Xaver Brenner

 

Die Utopie der Gerechtigkeit

 

Thesen zur Finanzkrise

Während so mancher in der gegenwärtigen Krise apokalyptische Zeichen zu erkennen glaubt, sieht unser Autor die Grundlagen der Gerechtigkeit des gegenwärtigen Gesellschaftsvertrags in Frage gestellt. Doch sollten sich die Bürger nicht einfach als lamentierende Opfer dubioser Mächte verstehen, sondern als politische Subjekte, die über die Gerechtigkeit streiten, die sie brauchen. Denn die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer trifft das Problem dieser »Enteignungen« nicht. Im Rückgriff auf den philosophischen Diskurs im alten Griechenland skizziert unser Autor eine Annäherung an die »Utopie der Gerechtigkeit« als elementaren Bestandteil gesellschaftlicher Reform.

 

Immer wenn Gesellschaften aus dem Gleichgewicht geraten wie jetzt in der Finanzkrise, entsteht erneut die Debatte um die Gerechtigkeit.(1) Die Tatsache, dass wir in der besten und gerechtesten Gesellschaft leben, die es jemals auf deutschem Boden gab, verliert an Bedeutung. Einerseits, weil wir seit Jahren eine Verschiebung im Verhältnis von Arm zugunsten von Reich erleben. Zum anderen, weil es nach wie vor Arbeitslosigkeit und Armut gibt und weil wir ein desorganisiertes und rückständiges Schulsystem haben. Und nun stürzt die globale Finanzkrise, an der auch wir Anteil haben, die Welt in eine Weltwirtschaftskrise. Wir können gerade den Zusammenbruch der Wall Street in ihrer bisherigen Form erleben. Diese Geldmaschine einer weltweit agierenden Upper Class hat mit ihrem unglaublichen Bereicherungswillen das Weltfinanzsystem an den Abgrund gestellt. Damit ist wohl auch der Neoliberalismus in seiner bisherigen Form am Ende.

So groß wie die Krise ist die Verunsicherung der Menschen. Nach Jahren der politischen Enthaltsamkeit bringt die ökonomische Lage die Bürger zum Nachdenken. Sie fühlen sich nicht nur verunsichert. Vor allem fühlen sie sich ungerecht behandelt. Was haben sie mit den Hedge-Fonds zu tun? Warum hat ihre Landesbank riskante Börsengeschäfte mit Papieren (Derivaten) getätigt, die sie selbst nicht durchschaute? Über Nacht wurden den Bundesbürgern Schulden und Bürgschaften in der Höhe von 500 Milliarden Euro aufgebürdet. Niemand hat je einen Schuldschein unterschrieben, keiner einen derartigen Auftrag erteilt.

 

Ungerechtigkeit, Unrichtigkeit, Spekulation

Irgendetwas ist gewaltig schief gelaufen. Die Bürger fragen, was habe ich mit den Hedge-Fonds auf den Bahamas zu tun, falls sie nicht in einen Risikofond investiert haben. Und langsam fällt ihnen auch auf, dass es bei den Bonuszahlungen für Spitzenmanager nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Aber von der Umstellung des Leistungs- auf das Erfolgsprinzip hat man doch eigentlich gewusst. Jetzt in der Krise erscheinen die Bonuszahlungen der Managerkaste plötzlich als unverschämt überzogen. Hat man nicht zu lange vertraut? Auf alle Fälle ist man jetzt maßlos enttäuscht. Und richtig kann das doch auch nicht gewesen sein, dass sich die USA, das Herzland des Kapitalismus, gerade beim ehemals kommunistischen Erzfeind China so sehr verschuldet haben.

Neben das Gefühl der Ungerechtigkeit tritt also das der Unrichtigkeit. Offenbar ist etwas mit den Strukturen nicht mehr ganz in Ordnung. Mit ihrem eher gefühlten Krisenbewusstsein fragen die Bürger, ob denn das System der Marktwirtschaft noch stimmt, wenn es sich doch selbst so schlecht regeln kann. Doch war es nicht seit Jahren bekannt, wie skrupellos die Investmentbanker sich bereicherten? Warum hat man dann nicht eingegriffen? Jetzt wacht der Bürger auf und staunt nicht schlecht über die Leute, die er jahrelang bewundert hat. Es sind dieselben Leute, die seit Jahren durch die Massenmedien der Jugend als neue Vorbilder präsentiert werden. Der Traum vom leichten Leben und vom schnellen Geld, wurde er nicht seit Jahren zur allein selig machenden Wertmaxime erhoben? Wertvoll ist der, der im großen Stil Geldwert besitzt, egal, wie er dazu kommt. Genau diese Maxime hatten viele der heutigen »Opfer« damals selbst für vorbildlich gehalten!

