Carolin Baur / Karl-Martin Hentschel

Einheit in Vielfalt

Für ein kosmopolitisches Einwanderungsmodell*

 

 

Deutschland ist ein Einwanderungsland – nicht erst seit gestern. Nach 50 Jahren faktischer Einwanderung wird diese Tatsache auch in konservativen Kreisen anerkannt. Doch wird der Begriff »Integration« immer mehr in Richtung »Assimilation« umgedeutet. In diesem Artikel wird die kontroverse Debatte über die Begriffe »Integration« und »Multikulturalismus« kritisch aufgearbeitet und ein neues Modell für eine Einwanderungspolitik formuliert. Es geht um ein »kosmopolitisches Einwanderungsmodell«.

Hilal Sezgin hat in ihrem Artikel »Integration als Waffe«(1) formuliert: »... das Wort ›Integration‹ ist inzwischen dermaßen aufgeladen, dass es mehr eine bestimmte Position in dieser Debatte bezeichnet als ihren neutralen Gegenstand.« Tatsächlich wird in Deutschland die Einwanderungsdebatte vom Begriff der »Integration«(2) geprägt. In der Soziologie bedeutet Integration die Wiederherstellung eines Ganzen durch Prozesse, die Verhalten und Bewusstsein nachhaltig verändern.(3) Otto Speck spricht von der kombinatorischen Schaffung eines neuen Ganzen unter Einbringung der Werte und Kultur der außen stehenden Gruppe in die neue Gesellschaft, bei Erhalt einer eigenen »Identität«.(4)

Jedoch werden Assimilation und Integration begrifflich oft gleich gestellt oder miteinander verwechselt. Der nationale Integrationsplan der Bundesregierung macht keine Ausnahme. Es wird von Dialog und Geben und Nehmen geredet – aber das wird so verstanden, dass die Regierungen von Bund und Ländern mehr oder weniger schlecht finanzierte Angebote machen (Geben) und die Migranten aufgefordert werden, diese anzunehmen (Nehmen). Dahinter steht die Vorstellung, dass Einwanderung ein Problem ist, das gelöst werden soll, indem die EinwandererInnen sich der Mehrheitsgesellschaft immer mehr anpassen und sich schließlich in ihr »auflösen«. Diese Sicht basiert auf falschen Annahmen:

Einwanderung muss nicht per se ein Problem sein. Die einseitige Integration = Assimilation von EinwandererInnen ist eher die Ausnahme. Meist entwickelt sich eine gegenseitige Durchdringung der Kulturen der Einwanderer und der Mehrheitsgesellschaft. Aber es kommt auch vor, dass Minderheiten ihre Identität über Jahrhunderte in der Mehrheitsgesellschaft beibehalten – wie die Juden oder die Roma und Sinti.

Modelle der Einwanderungspolitik

Bei den Modellen für eine Einwanderungspolitik kann man grob zwei gegensätzliche Konzepte unterscheiden: Assimilation und Multikulturalismus.

Die in Deutschland praktizierte Einwanderungspolitik folgt überwiegend dem Modell der Assimilation. Es geht von einer relativ homogenen Mehrheitsgesellschaft aus und betrachtet Einwanderer mit anderen kulturellen Normen als ein Problem. Die Minderheiten sollen schrittweise ihre Fremdheit ablegen und sich unauffällig integrieren, das heißt sich weitgehend an die Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft (beispielsweise »deutsche Leitkultur«) anpassen. Dieses Modell ist der Hintergrund für die »Integrationsdebatte« in Deutschland. Es hat jedoch zwei inhärente Schwächen:

Erstens wird die Forderung nach einseitiger Assimilation oft als Aufforderung zur Aufgabe der eigenen Identität verstanden. Selbst jugendliche Einwanderer, die die Werte unserer offenen demokratischen und pluralistischen Gesellschaft attraktiv finden, sind oft nicht bereit, ihrer Herkunft abzuschwören. Der falsch verstandene »Integrations«-Diskurs treibt deshalb manche Jugendliche zur Abgrenzung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere, wenn eine reale Benachteiligung im Bildungssystem und in der Arbeitswelt erlebt wird.

