sein, wer zu einem unternehmerischen Kalkül auf Mindestlohnbasis nicht im Stande ist. Das ist klassische Ordnungspolitik. Die Wettbewerber der Post, die drohen dicht zu machen, wenn es Mindestlöhne gibt, sind in Wahrheit keine Wettbewerber. Sie kompensieren Kapitalmangel und technologische Innovationsschwäche durch unterbezahlte Arbeitskräfte. Der Verzicht auf einen geregelten Mindestlohn subventioniert betriebswirtschaftlich nicht leistungsfähige, dumme und schlechte oder geizige und asoziale Unternehmer.(4) Die Gesellschaft scheint bereit zu sein, die Folgen zu tragen, wenn schlecht bezahlte Arbeitsplätze wegen des Mindestlohns wegfallen. Auf dem europäischen Sozialstaatskongress des DGB am 13./14. März in Berlin haben Bischof Kamphaus, Mitglied des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz, und Nikolaus Schneider, Mitglied des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland, beide Repräsentanten der christlichen Soziallehre, tosenden Beifall für die Aussage bekommen: Wir wollen Arbeitsplätze zu Armutslöhnen nicht.

Für den normativen Grundkonsens der demokratischen Republik ist unverzichtbar, ja konstitutiv, dass die Käufer der Arbeitskraft den Verkäufern einen Lohn zahlen, der die Existenz sichert. Übereinkunft zwischen diesen ökonomisch ungleichen Akteuren mit unterschiedlichen Funktionen im Produktionsprozess kann es nur geben, wenn der Sinn des Tauschakts Arbeitskraft gegen Lohn nicht in Frage gestellt wird, nämlich von der Arbeit leben zu können. Aber auch von Bürger zu Bürger, also von Gleichen zu Gleichen, sind die »Arbeitgeber«den »Arbeitnehmern« einen Lohn schuldig, der die Existenz sichert. Wer die Fabrik, den Betrieb betritt, gibt die Staatsbürgereigenschaft am Tor nicht ab. Der Arbeiter bleibt auch in der Fabrik Bürger. Den Citoyens, die in der kapitalistischen Ökonomie als »Unternehmer« fungieren, ist abzuverlangen, den arbeitenden Citoyens, ihren Mitbürgern, die sie beschäftigen, einen Lohn zu gewähren, der ihre Existenz als politisches Subjekt sichert. Wenn der Lohn das Existenzminimum unterschreitet, verstößt das in doppelter Weise gegen das Wertesystem der Republik. Bürger arbeiten zu lassen, ohne sie so entlohnen, dass sie davon leben können, zerstört ihre Würde als Menschen und verletzt ihr Bürgerrecht. Den widerstrebenden Bourgeois, deren Kompetenz und Phantasie zu Wettbewerb ohne Lohndumping nicht reichen, ist die Einsicht im Zweifelsfalle demokratisch aufzuherrschen.

Das Grundeinkommen ist die schlichte Formel dafür, dass man auch leben darf, wenn man aus der Arbeitswelt herausgefallen ist. Wenn die Wechselfälle des Lebens arbeitsunfähig machen oder Unternehmer wegen der Wechselfälle der Ökonomie nicht fähig sind, die Bürger arbeiten zu lassen, dann hat man zumindest einen Anspruch auf eine minimale Existenz. So gesehen ist das Grundeinkommen der Zwilling des Mindestlohns. Doch hat es das Grundeinkommen längst nicht zu vergleichbarer Popularität gebracht.(5) Das liegt auch an der unterschiedlichen Komplexität der Politikmaterien. Die Einführung des Mindestlohns hätte weit reichende Wirkungen, ist aber eine vergleichsweise einfache gesetzliche Aktion. Das Grundeinkommen soll einen Wust an intransparenten und verknoteten sozialstaatlichen Regelungen ersetzen. Dies allerdings erfordert eine Kaskade gesetzgeberischer Operationen mit schwer bezifferbaren finanziellen Folgen.(6) Doch ist das nicht der entscheidende Grund, warum der Mindestlohn zum sozialstaatlichen Symbolthema avanciert ist, während das Grundeinkommen auf der Stelle tritt. Es liegt auch an seinen Befürwortern. Sie treffen nicht den Ton des sozialdemokratischen common sense, sie rühren nicht am Kern des gesellschaftlichen Gerechtigkeitsempfindens.