Die Bürger beschleicht eine Ahnung von der Unrichtigkeit der gesellschaftlichen Prozesse. Plötzlich wird gefragt, ob denn das maßlose Spekulieren auf zukünftige Gewinne richtig gewesen sei. Tatsächlich wurde es in den Wertedebatten der letzten Jahre versäumt, gerade diese maßlose Entwicklung konsequent zu kritisieren. So ist es im Meinungsstreit den Befürwortern der freien Spekulation sehr gut gelungen, jede Kritik am Lebensstil des Casinokapitalismus mit der Formel »Neid« zu ersticken. Als Müntefering von den Hedge- und Private-Equity-Fonds als »Heuschrecken« sprach, da fühlten sich die Finanzjongleure in die falsche Ecke gedrängt. Und die Politik, wie agierte sie? Statt das finanzielle Gebaren dieser Gruppen zu untersuchen und durch Gesetze zu regeln, durften sie weiterhin die Axt an die Wurzeln des Wohlstands der Völker legen. Es sei ihr Recht, Geschäfte zu machen, wie das der vielen spekulierenden Kleinanleger auch. Was dem Kleinen recht ist, das ist dem Großen billig. Gerechtigkeit für den freien Markt! Mit dieser Parole waren viele zu kaufen und nur wenige widersprachen, weil sie selbst so dachten.

 

Vertrauen und Misstrauen

Börsenvereine, die gab es doch bis in die letzten Winkel der Republik. Spekuliert hat auch der so genannte kleine Mann. Weil davon heute niemand mehr etwas wissen will, liegt hier schon der Grundstein zum nächsten Wolkenkuckucksheim. Angesichts dieser Krise wäre es doch höchste Zeit, eine Debatte um das Selbstverständnis dieser Gesellschaft zu führen. Die Bundeskanzlerin hätte im Bundestag eine Regierungserklärung zur tatsächlichen Krisenlage abgeben und eine Kursänderung verlangen müssen. Von uns allen! Statt die Probleme beim Namen zu nennen, hat es Angela Merkel vorgezogen, vom »fehlenden Vertrauen« zu reden. Ja, es fehlt am Vertrauen – in die Politik, in die Institution, in die Kontrolle. Darüber aber spricht sie nicht. Angestrengt vermied sie das Wort Misstrauen. Doch heute herrscht Misstrauen nicht nur zwischen den Banken. In Wahrheit grassiert es in der gesamten Gesellschaft. Die Bundesbürger misstrauen der Politik und schauen pessimistisch in die Zukunft. Diese Stimmung setzt sich fort in den vielen ratlosen Talkrunden. Dort ist plötzlich »von Gier und nichts als Gier der Banker« die Rede (»hart aber fair«). Und Der Spiegel titelt über die »Psychologie der Finanzkrise«,(2) als handle es sich nur um ein natürliches Problem, tief in unserer Seele. Weil das noch nicht reicht, taucht die Formel vom Scheitern des Systems als letzter Versuch auf zu erklären, was eigentlich niemand verstehen will, weil dann klar würde, dass wir nicht nur Opfer, sondern auch Täter sind. Aus dem System unserer Lebenswelt lässt sich nicht aussteigen, aber es lässt sich ändern. Wer immer nur vom System spricht, als wäre es etwas Fremdes, der will nicht über den Gesellschaftsvertrag sprechen, der aus dem Gleichgewicht geraten ist. In diesem Gesellschaftsvertrag ist er das souveräne Mitglied. Aber der Bürger müsste als Souverän auch seine Mitverantwortung übernehmen und den Willen zur Änderung entwickeln. Ist er oder ist er nicht der Eigentümer seiner Welt?(3) Die Debatte um den neuen Gesellschaftsvertrag steht an, indem man nicht über die Ungerechtigkeit lamentiert, sondern indem man sich über Gerechtigkeit streitet.