Zweitens erschwert die Forderung nach Assimilation die offene und kritische Auseinandersetzung zwischen den Kulturen. Der oft beschworene internationale Austausch von WissenschaftlerInnen und ExpertInnen wird erschwert. Die Herausbildung von intellektuellen Leitmilieus aus den Reihen der Einwanderer, die sich positiv und/oder kritisch mit der Mehrheitsgesellschaft auseinander setzen – aber gerade darüber auch sich mit ihr identifizieren –, wird behindert. Doch erst über diese Auseinandersetzung kann Deutschland zur Heimat der Einwanderer, zu ihrem Land werden. Auf jeden Fall ist die Reduzierung des Integrationsbegriffes auf den Assimilationsgedanken ein untaugliches Konzept, das wir überwinden müssen.

Das Modell des Multikulturalismus ist weniger leicht zu definieren. Darunter werden sehr verschiedene Herangehensweisen subsumiert, wie Länder mit kultureller und ethnischer Vielfalt umgehen können. Die Kernvorstellung des in verschiedenen Varianten vertretenen Multikulturalismus ist eine positive Bewertung ethnischer und kultureller Vielfalt, verbunden mit der moralisch-normativen Forderung nach Toleranz. Dieses Modell ist typisch für klassische Einwanderungsgesellschaften wie Kanada, Australien und auch die USA. Der Multikulturalismus prägte aber auch die Diskussion in Großbritannien, in den Niederlanden und zum Teil in Deutschland, wobei die Vorstellungen, was man darunter verstehen soll, sehr differieren.

Als »Musterland« des Multikulturalismus gilt Kanada. Die Philosophie des kanadischen Multikulturalismus lässt sich zu folgenden Grundprinzipien zusammenfassen:

– Prinzipielles Ja zu ethno-kulturellen Verschiedenheiten und das Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit und gegenseitige Toleranz;

– Sicherheit-Kontakt-Hypothese: Die Verankerung in der Eigengruppe fördert das Selbstbewusstsein und die psychische Sicherheit und schafft so die Voraussetzungen für die Offenheit gegenüber anderen ethnokulturellen Gruppen, die Toleranz und interethnische Kontakte erst ermöglichen;

– Einheit-in-Vielfalt (unity-within-diversity): Ein Kern von Grundwerten und -regeln (Verfassung, Gesetze, gemeinsame Sprache) garantiert den Zusammenhalt des Ganzen und setzt der Verschiedenheit und dem Recht auf kulturelle Differenz und dem Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit Grenzen;

– Management-Annahme: Multikulturalismus bedarf des politischen Managements, der politischen Ermutigung und Förderung durch eine aktive Politik der Gleichstellung.

Dieses Modell darf nicht verwechselt werden mit dem so genannten Schmelztiegel in den USA: Die Vielfalt der Kulturen soll nicht in einem »melting-pot« eingeschmolzen werden, sondern jede ethnokulturelle Gruppe solle, wie die Steine eines Mosaiks, ihre spezifische Farbe und Form behalten.(5)

Amartya Sen kennzeichnet zwei grundverschiedene Haltungen gegenüber dem Multikulturalismus: »Die eine möchte die Vielfalt als einen Wert an sich fördern, die andere stellt die Denk- und Entscheidungsfreiheit in den Vordergrund und schätzt die kulturelle Vielfalt nur insofern, als sie von den betroffenen Personen so frei wie möglich gewählt wurde.«(6) Deshalb wendet Sen sich radikal gegen die Tendenz in vielen europäischen Ländern, Menschen auf ihre kulturelle oder religiöse Herkunft und Zugehörigkeit zu reduzieren. Diese angeborene Identität werde oft für bedeutender gehalten als politische Ausrichtung, Sprache oder Klasse. Für Sen ist das kein Multikulturalismus. Er fordert dazu auf, jeden Menschen als Individuum anzuerkennen und zu akzeptieren, dass jeder sehr unterschiedliche Identitäten haben kann. Das können Identitäten sein, die er von seiner Familie übernommen hat, aber auch Identitäten, die er frei gewählt hat. Diese These der »Wahlfreiheit der Identitäten« lässt sich auch so auf den Punkt bringen: »Ich bin Necla Kelek, ich bin deutsche Staatsbürgerin und trage eine türkische Kultur in mir, die ich genauso liebe wie die deutsche. Ich bin im besten Sinne frei.«(7)