Recht komponiert – individuell unter allen Umständen und unabhängig von sozialen Bindungen und Beziehungen gewährt – ist das Grundeinkommen allen gängigen Konzepten der bedarfsorientierten Grundsicherung überlegen. Es reduziert den bürokratischen Aufwand und verzichtet auf Stigmatisierung, soziale Kontrolle und Sanktionsdrohungen. Es reagiert auf unstete Erwerbsverläufe und auf Armut. Da es nahe liegt, das Grundeinkommen durch die progressive Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Erbschaft zu finanzieren, ist es ein Eckpfeiler der Umstellung der Sozialstaatsfinanzierung von Beiträgen auf Steuern. Als Instrument der Grundsicherung ist es mit vielfältigen zusätzlichen – parallelen und aufbauenden, gesetzlichen, tarifvertraglichen und privaten – Angeboten sozialer Sicherung und Institutionen der Daseinsvorsorge vereinbar. Seine normative Grundorientierung gründet wie der Mindestlohn auf die Werte der Freiheit, der republikanisch-demokratischen Gleichheit, der Solidarität der Citoyen und von Gerechtigkeit und Menschenwürde. Es ist ein Eckpfeiler der Daseinsvorsorge, mit dem die demokratische Republik ihren Bürger vor den Fährnissen der kapitalistischen Ökonomie schützt. Aber es löst nicht alle sozialen Fragen, die die kapitalistische Produktionsweise aufwirft. Schon gar nicht ist es der Weg, um aus ihr auszusteigen. Es drängt auf die Agenda, weil die Sozialpolitik auf den Punkt zusteuert, an dem der Systemwechsel kostengünstiger und transparenter, also rationaler, effektiver und effizienter wird als Politik auf dem eingeschlagenen Pfad. Doch als bedingungslose öffentliche Leistung widerspricht er dem sozialdemokratischen common sense der Mehrheit.

Der beharrt auf einer Art Äquivalenzprinzip. Ehrliche Arbeit gegen Mindestlohn. Leistung gegen Leistung. Dieser Tausch macht den Mindestlohn stark. Arbeitsloses Einkommen, weil man vorher gearbeitet und in eine Kasse Beiträge einbezahlt hat. Diese Stärke hat das Grundeinkommen nicht. Je honoriger die Begründungen ausfallen, es bedingungslos zu gewähren, desto mehr distanziert es sich vom gemeinen Gerechtigkeitsempfinden. Mittelschichtenseitig mag man noch irgendwelchen Luftikussen und Lebenskünstlern ein bedingungsloses Grundeinkommen ohne Arbeit und für nichts zubilligen. Aber die hart arbeitenden Schichten weiter unten sind weitaus weniger geneigt, selbst ihresgleichen ein auskömmliches Einkommen zu gönnen, wenn sie nicht arbeiten oder gearbeitet haben. Dem Widerstand gegen das Grundeinkommen würde Wind aus den Segeln genommen, könnten die Befürworter das Prinzip des Äquivalententausches in Rechnung stellen, anstatt es aushebeln zu wollen. Dieses Prinzip durchdringt in Waren produzierenden Gesellschaften alle Schichten des gesellschaftlichen Bewusstseins und der sozialen Beziehungen, alle Ebenen des normativen Diskurses und auch die Konstruktion des Sozialstaats. Nur in besonderen Fällen macht es dem Bedarfsprinzip Platz wie im Fall von Krankheit. Auch sollten die Freundinnen des Grundeinkommens die historische Erfahrung akzeptieren können, dass vor allem herrschende Klassen das Äquivalenzprinzip zu ihren Gunsten außer Kraft gesetzt haben. Jede Abweichung zieht den Verdacht des Privilegs auf sich. Der hartnäckige lebensweltliche Sozialdemokratismus widersetzt sich dem Versuch, die Formel vom bedingungslosen Grundeinkommen zum äquivalentlosen Einkommen, zum Einkommen ohne Gegenleistung zu überdehnen. Zwar halten avantgardistische Minoritäten in den Mittelklassen es durchaus schon für eine angemessene Gegenleistung, sich mit dem Grundeinkommen durchzuschlagen und ansonsten niemandem auf die Nerven zu gehen. Doch dem common sense geht das zu weit. Er hantiert mit dem Äquivalenzprinzip anders. Seine Minimalforderung an andere ist, nicht anders und nicht besser sein zu wollen als all jene, die sich dem kapitalistischen Arbeitsprozess aussetzen. Er beharrt in eigentümlicher Form auf einer Gleichheit in der Arbeit und durch sie.