 

»Spekulation auf Gerechtigkeit«

Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit und der Sozialverpflichtung im Handeln der Bürger und ihrer politisch Verantwortlichen – das ist der Skandal hinter der Krise. Eine verschnarchte Gesellschaft ist aus ihrem Börsenrausch erwacht. Jetzt irrt sie orientierungslos herum und beginnt wieder, wie vormals in der griechischen Moderne, die Debatte um Gerechtigkeit. Heribert Prantl hat sie unter dem Titel »Spekulation auf Gerechtigkeit«(4) begonnen. Vom Papst bis Attac und Heiner Geißler bringt er alle ins Spiel, die der »Weltwirtschaft neue Regeln« geben wollen. Von der »Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen« ist die Rede, wie von »Bankenaufsicht, Weltkartellamt, Abkoppelung der Honorierung der Großmanager von den Gewinnen, das Spekulationsgeschäft trocken legen.« In diesem Katalog fehlt nur das Korruptionsproblem. Über allem schwebt die Frage: Kann es eine gerechte Gesellschaft geben, wo doch fast alle nach dem besten Leben streben?

»Der Feind des Guten ist das Bessere!« Stimmt diese alte Redewendung, sind wir restlos verloren. Dann stolpern wir in unserem Streben nach Glück und bestem Nutzen unweigerlich von Katastrophe zu Katastrophe. Der »Zusammenbruch des Finanzkapitalismus« in der jetzigen Form wäre dann nur der Anfang einer Reihe weiterer Wirtschaftskrisen, die alle Kinder unseres Erfolges sind.(5) Denn unbestreitbar ist der Reichtum der Nationen (Adam Smith) durch den Kapitalismus entstanden. Doch er hat zu Ungerechtigkeit in der Verteilung geführt. Der Erfolg, angesammelt im gewaltigsten Geldturm, den es jemals gab, ist heute zur größten Gefahr und zur Bedrohung eben dieses Erfolges geworden. Stürzt er ein, könnte er uns begraben.

Fragen wir also, ob die Gerechtigkeit, wie wir sie verstehen, das Mittel zur Behebung unserer Krise ist?

 

Philosophische Thesen zu »Gerechtigkeit«

Es gibt keine natürliche Gerechtigkeit. Die Natur ist nicht gerecht. Den einen bringt sie groß, kräftig und gesund zur Welt. Dem anderen gibt sie von Anfang an Schwächen und Mängel mit auf seinen Weg. Ja, uns alle hat die Natur als Mängelwesen geboren. So sind wir gezwungen, uns eine Kunstwelt zu bauen.

Die Kunstwelt braucht Regeln. Sie wachsen nicht auf Bäumen. Wir befinden uns in der Wüste der Welt. Von keinem paradiesischen Baum können wir Erkenntnisse und Gesetze pflücken. Wir müssen Gesetze erfinden, durch die wir uns am Leben erhalten, das nur ein Leben in menschlicher Gemeinschaft sein kann. Gemeinschaft ist künstlich und nicht natürlich.

Der Traum von der ewigen Gerechtigkeit ist ein himmlischer Traum und ein Widerspruch in sich. Im Himmel – dieser Fiktion – gibt es per Definition keine Differenz, also auch keine Ungerechtigkeit. Gibt es keine Ungerechtigkeit, ist der Streit um Gerechtigkeit so überflüssig wie ein Kropf. Platon, der als Erster die jenseitige Gerechtigkeit als Trost für diesseitige Ungerechtigkeit versprach, hatte ein Vergeltungssystem im Kopf.(6) Wer lässt sich aber trösten, wenn er nur glaubt, aber nicht weiß, ob es diesen Ausgleich gibt? Für die Welt ist der Himmel der allezeit Gleichen kein geeignetes Modell.