Sen unterscheidet den (offenen) Multikulturalismus gegenüber dem, den er den pluralen Monokulturalismus nennt. Gilt die Existenz einer Vielfalt von Kulturen, die möglicherweise wie Schiffe in der Nacht aneinander vorbeifahren, als gelungenes Beispiel für Multikulturalismus? Diese Frage beantwortet Sen mit Nein. Denn wenn zwei Stile oder Traditionen nebeneinander existieren, ohne sich zu treffen, dann muss man von einem »pluralen Monokulturalismus« sprechen. Kulturelle Freiheit bedeutet eben auch das Recht, sich kulturellen Traditionen widersetzen zu können.

Wichtig für die individuelle Freiheit, Identitäten zu wählen, ist besonders die Bildung: Deshalb ist Sen so sehr gegen Konfessionsschulen. Solche Schulen (für muslimische, hinduistische oder Sikh-Kinder in Großbritannien) verhindern, dass die Kinder darüber unterrichtet werden, was das Leben in einem Land ohne Rassentrennung von ihnen verlangt.

Die Idee des Schmelztiegels, die Idee der kulturellen Freiheit und die des pluralen Monokulturalismus mit seinem oft religiös begründeten Separatismus sind drei grundverschiedene Konzepte. Deswegen ist die These, die Multikulti-Politik sei in Deutschland gescheitert, ziemlicher Unsinn. Keines dieser Konzepte prägte je die offizielle deutsche Einwanderungspolitik.

Diese Diskussion der verschiedenen Modelle einer Einwanderungspolitik hat uns dazu gebracht, unter dem Begriff »kosmopolitisches Modell« ein neues Konzept vorzuschlagen.(8) Der »Kosmopolitismus« kann als politischer Humanismus verstanden werden. Natürlich ist der Begriff »kosmopolitisch« keine Zustandsbeschreibung, sondern vielmehr eine Zielvorstellung – eine Orientierung. Denn Europa ist sowieso multikulturell. Der Bezug zu Europa ist aber auch ein Bezug zu gemeinsamen Werten, wie sie Jeremy Rifkin in Der europäische Traum(9) herausarbeitet. Für ihn ist Europa das erste politische Gebilde, das die universellen Menschenrechte zur Grundlage hat. Ein zweiter gravierender Unterschied zu den USA liegt darin, dass Europa sowohl in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwurzelt ist. In den USA gaben die Einwanderer ihre Vergangenheit ab, um am amerikanischen Traum teilzuhaben. In Europa erfordert die Integration immer auch die Auseinandersetzung mit der Vielfalt – die Teil des historischen Erbes ist.

Vier Thesen für eine neue Einwanderungspolitik

Erstens: Wir brauchen keine Assimilations-, sondern eine Einwanderungspolitik.

Es geht bei einer Einwanderungspolitik, die fast ein Fünftel unserer Bevölkerung direkt und die anderen vier Fünftel indirekt betrifft, um die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft als Ganzes. Indem wir die Kultur der anderen akzeptieren, machen wir zugleich unsere eigene Kultur und Geschichte zu einem Teil der Kultur und Geschichte der Einwanderer. Denn es liegt kein Widerspruch darin, sich einerseits seiner eigenen Kultur bewusst und andererseits für den Austausch mit anderen Kulturen offen zu sein. Insofern ist die Forderung nach einer »kosmopolitischen Einwanderungspolitik« nichts weiter als die Forderung, unsere eigene deutsche Gesellschaft neu zu definieren – nämlich als integrierter Bestandteil eines neuen, kosmopolitischen Europas – unter Wahrung unserer regionalen Besonderheiten und Qualitäten.

In diesem Sinn hat eine aktive Einwanderungspolitik die Aufgabe zu bewältigen, für den mehr oder minder eigendynamischen gesellschaftlichen Prozess Rahmenbedingungen zu sichern und für Integration als Sozial- und Kulturprozess Rechts- und Planungssicherheit zu schaffen. Ausgleichs- und Vermittlungsfunktionen, wie zum Beispiel Antidiskriminierungsmaßnahmen, können dazu beitragen, dass ethnische und kulturelle Minderheiten in ihren Partizipationschancen möglichst gleichgestellt werden. Es geht um die richtige Mitte zwischen der Integrationsbereitschaft der Zuwanderungsbevölkerung, klarer politischer und rechtlicher Rahmensetzung und der Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft zum Erlernen des Umgangs mit kultureller Differenz sowie kultureller Vielfalt

Zweitens: Einwanderung ist eine Chance und nicht die Ursache sozialer Probleme.