Das Grundeinkommen sichert nur die unterste Stufe der materiellen Existenz. Es entlässt die Bezieher weder aus der Abhängigkeit von der Produktivität der Ökonomie noch von der Verteilungsleistung der demokratischen Republik. Es als emanzipatorischen Auszug aus der Arbeit zu feiern, ist eine so widersinnige wie dürftige Utopie. Aber die Kritik und Ablehnung der Arbeit, die andere tun müssen, damit die Nichtarbeit der Grundeinkommensbezieher finanziert werden kann, verletzt das alltägliche Gerechtigkeitsempfinden zutiefst. Das Grundeinkommen kann so wenig ein Privileg sein wie der Mindestlohn. Es ist wie dieser nur ein Schutzwall. Das eben verbindet sie. Der zentrale Schwachpunkt des bedingungslosen Grundeinkommens ist die Abstraktion vom Äquivalenzprinzip. Das dämmert klugen Protagonisten mittlerweile selbst. Sie favorisieren deshalb als Gegenleistung eine Verpflichtung, sich während des Bezugs zu bilden.(7) Doch unterschlägt der Vorschlag nicht nur die individuellen Benefits von Bildung und überhöht den gesellschaftlichen Nutzen von Bildungsanstrengungen zu einem Äquivalent nach dem Muster einer Arbeitsleistung, die Steuereinnahmen generiert. Er läuft auch Gefahr, das Recht auf Bildung in eine Bildungspflicht zu verkehren. Der Logik des Äquivalententauschs entspricht letztlich nur eins: Grundeinkommen gegen bürgerschaftliche Arbeit, Grundeinkommen gegen Arbeit für die demokratische Republik, Grundeinkommen für Arbeit, die dem Kollektiv der Steuern zahlenden Bürger zugute kommt, Grundeinkommen gegen allgemeinen Zivildienst. Also Arbeit von Bürgern für Bürger. Das erfordert einen entsprechenden Sektor öffentlicher Beschäftigung. Der entlastet die Arbeitsvermittlung und befreit sie vom Zwang, widersinnigen Druck auf Arbeitslose auszuüben. Nichts spricht auch dagegen, den Anspruch auf Grundeinkommen auf einen allgemeinen Zivil-, wahlweise Wehrdienst von einem Jahr für alle 18-Jährigen zu gründen. Und in diesem Kontext spricht auch nichts dagegen, Bildungsaktivitäten in den Katalog der Dienste an der Republik aufzunehmen, etwa solche, die die Arbeitsfähigkeit und damit die Leistungsfähigkeit der Bürger als Steuerzahler erhöhen. Gleichzeitig erscheint es sachdienlich, von allen Parolen Abstand zu nehmen, die dem Grundeinkommen individuell emanzipatorische und gesellschaftlich transitorische Effekte unterschieben, ja es gar zur Chance überhöhen, die Tretmühle des fremdbestimmten kapitalistischen Arbeitsprozesses hinter sich zu lassen und ins selbst bestimmte Reich der Freiheit überzuwechseln.(8) Das ist vom selben falschen Überschwang wie die neoliberalen Phrasen, die selbst mieser und unterbezahlter Arbeit andichten, sie stifte Würde und hebe das Selbstwertgefühl. Für die Freundinnen von Utopien und Visionen sollte reichen, das Grundeinkommen als Recht des Bürgers in der demokratischen Republik und als Gegenleistung Dienste für die Republik zu verlangen.

Die Promotoren des Grundeinkommens können von der normativen Durchschlagskraft der schlichten Begründung des Mindestlohns nur lernen. Und es scheint, als könne die disparate Bewegung für das Grundeinkommen von der kommunikativen Karriere des Mindestlohns auch praktisch profitieren. Je mehr sie sich dem Begründungsmuster des Mindestlohns annähert, desto mehr könnte sie sich des Verdachts des Neoliberalismus entledigen.(9) Die Existenzsicherung von Bürgern führt Mindestlohn und Grundeinkommen auf einem gemeinsamen normativen Fundament zusammen. Eine arbeitszentrierte Begründung dividiert sie zwischen den Polen Arbeit und Nicht-Arbeit auseinander. Um Mindestlohn, Grundeinkommen, aber auch die Bürgerversicherung formiert sich eine gesellschaftliche Strömung für allgemeine Grundsicherung. Sie kann Koalitionen auf der parlamentarischen Ebene stimulieren und damit realpolitisch relevant werden.