Die absolute himmlische Gleichheitsidee, aus der sich das Naturrecht aufbaut, geistert noch immer durch unsere Köpfe. »Gleiches Recht für alle!« Diese Forderung aus dem Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie hat Marx 1875 als Phrase kritisiert, denn »gleiches Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit … und ungleiche Individuen.« Der Grund ist einfach. »Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehen; aber die ungleichen Individuen sind nur an gleichem Maßstab messbar …« Marx schließt: »Um alle diese Missstände (der Gesellschaft) zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich vielmehr ungleich sein.«(7) Das ist eine richtige, aber auch gefährliche Schlussfolgerung. Richtig, weil wir mächtige und ungleiche Individuen, Gruppen und Organisationen haben, wie die Finanzinvestoren. Sie nutzen ihr gleiches Recht auf Spekulation mit anderen Mitteln und drängen die Schwächeren an den Rand oder ganz aus der Gesellschaft. Also muss das Recht – um gerecht zu sein – ungleich behandeln und Gesetze erlassen (Kartellgesetze). So wird die Vereinigungsfreiheit für die einen eingeschränkt, die im anderen Fall (z. B. für die Gewerkschaften) erlaubt ist.

Die Ungleichheit des Rechts ist die gefährlichste Forderung in einer freien und offenen Gesellschaft. Und doch tobt um sie der Streit. Marx hat aus ihr das Recht auf die Umkehrung des gesellschaftlichen Aufbaus geschlossen. Die Schwächsten sollten das größte Recht bekommen, wodurch in der Diktatur des Proletariats das größte Unrecht entstand. Um diesen Fehler zu vermeiden, muss das Hauptproblem des Gerechtigkeitsbegriffs verstanden werden. Die Vorrangigkeit des Eigentumsrechts (über Dinge und Patente) vor dem Recht auf Lebenschancen (Recht auf soziale Beteiligung und Teilhabe).

Im positiven römischen Recht hat das Eigentum Vorrang, nicht weil dadurch »die Befriedigung der Bedürfnisse« gegeben ist, sondern weil die Person als Eigentümer in eine Sphäre des Besitzes von Objekten eintritt. Der Mensch ist nicht nur Person. Er hat Besitz und ist durch seine Teilhabe Mitglied einer Gemeinschaft freier Eigentümer.(8) Die griechische Polis war der erste Rechtsraum freier und mitbestimmender Eigentümer. Die »schlechte Realität« dieser Eigentümergesellschaft entstand durch die Gleichsetzung von quantitativem Wohlstand mit qualitativem Wert. »Hast du was, so giltst du was!« Sokrates hat diesen Grundfehler der ersten Moderne mit den Worten kritisiert: »... sich nicht zuallererst um euer leibliches Wohl zu kümmern, als um einen möglichst guten Zustand der Seele …, dass nicht der Reichtum sittlichen Wert (areté) hervorbringt, sondern der sittliche Wert Reichtum«.(9)

Gerechtigkeit entsteht als Teil der geistigen Ebene. Und der materielle Reichtum einer Gesellschaft entsteht durch Geist, Willen und Vorstellungskraft. Also bringen die Menschen ihren Reichtum mit Hilfe einer Kunstwelt geistiger Strukturen hervor. In ihr sind die Stärksten nicht mehr diejenigen mit Muskelkraft, sondern diejenigen mit List und Tücke. Sprechen wir heute von der Wissensgesellschaft, so geht diese Erkenntnis auf die griechischen Sophisten zurück. Sie erkannten den gesellschaftlichen Nutzen des Wissens und machten ihn durch Beratung nutzbar. So war für Thrasýmachos »das Gerechte nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche«.(10) Der geistig Starke nutzt die geistige Ebene und beeinflusst die Regierung. Dazu hat er das Recht, weil Wissen durch seinen Willensakt entstand. Und der gehört ihm ganz allein. Für die Sophisten folgte daraus das absolute Aneignungsrecht auf die Ergebnisse jeder List und jeder Tücke.