EinwanderInnen sind von den Folgen der Arbeitslosigkeit und Armut besonders betroffen. Dies hat Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Psyche, auf die Motivation für Arbeit und Bildung – gerade bei Jugendlichen – und schlägt sich auch in einer erhöhten Kriminalität nieder. In der Mehrheitsgesellschaft wiederum führen wachsende Arbeitslosigkeit und Armut zu einer verstärkten Ausgrenzung von EinwandererInnen. Kulturelle Unterschiede werden dann Anlass für Aggressionen.

Tatsächlich zeigen strukturelle Arbeitslosigkeit oder Mängel des Bildungssystems ihre Auswirkungen nicht ausschließlich in Einwandererkreisen, sondern verschärfen sich bei denen, die einen Wettbewerbsnachteil haben, also auch bei den sozial schwachen Schichten in der Mehrheitsgesellschaft. All diese Erscheinungen sind nicht Folge der Einwanderung an sich.

Die meisten Probleme sind also nicht Einwanderer-spezifisch, sondern Milieu-spezifisch. Sie werden jedoch mit den Einwanderern verbunden und teilweise auch auf sie projiziert. Radikalisierung und die Suche nach einem erlösenden Glauben nehmen in dem Umfang zu, in dem Menschen die Bildungschancen und der Weg in den Arbeitsmarkt verbaut scheinen. Daran können auch noch so gute Integrationskurse wenig ändern. Erfolgreiche Einwanderungspolitik ist also in erster Linie erfolgreiche Bildungs- und Sozialpolitik. Wenn diese gelingt, dann ist Einwanderung eine Chance für unser Land – eine Chance der kulturellen und intellektuellen Bereicherung und der demografischen Stabilisierung.

Einwanderung und strukturelle Ausgrenzung von sozial schwachen Menschen sind beides Begleiterscheinungen des Globalisierungsprozesses. Es geht um die Frage, ob und wie es uns gelingt, diesen Prozess zu gestalten. Für ein Land wie Deutschland, dessen Wohlstand vom weltweiten Austausch abhängt, ist die Gestaltung des Prozesses der Globalisierung entscheidend für unsere gemeinsame Zukunft. Es kommt darauf an, wie wir unseren Sozialstaat so weiterentwickeln, dass alle Menschen Einkommen und Arbeitsplätze finden, wie wir das Bildungsniveau für alle heben, wie wir Wissenschaft und Technologie fördern. Es kommt auch darauf an, wie wir es schaffen, die kreativen Potenziale von Einwanderern, Minderheiten und kulturellen Milieus für unsere Gesellschaft nutzbar zu machen.

Es geht bei der konkreten Einwanderungspolitik deshalb sowohl um Chancengleichheit – wie auch um die Chancennutzung. Bildung und Ausbildung von MigrantInnen sind also keine Sozialleistungen, sondern eine Investition in die Zukunft auch für die Mehrheitsgesellschaft.

Drittens: Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder Mensch hat eine »Wahlfreiheit der Identitäten«.

Eine Identität lässt sich nicht wie ein Mantel bei der Einreise ins »Gastland«, in die neue Heimat, an der Grenze ablegen. Wer also Menschen ins Land lässt, muss damit rechnen, dass Menschen kommen – mit vielschichtigen und komplexen Identitäten.

Andererseits ist jeder Mensch ein Individuum und hat das Recht, sich selbst zu entscheiden, ob er Moslem, Christ oder Atheist ist, ob er politisch links, rechts, ökologisch, liberal oder strukturkonservativ ist, ob er lieber arabische Volksmusik, Modern Jazz oder Hip-Hop hört. Grenzen bilden allein die universalen Menschenrechte und das kantsche Prinzip, die Freiheit darf nicht auf Kosten anderer gehen. Jeder Mensch ist einzigartig, deshalb sollen wir jeden Menschen als ein Individuum betrachten und dies stärken, und nicht in festgeschriebenen kulturellen oder religiösen Kategorien stecken bleiben im Sinne eines »Kampfes der Kulturen«.

