Ereignisse & Meinungen

 

Balduin Winter

Russlands Krisen

Tschita, 300.000 Einwohner, Hauptstadt der Region Transbaikalien, an der Transsib in Südost-Sibirien unweit der mongolischen und chinesischen Grenze. »Für viele Russen«, schreibt Sören Urbansky in der NZZ (3.11.), klinge Tschita »wie ein düsteres Mauseloch am Ende des Riesenlands«. Russen kamen im 17. Jahrhundert hierher, wo Burjaten und Evenken siedelten. Verbannungsort im Zarenreich. Steppe, Taiga, die Flüsse fließen bereits zum fernen Pazifik. Mit der Eisenbahn kam etwas Industrie, wichtig jedoch sind die Bodenschätze in der Umgebung und das Holz. Ein bisschen Gartenwirtschaft, Subsistenz. Moskau ist sehr weit, billig hingegen die Fahrt nach China. Eine dünne Oberschicht fährt dicke Autos: »Das Kreditwesen hat in der russischen Provinz in den letzten Jahren einen unglaublichen Aufschwung erlebt Probleme bei der Lohnarbeit: »Viele Menschen hätten drei Jobs, um über die Runden zu kommen«, erzählt eine Botin, deren Mutter als Kindergärtnerin 140 Euro im Monat verdient – der Liter Milch kostet einen Euro, der Laib Brot 50 Cent. Viel los ist beim Güterbahnhof, dort befinden sich die Wohncontainer der chinesischen Bauarbeiter. »Das Baugewerbe ist fest in ihrer Hand – Chinesen arbeiten schneller und billiger ... Auch schlechter, schimpfen viele Russen Es scheint etwas aufwärts zu gehen. Es gibt wenig Unmut, nur Lethargie und ein Casino.

Der Hamburger Völkerrechtler Otto Luchterhandt spricht von der »Entvölkerung des rohstoffreichen Sibiriens, wo nur noch maximal 30 Millionen Russen leben, während jenseits der Grenze bis zu 300 Millionen Chinesen leben Auch ökonomisch haben sich die Gewichte verschoben. »Sieg im Duell der Aufsteiger«, titelt die SZ (28.10.) und fasst zusammen: »Längst begegnen sich China und Russland nicht mehr auf Augenhöhe Luchterhandt legt nach: »Würde sich auch Moskau dem Freihandelsregime der WTO unterwerfen, würden russische Produkte von der chinesischen Konkurrenz vom Markt gefegt werden (Landeszeitung Lüneburg, 11.9.) Nicht einmal der Energie-Trumpf, den Russland gegenüber der EU gerne spielt, zieht wirklich. Denn die Hoffnungen auf den chinesischen Markt sind arg gedämpft: »Der Generalplan zur Entwicklung der russischen Gasindustrie bis zum Jahr 2030, vorgestellt Anfang Oktober von Gazprom, sieht den Export von Gas nach China nicht vor. Russland kapituliert vor den enormen technischen und ökonomischen Problemen, die der Bau einer Pipeline nach China mit sich bringen würde (SZ, 28.10.)

 

Grosny. Etwa 2006 endete der zweite Tschetschenienkrieg: mit rund 200.000 Toten, laut Menschenrechtlern, ein Fünftel der Vorkriegsbevölkerung. Die Silhouette von Bombenruinen ist verschwunden, stattdessen Neubauten, rasanter Wiederaufbau mit Willkürmethoden, so Reinhard Meier in einer Reportage (NZZ, 25.10.). Der pro-russische Präsident Ramsan Kadyrow aus einem Clan mit düsterer Geschichte feiert Geburtstag. Szene vor einem neu erbauten Theater: »Nach einiger Zeit reicht ein Mitarbeiter dem jungen Präsidenten eine Pistole, mit der dieser in die Luft schießt. Kurz darauf übergibt ein anderer Helfer Kadyrow ein dickes Papierbündel, das dieser in die Menge wirft – es sind Hundert-Dollar-Noten. Mit einem zweiten Hundert-Dollar-Bündel wird das Ritual wiederholt