Durch die Fixierung auf das Aneignungsrecht entsteht nur »eine schlechte Realität« (Hegel). Die meisten Sophisten blieben der Dingwelt verhaftet. In ihrem Vorteilsstreben waren die geistige Ebene und ihre Erkenntnisse nur dazu da, sich dingliche Vorteile zu verschaffen. Folglich erklärten diese ersten Berater den Griechen, wie sie die Kunstwelt nutzen könnten, um besser zu werden. Tatsächlich mündete das Besserwerden aber nur ins Reicherwerden. Das aber war für Sokrates Missbrauch von Gerechtigkeit. Er zeigte den Athenern, wie jeder von ihnen die geistige Ebene dazu nutzen könnte, »für sich selbst die gute Regierung zu sein«.(11) Gerechtigkeit (dikaiosýne) besteht für Sokrates im Schöpfungsrecht, aber auch der Pflicht zur Schöpfung der politischen Welt. Das Gerechte entsteht in der gemeinsamen geistigen Ebene der Polis nur durch die Erzeugung der guten Regierung im Einzelnen. Sozusagen im Nebengang wird damit gleichzeitig die gute Regierung für alle geschaffen. Weil jeder gerecht behandelt werden will, kann der angestrebte Nutzen nur ein gemeinsamer sein. So entsteht durch das Bedürfnis der Einzelnen die geistige Ebene des gemeinsamen Nutzens. Er wird in der guten inneren Regierung des Einzelnen und in der guten Regierung der Gemeinschaft erreicht. Daraus entsteht ein Recht auf Lebenschancen, weil es jedem die Möglichkeit einräumt, eine geistige Wirklichkeit zu betreten und dort Eigentümer der Vernunft zu werden.

Gerechtigkeit ist ein gemeinsames, künstlich erzeugtes Verhältnis. Sie muss gegen den Widerstand der Gier nach Anerkennung auf der Dingebene durch jeden Menschen in einer inneren Auseinandersetzung erzeugt werden. Dass die Gesellschaft Regeln und Verfahren für alle aufstellen muss, die fair sind (Rawls),(12) ersetzt das persönliche Ringen um die beste innere Selbstregierung nicht. Wir haben heute diese Finanzprobleme, weil zu viele zu oft auf der primitivsten Form des Rechts, auf dem Übervorteilungsrecht bestehen.

Gerechtigkeit geht aus der Beziehung der Dinge (prágmata) und der Geltung (chrémata) hervor, die wir ihnen geben. »Der Mensch ist das Maß (métron) aller Geltungen (chrémata)«, hat deshalb Protagoras gesagt. Derjenigen Geltungen, »die wir schon erfunden haben, und derjenigen Geltungen, die wir noch erfinden werden.«(13) Indem wir den Dingen eine Geltung geben, begreifen wir sie als Vermögen, mit dem wir auf geschickte Art und Weise Geschäfte (chrematismós) betreiben. Dadurch entstehen die Bewertung der einfachsten Sozialbeziehungen und die Schaffung einer sozialen Ebene. Dingen ihre zweite Form im Wert und Geldwert zu geben, wurde als die »Kunst, Vermögen zu erwerben« verstanden.

Geld ist ein Transformationsmittel. Es funktioniert nur, wenn es die soziale Ebene gibt, in der getauscht und vertraut werden kann, dass im Zurückgetauschten unsichtbar der gleiche Wert enthalten ist. Die soziale Ebene muss für alle gelten. Ursprünglich war sie aus Schenken und Wiederschenken (Marcel Mauss) hervorgegangen.(14) Mit wertvollen Geschenken wurde Vertrauen geschenkt, Vertrauen gegeben und Vertrauen vergolten. Die volkswirtschaftlichen Funktionen des Geldes als Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel bauen alle auf Vertrauen als gesetzlich garantiertes Zahlungsmittel. »Geld beruht auf der allgemeinen Anerkennung des im Geld verkörperten Wertversprechens.«(15) Damit ist Geld ein Element der künstlichen geistigen Welt.

Geld ist ein an Vertrauen gebundenes Transformationsmittel. Es transformiert Dinge aus der rein stofflichen Ebene in die geistige Ebene der Anerkennung von wechselseitiger Verpflichtung (Wechsel) und dem Versprechen der Rückgabe (Einlösung). Im Geld zeigt sich das ökonomische Transformationsmittel des geistig-sozialen Austauschs. Damit sind wir alle Miteigentümer an einer geistigen Welt, die ihrem Wesen nach aus künstlichen Denkoperationen besteht: der Wissensgesellschaft. Nichts zeigt dies deutlicher als die Entdinglichung des Geldes zum reinen Tauschmittel als Papier- und Computergeld. Und doch existiert auch ein Gebrauchswert, das Vertrauen, das aber auf seiner Schattenseite das Misstrauen hat. Mit dieser Münze wird die List der Übervorteilung organisiert. Jeder Börsenhai erklärt seinen Kunden, wie ehrlich er es doch meint. Er verspricht eine Rendite, die nur entsteht, weil mit seiner Hilfe eher aus dem Markt gesprungen werden kann, als das der Nachbar tut. All die Börseninstrumente, die heute die Krise erzeugt haben, sind Instrumente zur Übervorteilung der Übervorteiler. Es ist ein großes ungerechtes Spiel, weil dabei die Spielebene, die Gesellschaft zerstört wird.