Dabei ist es unabdingbar, die kulturelle Vielfalt an demokratische Basiswerte zu binden. Es geht aber nicht um »unsere Werte« im Sinne einer »deutschen« Mehrheit, die andere Werte hat als möglicherweise ein türkischer Moslem oder ein russischer Deutschstämmiger. Die Grundrechte unserer Verfassung basieren nicht auf kulturellen deutschen Besonderheiten, sondern auf allgemeinen Menschenrechten. Es geht also um die Akzeptanz von gemeinsamen Werten der zukünftigen kosmopolitischen europäischen Gesellschaft, um allgemeine unveräußerliche Menschenrechte des Einzelnen, aber eben auch Toleranz gegenüber anderen und Akzeptanz von demokratischen Entscheidungsprozessen. Diese Werte dürfen nicht als Werte verstanden werden, die die Mehrheitsgesellschaft oktroyiert, sondern sie müssen im Selbstverständnis aller Bürger als die gemeinsamen Werte aller Bürger verstanden werden – eben auch derjenigen, die eine andere Herkunft und/oder Staatsangehörigkeit haben, die aber am Willensbildungsprozess stets neu teilhaben sollen.

Viertens: Das »kosmopolitische Europa« bildet das Leitbild der Einwanderungspolitik.

Einwanderung und Auswanderung von nah und fern sind ein integraler Bestandteil der europäischen Geschichte. In Zeiten der Globalisierung und der fortschreitenden europäischen Integration ist eine weltoffene und integrative Einwanderungspolitik ein wichtiger Standortvorteil. Deutschland ist Teil des kosmopolitischen Europas. Daraus folgt, dass wir unsere Einwanderungspolitik an dem Grundgedanken eines kosmopolitischen Europas orientieren – einem Europa mit dem Motto »Einheit in Vielfalt«. In ihrer Lebensweise bleibt den einzelnen ethnischen Gruppen und ihren Mitgliedern ein großer Spielraum individueller Lebensgestaltung.

Der europäische Bezug ist in dreifacher Hinsicht wichtig. Einmal ist jede Einwanderungspolitik in Zukunft nur als europäische Einwanderungspolitik denkbar. Zweitens eröffnet Europa einen völlig anderen Blick und eine andere Akzeptanz der multikulturellen Gesellschaft. Und drittens ist Einwanderungspolitik implizit immer auch Innenpolitik, Bildungspolitik, Arbeits- und Sozialpolitik – und damit ohne das Mitdenken des europäischen Rahmens nicht realisierbar. Inzwischen kommt es immer mehr vor, dass junge Menschen eine Identität als »Europäer« entdecken. Ausgehend von einem festen Bestand nicht verhandelbarer (aber wohl demokratisch vereinbarter) Werte und Spielregeln ist das kosmopolitische Europa ein guter Rahmen für ein sich entwickelndes gemeinsames Wertebewusstsein.

Konsequenzen für eine neue Einwanderungspolitik

Dialog und Akzeptanz

Die erstaunlich positive Reaktion in Einwandererkreisen auf den Integrationsgipfel hatte mit Sicherheit nichts mit den mageren Ergebnissen zu tun. Viele Einwanderer hatten den Eindruck, es werde endlich mit ihnen statt über sie geredet.

Dialog erfordert immer auch die Akzeptanz des anderen. Deshalb ist die Akzeptanz der Einwanderer als Teil unserer Gesellschaft und die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, mit ihnen gemeinsam die Zukunft zu gestalten, eine entscheidende Vorraussetzung dafür, dass »Integration« im ursprünglichen Wortsinn gelingen kann. Akzeptanz hat viele Facetten: Zum Beispiel die Anerkennung der Schulabschlüsse, der Berufsausbildungsabschlüsse und der Studienabschlüsse aus den Herkunftsstaaten. Bis heute ist es fast aussichtslos, mit einem ausländischen Hochschulabschluss in Deutschland Lehrer zu werden, selbst wenn er nicht in Afrika, sondern in Europa absolviert wurde. Es fällt immer wieder auf, wie viele eingewanderte AkademikerInnen mangels Anerkennung ihrer Qualifikation als Taxifahrer oder als Haushaltshilfe arbeiten (müssen).