Meier schildert die Reaktionen auf das »grotesk-feudalistische Schauspiel«: Hinter den schönen Fassaden gärt es, ohnmächtige Wut auf die »Fremden«, »die Russen«. Vordergründig funkelnde Fassaden, provinzfürstliche Gesten, die jede noch so plumpe Uncle-Sam-Karikatur mühelos übertreffen. Meier erinnert jedoch daran, dass es hier ein noch unverarbeitetes Kapitel der russischen Politik gibt. Sie hat hier nicht, wie Robert Kagan behauptet, »wie eine Großmacht des 19. Jahrhunderts agiert«, sondern einen etwa neun Jahre langen, modernen asymmetrischen Krieg geführt, der jenen der USA in Afghanistan deutlich übertroffen hat. Offenbar wurde dabei auch der desolate Zustand der eingesetzten militärischen Mittel, was Putin zu einer – mittlerweile gescheiterten – Heeresreform veranlasste. Denn laut Heinrich Schwabecher, Russland-Experte der Konrad-Adenauer-Stiftung, bestätigte die jüngste Kaukasus-Krise nur, dass sich die Armee in einer tiefen Krise befindet. In einer Expertise (Analysen & Argumente, Sept. 2007) stellte er dem Militärapparat in puncto Ausrüstung, Ausbildung und Moral ein niederschmetterndes Zeugnis aus, wobei er von der Prämisse ausgeht, dass die EU ein halbwegs stabiles Russland brauche. Greife Russland jetzt zu seinen Devisenreserven, so ginge nichts ins Militär, selbst Prestigeprojekte wie der Bau der Trägerrakete Sojus für die Internationale Raumstation seien unterfinanziert. Und die »Triumphmeldungen« von der raschen russischen Mobilisierung werden durch Medwedews Ankündigung einer neuerlichen umfassenden Reform kurz nach dem Krieg konterkariert, die er im Oktober detailliert vorstellte: Mehr Geld, aber eine deutliche Schrumpfung auch der Führungsebenen, was großen Unmut bei der Generalität auslöste. Obwohl dort ungeheure Summen verschwendet oder veruntreut werden, heißt es nun, das Militär müsse für die Krise zahlen.

 

Moskau, 13. November. Ein Börsianer schlägt die Hände vors Gesicht. Das sind in diesen Wochen schon vertraute Szenen. Wieder einmal ist der Handel an der Börse eingestellt worden. RTS und Micex, die beiden wichtigsten Börsenindizes Russlands, sind um mehr als zehn Prozent eingebrochen. Die Gazprom-Aktie ist vom Höchststand Ende Mai von 40,30 Dollar auf 12,10 abgerutscht, Lukoil von 72,40 auf 24,10, Mechel Steel von 37,67 auf 4,80, Norilsk Nickel von 19,80 auf 6,30 Dollar.

Der RTS stand schon auf fast 2500 Punkten, als er, stark gekoppelt an das Floaten der Rohstoffpreise, ab Juni in eine Abwärtsphase eintrat, erst sacht, ein erster Einbruch im Juli, dann, dunkle Wolken über Politik und Markt, fällt er auf 2000. August: Der »kleine« Kaukasus-Krieg erweist sich als beschleunigender Faktor. Erst kommt Unruhe in die an Dollar und Euro gebundene Währung, weil russische Investoren während der Kaukasus-Krise verstärkt aus der Landeswährung gehen. September: Die Aktion der Zentralbank zur Stützung des Rubels weckt sofort Misstrauen, Anleger gehen aus russischen Aktien und Staatsanleihen. Der RTS-Kurvenverlauf erzählt, allen Beschwichtigungen der Staatsführung zum Trotz, ziemlich genau von der Befindlichkeit der russischen Wirtschaft. Putin spricht zwar nur von den »Folgen der Weltfinanzkrise«, der Gouverneur von Jekaterinburg empfiehlt gar, den Begriff der Krise nicht zu gebrauchen. Die RTS-Kurve kümmert sich nicht darum: Am 18.9. fällt sie auf 1058, erholt sich kurze Zeit, um am 24.10. auf die historische Marke von 549 abzustürzen; derzeit liegt sie knapp über 600 Punkten. Fast synchron folgt ihrem Verlauf der Index für Öl und Gas und der für Metall und Minen (http://www.rts.ru/?tid=541). Von den zwanzig wichtigsten Börsenindizes der Welt wurde Moskau zum »Crashmarkt« schlechthin.

Peter Rutland führt in den Russland Analysen Nr. 171/08 als Ursachen der russischen Krise an: »Hauptursache war aber der Preiseinbruch bei den Rohstoffen – dem Rückgrat des Wachstums der exportorientierten russischen Wirtschaft – der der verlangsamten Weltwirtschaft geschuldet war.« Und Sascha Tamm vom Friedrich-Naumann-Institut sieht in der enormen Abhängigkeit vom Rohstoffexport Russlands Achillesferse. »Die russische Wirtschaft ist also von einem Best-Case- in kurzer Zeit in ein Worst-Case-Szenario gestürzt. … Doch eine Wiederholung der Vorgänge von 1998 ist sehr unwahrscheinlich; die kurzfristigen Folgen können mithilfe der finanziellen Reserven abgemildert werden Weit unberechenbarer sind die politischen Folgen: »Die Frage ist, wie die politische Klasse tatsächlich reagiert: mit Schuldzuweisungen an die internationalen Märkte, nationalistischer Rhetorik, militärischen Drohgebärden und weiteren Verstaatlichungen oder aber mit rechtsstaatlichen Reformen, die langfristige Investitionen auch außerhalb des Rohstoffsektors für In- und Ausländer interessant machen (Welt, 4.11.)