Die Gesellschaft des Wissens ist keine Veranstaltung, in der eine unsichtbare Hand qua Vernunft am Ende schon alles richtet. Tagtäglich überschreiten wir in unzähligen geistigen Aktionen die Grenzen zum anderen. Tagtäglich erzeugen wir eine Kunstwelt, ohne uns der Verantwortung für sie bewusst zu sein. Den Börsenhaien wirft man ihre Attitüde als »Master of the Universe« vor. Tatsächlich sind auch wir Mitschöpfer unserer geistigen Welt, allerdings allzu oft ohne Bewusstsein unserer Verantwortung. Wir brauchen oder missbrauchen den anderen auch, wie er uns braucht, aber nicht missbrauchen darf. Ein Widerspruch!?

Wenn Gerechtigkeit aus dem Wissen um Vertrauen und den geistigen Operationen des sozialen Austausches besteht, dann sind wir alle Eigentümer eines Kunstwerkes, das Gesellschaft heißt. Immer dann, wenn Gerechtigkeit durch Übervorteilung zerstört wird, findet folglich Enteignung statt. Doch wir begreifen Enteignung immer nur auf der Dingebene. 500 Milliarden Euro für die Großbankensanierung sind Enteignung durch Umverteilung von Steuergeldern der Allgemeinheit zugunsten der Reichen.(16) Dass die eigentliche Enteignung vorher auf der Entmachtung des Souveräns aufbaut, weil ihm das geistige Gut der Selbstbestimmung genommen wurde, das übersehen wir dabei. Ungerechtigkeit ist das Ergebnis der Enteignung geistiger Güter. Nicht nur von Patenten, Erfindungen und Texten. Die Wissensgesellschaft mit ihren heute weit verzweigten Informationen über den anderen macht es möglich, dass wir auch durch Datenklau enteignet werden. Verstehen wir diesen ganz neuen Eigentumsgedanken, dann begreifen wir auch, warum und wie wir als Eigentümer der sozialen Ebene in der Finanzkrise enteignet werden.

Die Enteignung der Eigentümer an der geistigen Welt der Gesellschaft geschieht durch die Zerstörung wechselseitiger Verantwortung. Sie geschieht durch die Zerstörung von Vertrauen. Sie geschieht durch die Vorteilsnahme und Korruption. Der Staat ist das Instrument, die Mitglieder der Wissensgesellschaft vor dieser neuen Form der Enteignung ihrer geistigen Ebene zu schützen. Heute muss das im Weltmaßstab geschehen, weil wir durch geistige Operationen um unsere Anteilsrechte an der einen Welt gebracht werden. Die Vereinigung durch eine Weltinnenpolitik ist der Weg, diese reale Utopie zu verwirklichen. Im Nahbereich muss dies durch Anteilsscheine(17) geschehen, die jeder Arbeitnehmer erwirbt, wenn er in einer Fabrik, einem Büro oder einer Forschungsstätte den geistigen Schatz dieser Gesellschaft vermehrt.

Die Gerechtigkeit ist eine Utopie, weil sie keinen Raum umfasst. Die Gerechtigkeit ist eine geistige Zeitform, weil sie eine gesellschaftliche Kunstwelt im Auge hat, die uns im wahrsten Sinn des Wortes vorschwebt. Sie liegt vor in der geistigen Qualität des Lebens, die wir morgen und übermorgen brauchen, aber heute, hier und jetzt, organisieren müssen. Nicht in der Form von Dingen. Sie entsteht aus unserem Willen, eine Gesellschaft zu bauen, die sich aus gerechten Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern aufbaut.

In der Annäherung an diese Utopie der Gerechtigkeit liegt die Kunst des Lebens, nicht in ihrer Einlösung. Der Freund des Guten ist dann das Bessere, wenn wir das qualitative Leben wollen. »Das geistige Leben als Fest zu feiern« (Epikur), zerstört keine Umwelt und übervorteilt keinen anderen. Und doch ist es der Genuss schlechthin. Die utopische Vorstellung vom gerechten Leben ist in diesem Zusammenhang eine notwendige Fiktion. Sie dient zu Entwürfen einer Welt, in der wir leben wollen. Ohne die positive Utopie der inneren Gerechtigkeit sind wir nicht in der Lage, auch im Äußeren an der »Regierung der sich selbst Regierenden« zu bauen.