Migranten als Akteure einer Einwanderungspolitik

Wenn es stimmt, dass Einwanderungspolitik zu einem erheblichen Teil Sozialpolitik ist, dann stellt sich die Frage nach den Konsequenzen. Ein nahe liegender Gedanke ist die Beteiligung von Migrantenorganisationen, beginnend bei laizistischen Organisationen wie der türkischen Gemeinde bis hin zu den Moscheen, an der Umsetzung der Politik.

Die Ministerien arbeiten am liebsten mit den ihnen vertrauten Organisationen, Wohlfahrtsverbänden und Kirchen zusammen. Die kennen sie. Die haben die geeigneten Rechtsformen. Die haben Erfahrungen und gewährleisten, dass die nötigen Unterlagen geliefert und die nötige Qualität der Abrechnungsverfahren gesichert ist. Das alles trifft auf Einwanderervereine, Moscheen, Ausländersportvereine und sonstige Zusammenschlüsse in der Regel nicht zu. Häufig fehlen geeignete Dachverbände für die lokalen Gruppen oder diese haben nicht die Verbindlichkeit, die Mitgliederstruktur und Rechtsform, die für die Trägerschaft eines staatlichen Programms erforderlich ist.

Natürlich sind aber auch die bisherigen Programmträger der christlichen Kirchen und der Sozialverbände und so weiter nicht begeistert, wenn neue Akteure auf dem knappen Markt auftreten. Wenn überhaupt, dann werden mit Migrantenorganisationen Modellprojekte vereinbart, die nach ein paar Jahren auslaufen oder von den etablierten Organisationen übernommen werden. Hieran etwas zu ändern, erfordert von der Politik klare Zielsetzungen und die Kontrolle der Umsetzung durch die Bürokratie.

Diversity Management – Chancen der Vielfalt

Chancen der Einwanderung – geht es da nur um den Informatikstudenten aus Indien für die Computerindustrie? Was hat das mit den real bei uns eingewanderten Mitbürgern aus Kasachstan und Anatolien zu tun?

In einer deutschsprachigen Werbebroschüre des DaimlerChrysler-Konzerns werden die umfangreichen Maßnahmen des Konzerns in den USA zur Förderung von Minderheiten geschildert. Diversity Management heißt diese Politik in den USA. Selbst bei der Auswahl von Zulieferern werden Firmen, die Angehörigen einer Minderheit gehören und von diesen geleitet werden, positiv bevorteilt. Als Minderheiten gelten African Americans, Hispanic Americans, Native Americans, Asian Pacific Americans, Asian Indian Americans. In Deutschland sind wir von einer ähnlichen Minderheiten-Politik noch weit entfernt. Antidiskriminierungsgesetze gelten immer noch als Wirtschaftshindernis.(10) Immerhin hat sich im Dezember 2006 eine Initiative »Diversity als Chance« gebildet. Deren »Charta der Vielfalt« haben mittlerweile 100 Firmen unterschrieben.(11) Die Unterzeichner wollen das Konzept des Diversity Managements aufgreifen und verpflichten sich, Toleranz, Pluralismus und Vielfalt am Arbeitsplatz zu fördern – von der Einstellung von MitarbeiterInnen über die Ausbildung bis hin zu den Karrierechancen. Die Firmen betonen, dass in einer globalen Wirtschaft und in einer von Migration geprägten Gesellschaft Vielfalt eine Stärke ist, die erhebliche Vorteile bringen kann: Beim Kontakt mit ausländischen Geschäftspartnern, beim Ansprechen von Kunden unterschiedlicher Herkunft und auch, wenn die Firma auf dem Arbeitsmarkt die besten Talente gewinnen will. Und das gilt auch für staatliche Einrichtungen wie Polizei, Sozialdienste, Arbeitsagenturen, Krankenhäuser, für die interkulturelle Kompetenz der MitarbeiterInnen ein wichtiges Qualitätsmerkmal sein kann. Wie wäre es denn damit, mit Quoten im öffentlichen Dienst zu beginnen?(12)