Mindestlohn und Grundeinkommen sind defensive Reaktionen auf die harten Zeiten der Globalisierung und die Risse im sozialstaatlichen Gefüge. In Gesellschaften mit kapitalistischer Ökonomie sind sie gleichermaßen Instrumente sozialer Grundsicherung. Sie garantieren Minimalbedingungen und Minimalstandards für alle, ob sie im Produktionsprozess stehen oder aus ihm ausgeschlossen bleiben. Sie sichern allen Bürgern – ob drinnen oder draußen und in jeder Lebenslage – die Existenz auf minimalem Level. Nicht mehr, das aber immerhin. Doch sind Mindestlohn und Grundeinkommen nicht nur normativ miteinander verkoppelt. Sie sind es auch ganz praktisch. Der Mindestlohn zieht in die kapitalistische Ökonomie eine untere Schwelle ein, die die Menschen- und Bürgerwürde definiert. Das hat Konsequenzen für die Konstruktion des Grundeinkommens, vor allem seiner Höhe. Die demokratische Republik kann diese Schwelle mit dem Grundeinkommen nicht unterschreiten. Die Menschenwürde ist unteilbar. Was die demokratische Republik der Ökonomie als Untergrenze und Minimalstandard abverlangt – 7,50 Euro beispielsweise - kann sie selber nicht unterbieten. Der Mindestlohn definiert das Grundeinkommen und umgekehrt. Mindestlohn und Grundeinkommen sind aneinander gekoppelte, korrespondierende Größen. Politik und Tarifparteien sind bei der Festlegung des Mindestlohns in der Vorhand. Wer sich für das Grundeinkommen begeistert, sollte sich für die Festlegung des Mindestlohns interessieren. Der Bewegung für das Grundeinkommen eröffnen sich damit politische Bündnisoptionen. Doch markiert der Mindestlohn die Untergrenze der Lohn- und Gehaltsskala. Das Grundeinkommen ist dagegen zugleich das Minimal- wie das Maximaleinkommen, das die demokratische Republik gegen Arbeit in ihrem Dienste gewährt. Das »Lohnabstandsgebot«, in dem sich die Anreizlogik der Wirtschaftswissenschaften und das populäre Gerechtigkeitsgefühl treffen, wird damit nicht ausgehebelt, aber reformuliert. Wer arbeitet, Steuern und Sozialabgaben bezahlt, hat netto ab dem ersten Cent oberhalb des Mindestlohns mehr als die Bezieher des Grundeinkommens. Wer arbeitet bekommt die Chance, an vielfältigen öffentlichen, tarifvertraglichen und privaten Zusatzversicherungen für alle Lebenslagen zu partizipieren. Das ist ein Konstruktionsprinzip von Mindestlohn und Grundeinkommen.(10) Dieser Hinweis könnte zusammen mit dem demonstrativen Angebot bürgerschaftlicher Arbeit gegen Grundeinkommen dazu beitragen, das Grundeinkommen dem aktuellen Zentrum der Sozialstaatsdebatte – der Mindestlohndebatte – näher zu rücken.

1

Sachverständigenrat (2007: 364 –368).

2

»Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit«, Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, S. 31 f.

3

BT: Plenarprotokolle 16/20, 16/37, 16/58, 16/94, 16/95 und 16/103; Drucksachen 16/398, 16/656, 16/1653, 16/1878, 16/2978, 16/4845, 16/4864, 16/5102; BR: Plenarprotokoll 836; Drucksachen 517/07, 622/07.

4

Zur gegenteiligen ordnungspolitischen Auffassung kommt der Sachverständigenrat (2007: 367 f).