 

Russland ist heute ein schwankender Riese, der niemandem auf der Welt wirklich traut. Nun sieht es den Kapitalismus, den es zwar inzwischen selbst hat, aber dessen Dynamik ihm fremd ist, nicht mehr nur im Westen, sondern auch im Osten. Und es versucht, den Kapitalismus in einem neuen Staat zu entwickeln, den es in seiner Geschichte noch nie gehabt hat: in einem russischen Nationalstaat. Russland, weist Ivan Krastev in seinem Essay »Die Krise der Europäischen Ordnung« (Transit 35/2008) darauf hin, hatte immer eine imperiale Struktur. Die Finanzkrise wirft nicht nur ein grelles Licht auf die noch wenig entwickelten ökonomischen Strukturen. Sie spart auch die politische Ebene nicht aus.

»An der russischen Börse RTS wurden seit Mai fast 60 Prozent der Unternehmenswerte oder 700 Milliarden Dollar vernichtet«, berichtet bereits am 6.10. die Financial Times Deutschland. »Auch viele Milliardäre mussten kräftig bluten«, schreibt die WoZ (16.10.): »Die 25 reichsten Russen haben seit Mai 260 Milliarden Franken (62 Prozent) ihres Vermögens verloren Längst ist die Realwirtschaft erfasst. Die NZZ berichtet von Kurzarbeit und Produktionseinstellungen bei Gaz (Transportfahrzeuge), Kamaz (LKW) und Avtogaz (Lada). Vladimir Gimpelson vom Moskauer Zentrum für Arbeitswissenschaften spricht von Reallohneinbußen bis zu 30 Prozent, der Unternehmerverband fordert das Recht, Mitarbeiter für zwei Monate in den unbezahlten Zwangsurlaub zu schicken. Massenentlassungen gibt es schon im Baugewerbe, wo es vor allem Migranten trifft.

Ins Blickfeld rückt nun der »Stabilisationsfonds«, der Überschuss aus, wie Finanzminister Kudrin sagt, »sieben fetten Jahren«. Er betrug im Juli 546 Milliarden Dollar (Russland-Analysen 171/08), denen allerdings rund 450 Milliarden Schulden der Banken und Unternehmer im Westen gegenüberstehen. »Dass die Regierung das Geld horte wie Dagobert Duck, statt es zu investieren, nennt der Ökonom Michail Deljagin ein Verbrechen. Hätten wir, sagt Deljagin, wie die Chinesen in Infrastruktur und Produktionsbetriebe investiert, dann besäßen wir jetzt mehr realwirtschaftliche Substanz (FAZ, 10.11.) Das fehlt jetzt eben auch in der Ausrichtung auf Großprojekte auf den Fernen Osten. Dazu kommt, dass es mit Russlands Energiepower womöglich doch nicht so weit her ist. »Russland ist nicht unverzichtbar«, titelt Hans Rühle in der Welt (12.10.): »Auf der Angebotsseite hat die Aussage des stellvertretenden Ministers für nationale Ressourcen, Alexej Warlamow, die derzeit bekannten russischen Energiereserven seien in zehn bis 15 Jahren erschöpft, die Lage völlig verändert. Warlamow im Detail: Die derzeit bekannten Uranvorräte reichten bis 2017, die Ölreserven bis 2022, die Erdgas- und Kohlereserven bis 2025

Vielleicht sollte vor diesem Hintergrund Medwedews Rede zur Lage der Nation (RIA Novosti, 6.11.) genauer betrachtet werden. Aus ihr wurden in unseren Medien nur bestimmte Teile herausgepickt: die angedrohte Aufstellung von Raketen im Oblast, die relativ geringe Beachtung der Finanzkrise, die Verlängerung der Amtszeiten für den Präsidenten und die Duma, über die spekuliert werden kann, dass Putin zum Dauerhäuptling gemacht werden soll, und Medwedews Steckenpferd einer neuen internationalen Sicherheitsarchitektur. Ein kaum beachteter, aber nicht unbeträchtlicher Teil der Rede ist der Bildung und Erziehung gewidmet. »Heute, trotz einiger positiver Entwicklungen, lässt die Lage in der Erziehung viel zu wünschen übrig. Lassen Sie uns offen sein: Wir waren einmal im Vormarsch und sind jetzt zurückgeblieben. Unsere Wettbewerbsfähigkeit ist ernsthaft bedroht«, leitet er seinen »Rettungsplan«, eine Initiative »Unsere Neue Schule« ein. Viel ist die Rede vom Individuum, von Selbstentfaltung, Kreativität, demokratischen Werten und europäischen Maßstäben, von »headhunting«, der Talentsuche nach jungen kreativen Köpfen, von Verbesserung der Ernährung und Gesundheit der Jugendlichen, der Lehrerausbildung, der Schulen – mehr als nur eine rhetorische Übung vor ausgewähltem Publikum? Die Finanzkrise als »neue Schule« der russischen Führung für mögliche politische Kursänderungen? Da müssten erst Taten folgen, bisher hat die russische Führung, zuletzt im Kaukasus, nur Anlass zu Misstrauen gegeben.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2008