Schule als Knotenpunkt

Egal welches Einwanderungsmodell wir präferieren, die allgemeine Schule wird immer im Zentrum der Überlegungen stehen. Dabei geht es um viel mehr als das Lernen der deutschen Sprache und den Religionsunterricht. Natürlich ist die Sprache wichtig. Der Grad der Beherrschung der deutschen Sprache ist für einen Jugendlichen, der in einem deutschen Handwerksbetrieb arbeiten will, ein hartes Kriterium für seine Zukunftschancen.(13)

Wenn ich aber zum Ziel habe, die Fähigkeit des Einzelnen zu stärken, seine Identität zu finden, kommt der Förderung der Herkunftssprache und Kultur eine ebenso große Bedeutung zu.(14) Die faktische Missachtung insbesondere der türkischen und russischen Sprache in unserem Schulsystem ist eine Missachtung der Identität der beiden größten Einwanderergruppen. Gerade diese beiden Gruppen rekrutieren sich – anders als andere Herkunftsgruppen – überwiegend aus bildungsfernen Schichten und sind von der massiven sozialen Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems besonders betroffen.

Es geht aber um noch mehr: Wenn wir den Gedanken von Sen ernst nehmen, dass es darauf ankommt, die Identität des Individuums zu stärken, um den Schülern die Wahlfreiheit für sein Leben zu ermöglichen, dann hat das Auswirkungen auf den gesamten Wissenskanon. Wissen ist eben nicht nur das Erwerben von Qualifikationen, die später für den Beruf wichtig sind. Wissen schafft die freien und unabhängigen Individuen, die eine freie Gesellschaft braucht, und ist die stärkste Waffe gegen Fundamentalismus, Autoritätshörigkeit und Sektierertum.

Hieraus lassen sich auch wichtige Konsequenzen für den Religionsunterricht ableiten. Dazu gehört die konsequente Ablehnung von einseitig weltanschaulich oder religiös orientierten Schulen und Kindergärten, da diese gerade nicht die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Anschauungen ermöglichen. Deswegen ist der gemeinsame Unterricht von Kindern unterschiedlicher Milieus und Kulturen wichtig. Dazu gehört dann auch der Religionsunterricht der von den Eltern oder SchülerInnen gewünschten Richtung durch staatlich geprüfte LehrerInnen – der möglichst von einem religionsneutralen Philosophie- und Ethikunterricht flankiert werden sollte.

Der europäische kosmopolitische Bürger

Die Idee des kosmopolitischen Modells, Europa als Bezugspunkt für ein neues gesellschaftliches Leitbild zu wählen, hat weitreichende praktische Konsequenzen. Wir erwarten von Einwanderern, dass sie Fragebögen über das politische System in Deutschland beantworten, aber es fällt uns gar nicht auf, dass wir kaum einen Bezug zur Geschichte unserer Demokratie haben: Wer feiert öffentlich die Ereignisse der demokratischen Bewegungen von 1848, 1918 oder auch nur die Verabschiedung des Grundgesetzes.

Natürlich wird der nationale Duktus, mit dem Frankreich, die USA oder gar die Türkei ihre Revolutionen feiern, zu Recht von uns kritisch beäugt. Aber wer das ändern will, der muss Alternativen formulieren. Rifkin formuliert das so: »Die schwierigere Aufgabe ist, die Europäer dazu zu bringen, sich so leidenschaftlich für ihre Menschenrechte einzusetzen, wie frühere Generationen für ihre bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte gekämpft haben.«(15)

Wer die Einwanderer zu einem Teil eines neuen Europas machen will, wer die Enge der europäischen Nationalstaaten überwinden will, nicht durch das Ablegen von Historie und Nationalität, sondern durch Ergänzung durch eine neue europäische Identität, der muss die Konsequenzen ziehen. Wir müssen uns unsere europäische Identität erarbeiten, gemeinsam mit »unseren« EinwandererInnen. Das geht von den Schulbüchern über die Einwanderungspolitik bis zu unseren Feiertagen und Ritualen.