5

Engler (2007: 17) ist der Meinung, beim Grundeinkommen ginge es nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie. Es kann sich nur um eine irrige Autosuggestion handeln, die weniger beflügelt als trügt. Zu Gründen der mangelnden Popularität des Grundeinkommens vgl. Vobruba 2006. Der Sachverständigenrat (2007: 223–246) widmet dem »solidarischen Bürgergeld« des sachsen-anhaltinischen Ministerpräsidenten Althaus weitaus mehr Seiten (23) als dem Mindestlohn (4). Dabei ist doch der Mindestlohn politisch von höherer Aktualität. Die Weisen sind sich bei der Ablehnung des Althaus-Konzeptes, das sie für unfinanzierbar halten, offenbar einiger als bei der Ablehnung des Mindestlohnes.

6

Dies zeigen die Rechnungen des Sachverständigenrates zum Althaus-Modell.

7

Engler (2007) widmet seine Schrift diesem Aspekt. Doch schimmern hinter der Koppelung von Grundeinkommen und Bildungsbemühungen Zweifel an der Autonomie der Grundeinkommensempfänger durch. »Die einfache Wahrheit, der zufolge Menschen ohne Arbeit ihr Dasein schon zu führen wüssten, erlöste man sie nur von materiellen Kümmernissen, genügt nicht. Beides, existentielle Garantien und die beharrliche Sorge um sich, gehört zusammen; die soziale Frage erweitert sich zur kulturellen.« Doch darf diese Einsicht nicht zum Tauschgeschäft »Grundeinkommen gegen Bildung« umgemünzt, darf das Recht auf Bildung nicht zu einer Bildungspflicht als Äquivalent für ein Grundeinkommen umgedeutet werden. Aber: »Konkret verwirklicht sich das Recht auf arbeitsfreien Lebensunterhalt in Form eines auskömmlichen Grundeinkommens. Es wird jedem erwachsenen Bürger unter der Bedingung glaubwürdiger und beglaubigter Bildungsanstrengungen gewährt. Diese Einschränkung ist der persönlichen Freiheit förderlich und um ihretwillen unverzichtbar.« (101)

8

Der Sammelband Grundeinkommen – soziale Sicherheit ohne Arbeit legt es vorrangig darauf an, die Destruktivität und Entfremdung des kapitalistischen Arbeitsprozesses zu dechiffrieren und demgegenüber die emanzipatorischen Potenziale des Grundeinkommens auszumalen. Doch je mehr dies geschieht, desto unwahrscheinlicher erscheint das Interesse der Mehrheit, sich in die kritisierten Arbeitsprozesse einspannen zu lassen, um das Privileg weniger zu finanzieren, die aus diesem Prozess ausziehen wollen. So vertieft das Grundeinkommen Ungleichheit und Spaltungen zwischen Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden.

9

Götz Werner und Dieter Althaus erweisen dem Grundeinkommen durch ihre Verquickung mit verwegenen Steuerplänen einen Bärendienst. Der Drogerie-König will die Einkommenssteuer abschaffen und das Grundeinkommen durch eine drastisch erhöhte Mehrwertsteuer finanzieren. Der Ministerpräsident koppelt das Grundeinkommen an eine zweistufige Flat-Tax. Zur Finanzierung bieten sich stattdessen die Sozialtransfers an, die das Grundeinkommen ersetzen, sowie progressive Besteuerung.

10

Englert widmet diesem Aspekt unter dem Eindruck jüngster Entwicklungen drei Seiten seines »Postskriptums« (S. 151 ff.). »Arbeitseinkommen > Grundeinkommen … Keine Grundsicherung ohne gesetzlichen Mindestlohn. … Ohne Deckung durch einen Mindestlohn sinkt das Grundeinkommen unter die Schwelle des Auskommens. ...« (151) Der Mindestlohn ist der »Pate« des Grundeinkommens (152).

Literatur

Engler, W. (2007): Unerhörte Freiheit – Arbeit und Bildung in Zukunft, Berlin

Exner, A./Rätz, W./Zenker, B. (2007) (Hrsg.): Grundeinkommen – Soziale Sicherheit ohne Arbeit, Wien

Hönigsberger, H. (2007): »Die Basis der Republik – Ein Vorschlag zum Diskurs über das Grundeinkommen«, in: Kommune 1/07

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2007): Jahresgutachten 2007/08. Das Erreichte nicht verspielen

Vobruba, G. (2006): »Gute Gründe reichen nicht. Zur neuen Diskussion eines garantierten Grundeinkommens«, in: Kommune 1/06

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2007