 

1

Im alten Griechenland entwickelte sich zwischen den Sophisten, Sokrates und Platon die erste theoretische Debatte um eine gerechte Gesellschaft. Die Politeia Platons fasst diese große Debatte um das Thema Utopie und Gerechtigkeit zusammen.

2

Siehe Der Spiegel Nr. 41/2008: »Die Angst vor der Angst. Die gefährliche Psychologie der Finanzkrise.«

3

Gut zu sehen ist das an den Unsummen, mit denen das Finanzsystem gekittet wird (in den USA mit 700 Mrd. Dollar, in England mit 600 Mrd. Pfund, in Deutschland mit 500 Mrd. Euro) und der vergleichsweise lächerlichen Summe, die für ein Konjunkturprogramm (30 bis 50 Mrd. Euro) diskutiert wird. Ganz zu schweigen von den wochenlangen Bundestagsdebatten über die Erhöhung der Renten, des Kindergeldes und der Ausgaben für Schulen und Bildung in der Höhe von 5–15 Mrd. Euro.

4

Siehe Heribert Prantl: »Spekulation auf Gerechtigkeit«, in: SZ, 18.9.08.

5

U. J. Heuser, in: Die Zeit, 18.9.08.

6

Platon: Politeia 612 b).

7

Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 21.

8

G.W. F. Hegel: Rechtsphilosophie, § 41, Bd. 7, S. 102 ff.

9

Platon: Apologie des Sokrates 30 b).

10

Platon: Politeia 338 c).

11

Platon: Politeia 347 c).

12

John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness. Frankfurt am Main 2006.

13

Der Homo-Mensura-Satz: »Der Mensch (homo) ist das Maß (métron/mensura) aller Dinge, der seienden, das (wie) sie sind, der nichtseienden, das (wie) sie nicht sind.« Protagoras, nach Diels 80, B 1, zit. auch Platon Theätetos 152a ff. Nestle übersetzt abweichend von Diels und Schleiermacher das Maß/mensura der Dinge/chrémata mit Geltung und nicht mit Ding/prágmata. Tatsächlich steht auch im Original bei Platon immer chrémata, was, gr., Geltungen (Qualitäten) bedeutet, ganz im Gegensatz zu prágmata (Sachen, Dinge). Nestle selbst hat diese großartige Entdeckung nicht ausgewertet. Sie hilft uns aber heute den Übergang vom Ding zum Wert und der Bewertung zu verstehen. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940, S. 271.

14

Marcel Mauss: Die Gabe, Frankfurt am Main 1990, S. 80. Die Stämme Polynesiens sprechen »vom Geist der Sache«, ohne dabei zu verstehen, dass sie es sind, die ihn in die Dinge legen. Böhme sagt, dadurch »bilden sie das Imaginäre der Kultur«. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, Hamburg 2006, S. 290.

15

Günter Schmölders: Geldschöpfung und Geldtheorie, Frankfurt am Main 1957, S. 683 ff.

16

Die Gegner des US-Sanierungsprogramms für die Großbanken im US-Senat kamen zum übergroßen Teil aus den Reihen der Republikaner. Ihrem Programm gemäß haben sie zumindest verstanden, dass sich hier eine Gesellschaft um die Freiheit bringt. Für sie aber war völlig verwirrend, dass sie durch ihre Partei und die Parteifreunde in den Investmentbanken zu »sozialistischen Maßnahmen« gezwungen wurden.

17

André Gorz: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich 2004. – Es geht Gorz nicht nur um einen anderen Reichtumsbegriff. Es geht ihm vor allem um den Nachweis, wie aus den neuen geistigen Arbeitsverhältnissen geistige Werte entstehen, die losgelöst von der Dingform eine neue Ebene in der Arbeitswelt konstituieren. Dass sie in der Sphäre des Sozialen, der Kunstwelt der Demokratie schon vorgegeben sind, dieser Gedanke kann sein Buch ergänzen.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2008