»Europa ist eine Kopfkrise!«, formuliert Ulrich Beck diese Herausforderung. Das Problem der Einwanderung muss in den europäischen Köpfen gelöst werden. »Wir müssen aus dem Denkkäfig nationalstaatlicher Kategorien ausbrechen!«(16) Etwa jeder sechste Einwohner hat in Deutschland einen Migrationshintergrund und jede fünfte Familie ist binational. Kosmopolitismus bedeutet die gegenseitige Anerkennung und das Verstehen der anderen über Grenzen hinweg. Nur so könne gegenseitiger Hass verhindert werden. Wir müssen die »zusammengesetzten« europäischen Identitäten akzeptieren: »Wir sollten aufhören, alles in Europa als ein Entweder-oder zu diskutieren.«(17)

* Dieser Artikel basiert auf dem Thesenpapier von Carolin Baur: »Thesen für eine neue Einwanderungspolitik – ein kosmopolitisches Einwanderungsmodell«, Kiel, Juni 2007. Das Papier entstand im Auftrag der grünen Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein auf Basis von Diskussionen im Arbeitskreis Recht & Demokratie.

1

Hilal Sezgin: »›Integration‹ als Waffe«, in: taz, 27.6.07.

2

Lateinisch: integrare – wiederherstellen (im Sinne von Teile zu einem Ganzen zusammenfügen), integratio – Erneuerung.

3

Siehe Wikipedia (deutsch): Artikel »Integration (Soziologie)«, 6.8.07.

4

Otto Speck: System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung, München 1991 (2. Auflage).

5

Der Melting-Pot ist sehr verwandt mit dem Assimilationsgedanken – nur dass die Assimilation nicht als einseitige Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, sondern als eine gegenseitige Anpassung in einer Gesellschaft mit multi-ethnischer Herkunft gedacht wird.

6

Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt (München: C. H. Beck 2006). Amartya Sen ist Professor für Wirtschaftswissenschaft in den USA, Nobelpreisträger von 1998. Sein aktuelles Buch hat er als eine Antwort auf Huntingtons Buch Clash of Civilization geschrieben.

7

Necla Kelek: »Muslime, lernt die Freiheit des Einzelnen lieben!«, taz, 30.4.07. Necla Kelek ist promovierte deutsche Sozialwissenschaftlerin, Frauenrechtlerin und auch als Islamkritikerin bekannt.

8

Bei der Begründung unseres Vorschlags wurden wir insbesondere von Gedanken der folgenden drei Autoren inspiriert: von der Idee der »Wahlfreiheit der Identitäten« von Amartya Sen (siehe oben), von dem Modell des Kosmopolitischen Europas von Ulrich Beck (siehe unten) sowie von Jeremy Rifkins Europäischem Traum (siehe unten). In Anknüpfung an die Idee des kosmopolitischen Europas haben wir für das Konzept den Begriff »Kosmopolitisches Einwanderungsmodell« gewählt. Die Überschrift dieses Artikels – »Einheit in Vielfalt« – stammt von Jeremy Rifkin, findet sich aber auch als Säule in dem kanadischen Modell der Multikulturalität (Unity in Diversity).

9

Jeremy Rifkin: Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt am Main: Campus 2004.

10

Auch in den USA wurden die Antidiskriminierungsgesetze erst möglich, nachdem in vielen Städten immer wieder bürgerkriegsähnliche Unruhen ausgebrochen waren. Aber wollen wir darauf warten?

11

Initiatoren waren Deutsche BP, Deutsche Bank, Deutsche Telekom und DaimlerChrysler.

12

Die GAL hat in Hamburg eine 20 %-Migranten-Quote für die Einstellung von LehrerInnen und ErzieherInnen gefordert.

13

Aber für einen theoretischen Physiker, der als Professor an eine deutsche Hochschule berufen wurde, ist das Erlernen der deutschen Sprache dagegen eher eine Frage des persönlichen Interesses. Sowieso ist auch Sprache ein soziales Phänomen. Denn Probleme mit der (deutschen) Sprache haben vor allem Kinder der Unterschicht – und zwar solche aus deutschsprachigen Elternhäusern genauso wie aus Migrantenfamilien.

14

In Finnland sollen alle Einwanderer-Kinder Unterricht in ihrer Erstsprache haben (die Mindestgruppengröße ist fünf Kinder).

15

Siehe FN, S. 299.

16

Ulrich Beck/Edgar Grande: Kosmopolitisches Europa, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

17

Daniel Cohn-Bendit, deutsch-französischer EU-Abgeordneter für die europäischen Grünen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2007